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Landtag

Plenarprotokoll

Nordrhein-Westfalen

16/20

16. Wahlperiode

23.01.2013

20. Sitzung

Düsseldorf, Mittwoch, 23. Januar 2013

Mitteilungen der Präsidentin. 1421

1   Rückgang strafrechtlicher Verurteilungen und Anstieg der Verfahrenseinstellungen trotz besorgniserregender Kriminalitätsentwicklung in Nordrhein-Westfalen

Aktuelle Stunde
auf Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 16/1952. 1421

Theo Kruse (CDU) 1421

Dirk Wedel (FDP) 1422

Hartmut Ganzke (SPD) 1423

Dagmar Hanses (GRÜNE) 1425

Dietmar Schulz (PIRATEN) 1426

Minister Thomas Kutschaty. 1427

Jens Kamieth (CDU) 1429

Sven Wolf (SPD) 1431

Dr. Robert Orth (FDP) 1432

Dagmar Hanses (GRÜNE) 1433

Dietmar Schulz (PIRATEN) 1434

Thomas Stotko (SPD) 1434

2   Gesetz zur Förderung des Klimaschutzes in Nordrhein-Westfalen

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 16/127

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses
für Klimaschutz, Umwelt, Naturschutz,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz
Drucksache 16/1914

Entschließungsantrag
der Fraktion der SPD und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 16/1958 – Neudruck

zweite Lesung

In Verbindung mit:

Landesregierung muss eigenes Mittelstandsgesetz ernst nehmen – Beratung über Klimaschutzgesetz bis zur Befassung durch die „Clearingstelle Mittelstand“ aussetzen!

Antrag
der Fraktion der CDU
Drucksache 16/1909. 1436

Norbert Meesters (SPD) 1436

Rainer Deppe (CDU) 1437

Wibke Brems (GRÜNE) 1439

Henning Höne (FDP) 1440

Hanns-Jörg Rohwedder (PIRATEN) 1441

Minister Johannes Remmel 1442

Hendrik Wüst (CDU) 1444

Thomas Eiskirch (SPD) 1445

Dietmar Brockes (FDP) 1447

Kai Schmalenbach (PIRATEN) 1448

Minister Garrelt Duin. 1448

Ergebnis. 1449

3   Inklusion: Landesregierung muss (Rechts?)unsicherheit beenden und endlich Gesetzentwurf vorlegen!

Antrag
der Fraktion der CDU
Drucksache 16/1907

Entschließungsantrag
der Fraktion der FDP
Drucksache 16/1956. 1450

Klaus Kaiser (CDU) 1450

Eva Voigt-Küppers (SPD) 1452

Sigrid Beer (GRÜNE) 1454

Yvonne Gebauer (FDP) 1456

Monika Pieper (PIRATEN) 1457

Ministerin Sylvia Löhrmann. 1459

Petra Vogt (CDU) 1461

Renate Hendricks (SPD) 1462

Dr. Joachim Stamp (FDP) 1463

Monika Pieper (PIRATEN) 1463

Ergebnis. 1464

4   Berücksichtigung einer Stadtbahntrasse bei den Planungen zum Neubau der Rheinbrücke Leverkusen

Antrag
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/1900. 1464

Oliver Bayer (PIRATEN) 1464

Achim Tüttenberg (SPD) 1465

Henning Rehbaum (CDU) 1466

Rolf Beu (GRÜNE) 1467

Christof Rasche (FDP) 1468

Minister Michael Groschek. 1468

Ergebnis. 1469

5   Die Lebensqualität von schwerstkranken Kindern und ihren Familien verbessern – pädiatrische Palliativ- und Hospizversorgung in Nordrhein-West­falen unterstützen und bedarfsgerecht weiterentwickeln!

Antrag
der Fraktion der FDP
Drucksache 16/1620. 1469

Susanne Schneider (FDP) 1469

Dr. Roland Adelmann (SPD) 1470

Ursula Doppmeier (CDU) 1471

Arif Ünal (GRÜNE) 1471

Lukas Lamla (PIRATEN) 1472

Ministerin Barbara Steffens. 1472

Ergebnis. 1473

6   Halbjahresbericht des Petitionsausschusses. 1473

Rita Klöpper (CDU) 1473

7   Jedes Krankenhaus muss Vergewaltigungsopfer medizinisch versorgen. Religiöse Grundsätze dürfen dabei keine Rolle mehr spielen!

Eilantrag
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/1953

Entschließungsantrag
der Fraktion der SPD und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 16/1966 – Neudruck

Entschließungsantrag
der Fraktion der CDU
Drucksache 16/1967. 1478

Lukas Lamla (PIRATEN) 1478

Daniela Jansen (SPD) 1479

Regina van Dinther (CDU) 1480

Josefine Paul (GRÜNE) 1481

Susanne Schneider (FDP) 1482

Ministerin Barbara Steffens. 1483

Ergebnis. 1484

8   Fragestunde

Drucksache 16/1640. 1484

Mündliche Anfrage 9

der Abgeordneten
Monika Pieper (PIRATEN)

Was veranlasste den Rückzug des Referentenentwurfs zum Gesetz zur Umsetzung der VN-Behindertenkonvention (9. Schulrechtsänderungsgesetz)?. 1484

Ministerin Sylvia Löhrmann. 1485

Mündliche Anfrage 10

der Abgeordneten
Yvonne Gebauer (FDP)

Wie will die Schulministerin die vielfältigen ungeklärten Aspekte einer qualitativen Umsetzung der Inklusion im weiteren Vorgehen ausgestalten?. 1488

Ministerin Sylvia Löhrmann. 1489

9   Patenschaft mit Leben füllen – „Freundeskreis Fregatte Nordrhein-Westfalen“

Antrag
der Fraktion der CDU
Drucksache 16/1906. 1497


Gregor Golland (CDU) 1497

Thomas Marquardt (SPD) 1498

Stefan Engstfeld (GRÜNE) 1499

Marc Lürbke (FDP) 1500

Michele Marsching (PIRATEN) 1501

Minister Michael Groschek. 1501

Ergebnis. 1503

10 Videoüberwachung an Bahnhöfen – Alles überwacht und dann?

Antrag
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/1902. 1503

Frank Herrmann (PIRATEN) 1503

Jens Geyer (SPD) 1504

Winfried Schittges (CDU) 1505

Verena Schäffer (GRÜNE) 1506

Dr. Robert Orth (FDP) 1507

Minister Ralf Jäger 1508

Frank Herrmann (PIRATEN) 1509

Ergebnis. 1509

11 Kommunalfinanzberichte: Die Landesregierung muss endlich ihre respektlose Informationszurückhaltung gegenüber dem Parlament beenden

Antrag
der Fraktion der FDP
Drucksache 16/1271

Beschlussempfehlung
des Ausschusses
für Kommunalpolitik
Drucksache 16/1526. 1509

Michael Hübner (SPD) 1509

Ralf Nettelstroth (CDU) 1510

Mario Krüger (GRÜNE) 1511

Kai Abruszat (FDP) 1511

Robert Stein (PIRATEN) 1512

Minister Ralf Jäger 1512

Ergebnis. 1514

12 Gesetz über die Ablieferung von Pflichtexemplaren in Nordrhein-West­falen (Pflichtexemplargesetz Nord­rhein-Westfalen)

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 16/179

zweite Lesung

In Verbindung mit:

Gesetz zur Weitergeltung des Gesetzes über die Ablieferung von Pflichtexemplaren und ausführender Vorschriften (Pflichtexemplarweitergeltungsgesetz)

Gesetzentwurf
der Fraktion der CDU
Drucksache 16/1274

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses
für Kultur und Medien
Drucksache 16/1915

zweite Lesung. 1514

Andreas Bialas (SPD) 1514

Prof. Dr. Thomas Sternberg (CDU) 1515

Oliver Keymis (GRÜNE) 1516

Ingola Schmitz (FDP) 1516

Daniel Schwerd (PIRATEN) 1517

Ministerin Ute Schäfer 1518

Ergebnis. 1518

13 Gesetz zur Änderung des Altlastensanierungs- und Altlastenaufbereitungsverbandsgesetzes – AAVG – und zur Änderung wasserverbandlicher Vorschriften

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 16/1821

erste Lesung. 1518

Minister Johannes Remmel 1518

Josef Wirtz (CDU) 1519

Frank Sundermann (SPD) 1520

Hans Christian Markert (GRÜNE) 1521

Henning Höne (FDP) 1522

Hanns-Jörg Rohwedder (PIRATEN) 1522

Minister Johannes Remmel 1523

Henning Höne (FDP) 1524

Ergebnis. 1525

14 Zweites Gesetz zur Änderung des Landesausführungsgesetzes zum Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe – für das Land Nordrhein-Westfalen

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 16/1732

erste Lesung. 1525

Minister Guntram Schneider
zu Protokoll (Siehe Anlage 1)

Ergebnis. 1525

15 Staatsvertrag und Dienstleistungsvereinbarung zum Zwecke der Errichtung und zum Betrieb eines bundesweiten Vollstreckungsportals der Länder

Antrag
der Landesregierung
auf Zustimmung zu einem Staatsvertrag
gemäß Art. 66 Satz 2
der Landesverfassung
Drucksache 16/1733. 1525

Minister Thomas Kutschaty
zu Protokoll (Siehe Anlage 2)

Ergebnis. 1525

16 Staatsvertrag zwischen dem Land Nordrhein-Westfalen und dem Freistaat Bayern über die Zugehörigkeit der Mitglieder der Patentanwaltskammer, die ihren Kanzleisitz in Nordrhein-Westfalen eingerichtet haben, zur Bayerischen Rechtsanwalts- und Steuerberaterversorgung

Antrag
der Landesregierung
auf Zustimmung zu einem Staatsvertrag
gemäß Art. 66 Satz 2
der Landesverfassung
Drucksache 16/1892. 1525

Ergebnis. 1525

17 Wahl der Mitglieder des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses I und Wahl des Vorsitzenden

Wahlvorschlag
der Fraktion der SPD,
der Fraktion der CDU,
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
der Fraktion der FDP und
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/1916. 1526

Ergebnis. 1526

18 Wahl von Mitgliedern für die Ausschüsse zur Wahl der ehrenamtlichen Richter bei dem Oberverwaltungsgericht und den Verwaltungsgerichten des Landes Nordrhein-Westfalen

Wahlvorschlag
der Fraktion der SPD
Drucksache 16/1891. 1526

Ergebnis. 1526

19 In den Ausschüssen erledigte Anträge

Übersicht 4
gem. § 79 Abs. 2 GeschO

Drucksache 16/1917. 1526

Ergebnis. 1526

20 Beschlüsse zu Petitionen

Übersicht 16/6. 1526

Ergebnis. 1526

Anlage 1. 1527

Zu TOP 14 – Zweites Gesetz zur Änderung des Landesausführungsgesetzes zum Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - für das Land Nordrhein-Westfalen – zu Protokoll gegebene Rede

Minister Guntram Schneider 1527

Anlage 2. 1529

Zu TOP 15 – Staatsvertrag und Dienstleistungsvereinbarung zum Zwecke der Errichtung und zum Betrieb eines bundesweiten Vollstreckungsportals der Länder – zu Protokoll gegebene Rede

Minister Thomas Kutschaty. 1529


Entschuldigt waren:

Ministerin Dr. Angelica Schwall-Düren

Ministerin Barbara Steffens      
(10:00 bis 14:25 Uhr und ab 15:50 Uhr)

Andreas Kossiski (SPD)

Peter Preuß (CDU)       
(11:30 bis 17:00 Uhr)

Rolf Seel (CDU)

Norwich Rüße (GRÜNE)


Beginn: 10:05 Uhr

Präsidentin Carina Gödecke: Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich heiße Sie alle ganz herzlich willkommen zu unserer heutigen, der 20. Sitzung des Landtags von Nordrhein-Westfalen, die zugleich die erste Sitzung im Jahr 2013 darstellt.

Mein ganz besonderer Gruß gilt wie immer unseren Gästen auf der Zuschauertribüne sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Medien.

Für die heutige Sitzung haben sich drei Abgeordnete entschuldigt; ihre Namen werden wir dem Protokoll hinzufügen.

Wir haben wieder die freudige Gelegenheit, einer Kollegin und einem Kollegen zum heutigen Geburtstag zu gratulieren. Beide sind von der SPD-Fraktion. Es feiern ihren Geburtstag Herr Kollege Frank Börner und die Kollegin Renate Hendricks. Im Namen des gesamten Parlamentes wünsche ich Ihnen alles Liebe und Gute zum Geburtstag und freue mich, dass Sie Ihren Geburtstag heute im Plenum des Landtags Nordrhein-Westfalen verbringen.

(Allgemeiner Beifall)

Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich Ihnen noch folgenden Hinweis geben: Der Chef der Staatskanzlei hat uns mit Schreiben vom 17. Januar 2013 den Ersten Nachtrag zur Haushaltssatzung des Landesverbandes Lippe für das Haushaltsjahr 2012 sowie zwei Durchschriften des Genehmigungserlasses des Innenministers zugesandt. Gemäß § 9 des Gesetzes über den Landesverband Lippe vom 5. November 1948 bitte ich um Kenntnisnahme. – Diese stelle ich hiermit fest. Die Unterlagen, liebe Kolleginnen und Kollegen, können wie immer im Archiv eingesehen werden.

Damit können wir in die Beratung der heutigen Tagesordnung eintreten.

Ich rufe auf:

1   Rückgang strafrechtlicher Verurteilungen und Anstieg der Verfahrenseinstellungen trotz besorgniserregender Kriminalitätsentwicklung in Nordrhein-Westfalen

Aktuelle Stunde
auf Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 16/1952

Die Fraktion der CDU und die Fraktion der FDP haben mit Schreiben vom 21. Januar 2013 gemäß § 90 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu der genannten aktuellen Frage der Landespolitik eine Aussprache beantragt.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner vonseiten der antragstellenden Fraktionen Herrn Kollegen Kruse das Wort.

Theo Kruse (CDU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die innere Sicherheit ist und bleibt eine Kernaufgabe des Staates und hat aus vielerlei Gründen einen deutlichen Vorrang vor zahlreichen anderen Politikfeldern in unserem Land. Die Erfüllung dieser Aufgabe liegt in der Zuständigkeit der Länder.

Die rot-grüne Landesregierung und die sie tragenden Fraktionen werden auch in diesem Bereich ihren Gestaltungsmöglichkeiten und ihrer Verantwortung nicht gerecht. Denn wir registrieren in Nordrhein-Westfalen eine alarmierende Kriminalitätsentwicklung und einen besorgniserregenden Kriminalitätszuwachs, der bei uns fast fünfmal so hoch liegt wie im Bundesdurchschnitt – siehe die Ausführungen im vorliegenden Antrag von FDP- und CDU-Fraktion zur Beantragung dieser Aktuellen Stunde.

Bisher habe ich Sie, Herr Minister Kutschaty, als einen an der Sache und an der nüchternen Bewertung von Daten und Fakten orientierten Justizminister eingestuft. Gerade im Justiz- und auch im Kriminalitätsbereich muss Politik die Wirklichkeit erkennen und die entsprechenden, ja die notwendigen und die sachgerechten Konsequenzen ziehen.

Durch Ihre Pressekonferenz in der vergangenen Woche – sprich: vom 18. Januar 2013 – offenbaren Sie nicht nur für die CDU-Fraktion eine unerträgliche Grundhaltung. Auch aus meiner Sicht viel schlimmer und viel gravierender ist noch: Sie täuschen die Öffentlichkeit. Denn Ihre Bewertung, Herr Minister Kutschaty, und Ihre Grundhaltung sind mehr als geeignet, die subjektiv gefühlte wie die zunehmend objektiv erlebte Unsicherheit der Bürgerinnen und Bürger in unverantwortlicher Weise zu stärken, und kommt aus Sicht der CDU-Fraktion einer fatalen Fehleinordnung der inneren Sicherheit gleich. Wie können Sie, wie kann die Landesregierung, wie kann der verantwortliche Justizminister den Rückgang der strafrechtlichen Verurteilungen als Erfolg verbuchen, während die Kriminalität in Nordrhein-Westfalen gleichzeitig drastisch ansteigt?

(Minister Thomas Kutschaty: Stimmt doch gar nicht!)

Dies kennzeichnet ein aus meiner Sicht merkwürdiges Verständnis von Recht und Ordnung.

Richtig ist, dass in Nordrhein-Westfalen trotz deutlicher Kriminalitäts­zuwächse immer weniger Täter überführt und anschließend strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Welche Ursachen gibt es hierfür, Herr Minister Kutschaty? Wie wollen Sie diese Entwicklung anhalten, verbessern und nach Möglichkeit umkehren? Welche Konsequenzen ziehen Sie ganz konkret als Justizminister? Wie sind die Ergebnisse Ihrer Absprachen und Ihrer Beratungen? Ich hoffe, dass Sie diese Absprachen treffen. Wie sind Ihre Absprachen mit dem für den Kriminalitätsbereich zuständigen Innenminister?

Auch Sie, Herr Minister Kutschaty, müssen sich ganz ohne Frage aufgrund knapper werdender Haushaltsmittel grundsätzlich Gedanken darüber machen, wie man den gesetzlichen Auftrag erfüllen kann.

Populär klingende Presseerklärungen und bloßer Aktionismus sind aus Sicht der CDU-Fraktion abzulehnen und gaukeln den Bürgerinnen und Bürgern eine falsche Sicherheit vor. So bindet zum Beispiel der Innenminister in regelmäßigen Abständen Tausende Polizeibeamte durch Großrazzien vor laufender Kamera, fragwürdige Blitzmarathons, die Verhängung von Vereinsverboten und weitere Maßnahmen. Gelegentlich muss man den Eindruck gewinnen, dass dies nicht nur dem Ansehen des Herrn Ministers Jäger dienen soll, sondern dass dies auch ein gehöriges Stück Selbstdarstellung sein soll.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Die fatale Folge einer solchen Vorgehensweise ist allerdings, dass die Bekämpfung der Alltagskriminalität zunehmend zum Erliegen kommt. Wenn acht von zehn Einbrechern in Nordrhein-Westfalen ungeschoren davonkommen, müssten eigentlich sowohl beim Innenminister als auch bei Ihnen, also beim Justizminister, die Alarmglocken läuten.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Stattdessen rät der Innenminister den Bürgerinnen und Bürgern, ihre Wohnung besser zu sichern und im Notfall die „110“ zu wählen. Das ist eine unverantwortliche Vorgehensweise, und das ist alles andere als ein klares innenpolitisches Konzept.

Wir brauchen angesichts der besorgniserregenden Kriminalitätsentwicklung endlich eine aufgabengerechte Personalausstattung.

(Zuruf von Hans-Willi Körfges [SPD])

Wir fordern Sie auf, ein Gesamtkonzept, eine Gesamtstrategie zur nachhaltigen Kriminalitätsbekämpfung vorzulegen.

Die rot-grüne Landesregierung und die sie tragenden Fraktionen haben eine solide und klare Mehrheit. Dafür können Sie dankbar sein, und auf diese Mehrheit können Sie ganz sicherlich auch ein wenig stolz sein. Ich habe allerdings den Eindruck, dass Sie mit dieser eigenen Verantwortung zunehmend überfordert sind.

Wir fordern Sie auf, in diesem entscheidenden Politikfeld endlich ein klares Konzept und eine verlässliche Strategie vorzulegen. – Ich bedanke mich sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Kruse. – Für die FDP-Fraktion hat Herr Kollege Wedel das Wort.

Dirk Wedel (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 4.141 Straftaten wurden im Jahr 2011 im Schnitt jeden Tag in Nordrhein-Westfalen begangen. Insgesamt waren es nach der Polizeilichen Kriminalstatistik NRW mehr als 1,5 Millionen Straftaten im Jahr 2011 und somit 68.668 Straftaten mehr als im Vorjahr.

Wie Justizminister Kutschaty bei der Vorstellung der Strafverfolgungsstatistik für das Jahr 2011 am 18. Januar dieses Jahres berichtete, ist die Zahl der Verurteilungen wegen Verbrechen oder Vergehen in Nordrhein-Westfalen dagegen inzwischen auf den zweitniedrigsten Stand seit 2003 gesunken. Danach steht fest: Straftäter werden seltener verurteilt. Aufgrund der richterlichen Unabhängigkeit – das betone ich als außer Dienst befindlicher Richter ausdrücklich – ist das von uns als Legislative, soweit es die Tätigkeit der Gerichte betrifft, lediglich zur Kenntnis zu nehmen.

(Zurufe von der SPD: Aha!)

Dies gilt so allerdings nicht für die der gerichtlichen Tätigkeit vorausgehende Strafverfolgung. Bei allen methodischen Unterschieden von Polizeilicher Kriminalstatistik und Strafverfolgungsstatistik gilt doch, wie die PKS selbst auf Seite 6 anmerkt – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin –:

„Schließlich ist die Strafverfolgungsstatistik von dem Aufklärungsergebnis abhängig, da unaufgeklärte Straftaten unberücksichtigt bleiben.“

Mit anderen Worten: Was nicht durch die Polizei aufgeklärt wird, kann auch nicht durch die Staatsanwaltschaften angeklagt werden.

Die Aufklärungsquote in Nordrhein-Westfalen ist laut PKS 2011 aber erneut gesunken. Bei einigen Straftatengruppen bzw. Delikten ist die Aufklärungsquote so erschreckend niedrig, dass Experten – selbst bei der Polizei – Ermittlungsdruck und Entdeckungsrisiko als sehr gering bezeichnen. Mit anderen Worten: In NRW gibt es sehr risikoarme kriminelle Betätigungsfelder. Ich nehme nur mal einige Beispiele aus dem Massendelikt Diebstahl.

–   Taschendiebstahl: 52.700 Fälle, Anstieg in 2011 um 29,1 %, Aufklärungsquote nur 5,1 %.

–   Diebstahl von Fahrrädern: knapp 90.000 Fälle, ein Anstieg von 6,5 % in 2011, Aufklärungsquote nur 7,8 %; das heißt, in 83.000 Fällen bleiben die Täter für immer verschwunden.

–   Wohnungseinbruchsdiebstähle: 50.368 Fälle, ein Anstieg von 12,5 %, Aufklärungsquote nur 13,6 %; das heißt, nur 6.856 Fälle wurden aufgeklärt, 43.512 Fälle blieben unaufgeklärt.

Und noch etwas kann man feststellen: Der Anteil der Anklagen und Strafbefehle hat sich von 1994 bis 2011 nicht unerheblich von 31 % auf etwas über 23 % verringert. Die Anzahl ermessensbedingter Verfahrenseinstellungen ist 2011 erneut höher als die der Anklagen. Das ist ein bedenklicher, jedenfalls kritisch zu analysierender Trend. Heute werden – so führt die Strafverfolgungsstatistik aus – rund 28 % der Ermittlungsverfahren nach Ermessensvorschriften – mit und ohne Auflage – eingestellt. Der Justizminister mutmaßt selbst, dass – ich zitiere – „bei den Staatsanwaltschaften eine Verlagerung hin zu den informellen Verfahrenserledigungen festzustellen“ ist. In der Vielzahl der Fälle ist dabei keine Zustimmung des Gerichts zur Verfahrenseinstellung notwendig, etwa in den Fällen des § 153 Abs. 1 Satz 2 StPO für die Beurteilung der geringen Schuld des Täters und die Ablehnung des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung.

Um eines jedoch klar zu sagen: Kriminalpolizeibeamte, Staats- und Amtsanwälte und Strafrichter können trotz allem persönlichen Engagement immer nur so erfolgreich sein, wie es organisatorische Rahmenbedingungen, Abstimmungen und Zusammenarbeit sowie überzeugende Strafverfolgungsstrategien zulassen.

Meine Damen und Herren, hier hilft keine Strafverfolgungsstatistik, die das Ergebnis nur abbildet. So muss uns als Politik die Analyse der Zahlen und Berichte aus dem Bereich der Kriminalpolizei beschäftigen, bei Einbruchskriminalität werde zunehmend nach dem Motto „Aktenzeichen, abheften, fertig“ verfahren. Das macht mich anlässlich der dargestellten erschreckend niedrigen Aufklärungsquoten besorgt.

Aber zugleich muss man den Blick auf die Justiz richten und sicherstellen, dass Einstellungen nach dem Opportunitätsprinzip als Ausnahme vom grundsätzlichen Verfolgungszwang nicht der Notausgang für völlig überlastete Staatsanwaltschaften werden dürfen.

In diesem Zusammenhang möchte ich auf den nicht kompensierten Personalausfall zu sprechen kommen. Allein die ordentliche Gerichtsbarkeit und die Staatsanwaltschaften in Nordrhein-Westfalen verzeichnen derzeit 1.265 planmäßige Beamte sowie 603 Arbeitnehmer, die sich in Elternzeit befinden, beurlaubt sind oder an den Bund etc. abgeordnet sind, davon fast 460 nach R1 bis R3 Besoldete. Das Justizministerium sieht nach seinen Ausführungen im Rechtsausschuss keine Notwendigkeit für einen angemessenen personellen Ausgleich. Und das Problem wird ja von Jahr zu Jahr zunehmen, etwa aufgrund spürbar sinkender Referendarzahlen, die bislang zu Entlastungen durch Aktenbearbeitung und Sitzungsvertretung geführt haben.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich kurz die Entwicklung der Jugendkriminalität ansprechen. Wenn es tatsächlich einen Trend beim Rückgang der Verurteilungen und Straftaten von Jugendlichen im Jahr 2011 gibt, dann ist das allein der Erfolg von Schwarz-Gelb in den Jahren 2005 bis 2010.

(Beifall von der FDP – Widerspruch von der SPD)

Fakt ist: Unter Rot-Grün ist seit 2010 kein einziges weiteres Haus des Jugendrechts in NRW entstanden. Warum planen Sie eigentlich ein solches in Paderborn und nicht in Düsseldorf, nach den Fallzahlen einem der Kriminalitätsschwerpunkte in Nordrhein-Westfalen? Für die landesweite Ausweitung des erfolgreichen Projekts „Staatsanwalt für den Ort“ brauchte Rot-Grün ganze zweieinhalb Jahre.

Die beiden Projekte „Das Haus des Jugendrechts in Köln“ und „Staatsanwalt für den Ort“, die von Schwarz-Gelb eingerichtet wurden, sind erfolgreiche Beispiele für eine bessere und engere Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft, Polizei und Jugendgerichtshilfe und für schnellere Verfahren und zeitnähere Sanktionen.

Meine Damen und Herren, festzustellen ist ferner ein bedenklicher Trend: Der Anteil der Jugendlichen, die wegen Gewalttaten mit sexuellem Hintergrund verurteilt werden, an den Gesamtverurteilungen steigt spürbar an, nämlich von 2001 bis 2011 um rund 8 %.

Von Ihnen, Herr Justizminister, erwartet die FDP mehr Einsatz im Stillen für die vielen Projekte im Land, statt sich mit populistischen bundespolitischen Themen im Medienlicht zu sonnen. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Wedel. – Für die SPD-Fraktion spricht Herr Kollege Ganzke.

Hartmut Ganzke (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der jüngsten Sitzung des Rechtsausschusses haben wir die Frage diskutiert, ob auch wir Parlamentarier mit Überschriften für anzusetzende Tagesordnungspunkte nicht dazu beitragen, dass die Öffentlichkeit manches Mal eher missverständlich informiert wird.

Der Diskussion im Rechtsausschuss lag eine Anmeldung für einen Tagesordnungspunkt der CDU-Fraktion zugrunde mit folgender Überschrift: „Vielfach vorbestrafter Intensivtäter erhält erneut Bewährungsstrafe“. In der fachlichen Diskussion im Ausschuss stellte sich sodann heraus, dass es sich bei diesem Intensivtäter um einen Jugendlichen mit zwei kleineren Vorstrafen handelte.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, warum nehme ich Bezug auf diese im Rechtsausschuss geführte Diskussion? Auch heute diskutieren wir im Rahmen einer Aktuellen Stunde über einen Antrag von CDU und FDP mit der von diesen Fraktionen gewählten Überschrift: „Rückgang strafrechtlicher Verurteilungen und Anstieg Verfahrenseinstellungen trotz besorgniserregender Kriminalitätsentwicklung in Nordrhein-Westfalen“. Der aufmerksame Zuhörer wird sich fragen, ob sich denn nun alle Bürgerinnen und Bürger NRWs sorgen müssen.

Aber genau hier liegt doch das Problem bzw. stellt sich die Frage nach unserer Verantwortung, der Verantwortung von Politik selbst. Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, wir sind dazu da, ob mit Überschriften oder auch pointierten Wortbeiträgen, Menschen anzusprechen. Das ist unsere Aufgabe als Parlamentarier. Das wird von uns erwartet. Was jedoch – jedenfalls nach Ansicht der SPD-Fraktion – nicht von uns erwartet wird, ist, durch reißerische Überschriften und gewollte Skandalisierungen solche Sorgen überhaupt erst entstehen zu lassen.

(Beifall von der SPD und Martina Maaßen [GRÜNE])

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist keine primäre Aufgabe für uns Parlamentarier. Unsere Aufgabe als Parlamentarier ist es, den Menschen in NRW offen, transparent und verständlich zu erklären, was warum wie in ihrem Bundesland vor sich geht.

Genau das hat auch der Justizminister getan, als er am 18. Januar dieses Jahres die Strafverfolgungsstatistik für das Jahr 2011 vorgestellt hat – eine Statistik, die auf 34 Seiten alle Informationen gibt, die man braucht, um sich intensiv mit dieser Materie zu befassen, und die es nicht verdient, in einigen wenigen Sätzen so zusammengefasst zu werden, wie Sie es in Ihrem Antrag getan haben, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von CDU und FDP.

Den von Ihnen angesprochenen besorgniserregenden Anstieg der Kriminalität hat der Justizminister auf der entsprechenden Pressekonferenz klar damit erklärt, dass dies vor allem – nicht nur, aber vor allem – mit den Fällen der Beförderungserschleichung – umgangssprachlich für Nichtjuristen: mit dem sogenannten Schwarzfahren – einhergeht. Es ist nämlich festzustellen, dass die Zahl der Verurteilungen nach der einschlägigen Vorschrift des § 265a StGB von gut 12.700 im Jahre 2010 auf 16.500 im Jahre 2011 anstieg. Grund für diesen massiven Anstieg ist nach allgemeiner Ansicht insbesondere ein verändertes Anzeigeverfahren der zuständigen Verkehrsbetriebe und Verkehrsunternehmen.

Keinesfalls ist hierhin jedoch ein besorgniserregender Kriminalitätsanstieg zu sehen, vor dem die nordrhein-westfälische Bevölkerung zu warnen wäre, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der antragstellenden Fraktionen. Was Sie nämlich nicht ausführen, ist die Tatsache, dass bei den Jugendlichen – Herr Wedel hat das einmal kurz angesprochen – die Zahl der Verurteilten deutlich um 7,5 % gesunken ist.

Die vorgelegte Strafverfolgungsstatistik macht daher durchaus positive Entwicklungen im Bereich der Jugendkriminalität deutlich. Sie lässt einen Rückgang von Jugenddelikten und von Verurteilungen Jugendlicher erkennen. Nach Ansicht der SPD-Fraktion hilft eine konsequente Nutzung der Gestaltungsmöglichkeiten des Jugendstrafrechts, Kriminalität wirksam zu bekämpfen. Weiterhin weist die kriminalpolizeilich bedeutsame Deliktgruppe Gewaltkriminalität einen – zugegebenermaßen leichten – Rückgang auf. Auch bei den Gewalttaten mit sexualisiertem Hintergrund ist ein deutlicher Rückgang zu erkennen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind Aussagen aus der vorgelegten Strafverfolgungsstatistik, die wir ebenfalls in die Öffentlichkeit bringen müssen. Sie zeigen nämlich, dass sich etwas zum Positiven bewegt. Sie zeigen zudem, dass Kriminalitätsbekämpfung und Strafverfolgung in NRW einen hohen Stellenwert haben. Jedes Verfahren in diesem Bereich weniger bedeutet nämlich auch weniger Opfer.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU und FDP, deshalb ist Ihre Argumentation falsch, aus der Tatsache, dass die Zahl der Verurteilten auf den zweitniedrigsten Stand seit 2003 zurückging, den Schluss zu ziehen, dass immer weniger Täter überführt werden; denn Sie lassen den Grundsatz, dass jede nicht begangene Straftat in einem Rechtsstaat doch das Maß aller Dinge sein soll, in Ihren Gedanken gar nicht zu. Das ist Ihr Fehler, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall von der SPD und Dagmar Hanses [GRÜNE])

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Opposition, das meinen wir, wenn wir Sie darauf ansprechen, gerade im Bereich der inneren Sicherheit und der Justiz politisch vorsichtig und weitsichtig zu agieren.

Lassen Sie mich als Rechtsanwalt, der in den letzten Jahren vermehrt als Strafverteidiger tätig war, eine persönliche Anmerkung machen. Herr Kollege Wedel, wenn Sie die informellen Verfahrensbeendigungen, also insbesondere diejenigen nach §§ 153, 153a StPO, 45 JGG, ansprechen und dies auch noch in den Kontext Ihres Antrags stellen, so ist doch darauf hinzuweisen, dass die Staatsanwaltschaft als Teil der Exekutive nach dem Legalitätsprinzip zunächst alle Anzeigen verfolgen muss und erst im Laufe der Ermittlungen entscheidet, ob sie das Verfahren einstellen muss oder kann. Hieraus abzuleiten, dass lieber eingestellt wird als angeklagt, hat mit der Wirklichkeit des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens nicht viel zu tun.

Ihre Äußerungen im Rahmen dieser Aktuellen Stunde lassen leider erkennen, dass Ihnen nicht daran gelegen ist, positive Ansätze zur Kriminalitätsbekämpfung zu begleiten. Vielmehr liegt Ihnen daran, dieses Thema zu nutzen, um das subjektive Sicherheitsgefühl der Bevölkerung zu erschüttern. Dies geht jedoch vollkommen an der Realität in NRW vorbei, wie die vorgelegte Strafverfolgungsstatistik belegt. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD und Dagmar Hanses [GRÜNE])

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat Frau Kollegin Hanses das Wort.

Dagmar Hanses (GRÜNE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Schon die Überschrift des Antrags von Schwarz-Gelb zu dieser Aktuellen Stunde lässt uns am Rechtsverständnis der Antragsteller zweifeln. „Rückgang strafrechtlicher Verurteilungen und Anstieg Verfahrenseinstellungen trotz besorgniserregender Kriminalitätsentwicklung in Nordrhein-Westfalen“ – darin sind ganz viele Fehler auf einmal enthalten. Das müssen wir jetzt erst einmal durchgehen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Ich kann Ihnen da gerne grundsätzlich noch einmal etwas erklären. Beim Kollegen Wedel habe ich durchaus Hoffnung, beim Kollegen Kruse war ich gerade verzweifelt.

(Vereinzelt Beifall von der SPD)

Als Pädagogin ist mir klar, dass Wiederholungen – Frau Ministerin Löhrmann ist auch hier – ein wichtiges Lernprinzip sind. Von daher: Wie wichtig Gewaltenteilung ist, können wir hier noch einmal auseinanderdividieren. Herr Minister Kutschaty, vielleicht könnten Sie der CDU-Fraktion auch einmal Rechtskundeunterricht anbieten. – Ich weiß, der Minister macht das sehr erfolgreich.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Sie machen hier einen absurden, schrägen und völlig unzulässigen Zusammenhang zwischen der Kriminalitätsstatistik und der Strafverfolgungsstatistik 2011 auf. Was gibt es mittwochs morgens Spannenderes? Ich freue mich, denn die Rechtspolitik bekommt vielleicht jetzt eine größere Aufmerksamkeit. Dann schauen wir gemeinsam in den Antrag hinein.

Wenn Sie in Ihrem Antrag behaupten, es sei bedenklich, dass die Zahl der Anklagen und Strafbefehle gesunken sei, dann ist das erstens falsch und zweitens haben Sie das nicht zu bewerten. Sie bedauern Verfahrenseinstellungen. Das wiederum bedauere ich. Liebe CDU, liebe FDP, das steht Ihnen nicht zu, das steht uns nicht zu. Denn Richterinnen und Richter, die keinen Strafbefehl erteilen, und Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, die Verfahren einstellen, entscheiden das unabhängig. Herr Wedel, nicht nur die Richterinnen und Richter, auch die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte entscheiden das unabhängig, sorgfältig, nach Prüfung im Einzelfall.

(Vereinzelt Beifall von der SPD)

Eine Bewertung durch die Politik weisen wir entschieden zurück. Diese rechtsstaatliche Unabhängigkeit der Justiz ist ein hohes Gut, das wir zu respektieren und zu erhalten haben.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Vereinzelt Beifall von den PIRATEN)

Das Parlament und die Regierung können aus unserer Sicht lediglich Folgen für die Rechtspolitik daraus ziehen. Und das haben wir gemacht. Der Justizminister hat am Freitag in seiner Vorstellung zwei Instrumente der Kriminalitätsstatistik dargelegt. Ich möchte hier ein Weiteres ergänzen. Er nannte die Häuser des Jugendrechts und die Staatsanwälte für den Ort. Ich möchte kurz auf den Haushalt eingehen, in dem wir den Jugendarrestvollzug pädagogisch weiter ausrichten.

Wir können hier festhalten, dass der Rückgang der Jugendkriminalität um 7,5 % bedeutet, dass es der niedrigste Wert seit 14 Jahren ist. Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung, Herr Kruse, nimmt die Jugendkriminalität ab. Es ist schon länger zu beobachten, dass das trotz der demografischen Entwicklung kein Selbstläufer ist. Dafür muss man etwas tun.

Um diese Entwicklung fortzusetzen, müssen wir die richtigen Rahmenbedingungen setzen. Wir können es nämlich nicht hinnehmen, dass 5 bis 10 % aller jungen Tatverdächtigen 50 % der Straftaten ihrer Altersgruppe begehen. Und da, Herr Kruse, liegt der Unterschied. Uns sind die nämlich nicht egal. Wir werden weiter sinnvolle Instrumente ausbauen – ja, selbstverständlich –, die bereits Frau Müller-Piepenkötter eingeführt hat.

Die Staatsanwälte für den Ort und die Häuser des Jugendrechts wurden genannt. Dafür braucht man Ressourcen. Das müssen wir in die Fläche bringen, an verschiedene Orte, Herr Wedel. Selbstverständlich ist Paderborn auch ein wichtiger Ort. Auch da gibt es Jugendliche, die ein Recht auf eine Begleitung, eine Betreuung haben, damit eine Straftat ein einmaliges Ereignis im Leben junger Menschen bleibt und sich kriminelle Karrieren nicht manifestieren.

Es hat sich bewährt. In der Jugendhilfe nennt man es „sozialräumlichen Ansatz“, was Staatsanwälte für den Ort leisten, nämlich die Zuständigkeit nicht nach Anfangsbuchstaben des Nachnamens zu wählen, sondern nach dem Wohnort. Dadurch entstehen kurze Wege, die Bündelung der Sachkompetenz. Das hat zu deutlich verkürzten Verfahren – um ca. 15 Tage – geführt.

Herr Wedel, es erstaunt mich schon, dass Sie jetzt nach mehr Personal schreien. Das freut mich. Ich bin auf die Haushaltsberatungen mit der FDP gespannt. Das Haus des Jugendrechts, das wir in Köln haben, sollten Sie einmal besuchen. Im Haushalt haben wir auch zusätzliche Stellen für die pädagogische Ausrichtung des Jugendarrestvollzugs eingerichtet. Das ist auch ein Baustein, damit die Jugendkriminalität weiter sinken kann. Ihre Zusammenhänge sind unzulässig.

Herr Kruse, Sie haben darauf abgehoben, das Rot-Grün in diesem Parlament eine Mehrheit hat. Ja, Sie haben auch gesagt, wir könnten stolz darauf sein. Das hat natürlich Gründe. Die Bürgerinnen und Bürger in Nordrhein-Westfalen haben uns im letzten Jahr gewählt, weil sie unseren Ansatz der vorsorgenden, der präventiven Politik richtig finden. Die Bürgerinnen und Bürger haben uns im letzten Jahr gewählt, weil sie auf Ihren platten Populismus, Ängste zu schüren, nicht hereinfallen, sondern weil sie Entwicklungen in der Gesellschaft sehen, die sie ernst nehmen, und viele pragmatische Ansätze der Landesregierung sehen, dem entgegenzuwirken.

Hier Sachen schräg miteinander zu verknüpfen – das kommt nicht an.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Für die Piraten spricht jetzt Herr Kollege Schulz.

Dietmar Schulz (PIRATEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Liebe Zuschauer im Hohen Hause und auch zu Hause am Stream! Ich habe mich bei der Lektüre des Antrags zur Aktuellen Stunde ernsthaft gefragt, wo der Aktualitätsbezug liegt. Liegt er in der Veröffentlichung einer Statistik, liegt er in einem Kernproblem unserer Gesellschaft oder liegt er im Lande NRW? Ich bin, ehrlich gesagt, noch nicht zu einem endgültigen Ergebnis gekommen.

Aber eines steht jedenfalls fest: Wir beraten heute in dieser Aktuellen Stunde ein Thema, das wir als Legislative teilweise gar nicht beraten dürfen bzw. sollten, geht man einmal von der Überschrift aus. Da geht es nämlich einerseits um die Frage der Verurteilung von Straftätern und um Verfahrenseinstellungen in Strafverfahren. Man könnte allerdings auch auf den Gedanken kommen, es gehe hier um die Strafverfolgung. So ganz klar wird es nicht.

Sie greifen auf der einen Seite die Justiz und damit aufseiten der Landesregierung letztendlich das Justizministerium an; auf der anderen Seite prangern Sie eine Kriminalitätsstatistik bzw. eine Entwicklung an, die letztendlich in der Exekutive begründet liegt, möglicherweise darin, dass wir zu wenig Personalausstattung im Bereich der Polizei haben.

Wir als gesetzgebendes Organ können zunächst nur über die Frage diskutieren, ob ein Gesetz gut oder schlecht ist, ob ein Gesetz fehlt, ob ein vorhandenes zu viel oder verbesserungswürdig ist. Welche Gesetze hier gemeint sein könnten, lässt das Thema der Aktuellen Stunde leider nicht erkennen; das ist schade.

Die Anwendung der Gesetze durch die Judikative ist nicht Aufgabe des Parlaments. Artikel 97 Grundgesetz sagt: „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.“ Schon im Grundstudium lernen wir im Fach Rechtswissenschaften, dass in Deutschland Gewaltenteilung herrscht.

Der vorliegende Antrag ist aus meiner Sicht in seinen Begründungselementen teilweise ein versuchter Eingriff in die im Grundgesetz festgelegte Gewaltenteilung. Die angeführten Statistiken zur Kriminalitätsentwicklung sind bloße Nebelkerzen für das tatsächlich Bezweckte. Dies ließ sich auch in den letzten Sitzungen des Rechtsausschusses feststellen, in denen permanent irgendwelche Kleinen Anfragen oder Tagesordnungspunkte zur Behandlung begehrt wurden, die sich, wie der Kollege Ganzke eben schon ausführte, überwiegend mit der Frage der Judikative und weniger mit der Frage der Exekutive befassen.

Es könnte natürlich auch sein, dass der Antrag falsch bzw. die Behandlung innerhalb der Aktuellen Stunde nicht zutreffend ist, weil es um die Verstärkung der Exekutive gehen möge, was die ermittelnden Polizeibehörden betrifft. Dann müsste gleich Herr Minister Jäger reden und nicht Herr Minister Kutschaty. Wir wissen es nicht genau.

Wir gehen davon aus, dass der vorliegende Antrag der Fraktionen der CDU und der FDP von Volljuristen angestoßen wurde. Daher kann ich diese Aktuelle Stunde, noch einmal betont, nicht nachvollziehen. Wir gehen ferner davon aus, dass die Kenntnis über die Unabhängigkeit der Richter in den vergangenen Monaten nicht abhandengekommen ist.

(Beifall von den PIRATEN)

Wie wir schon im Rechtsausschuss feststellen konnten, sollten wir uns alle darauf besinnen, Abstand davon zu nehmen, Justiz und Staatsanwälte hier im Parlament öffentlich zu kritisieren, und zu einer sachgerechten Rechtspolitik wie auch einer sachgerechten Innen? und Sicherheitspolitik zurückkehren.

Wenn Sie dem Justizminister nachweisen wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU und FDP, dass er sein Haus nicht im Griff hat, dann geht das sicherlich nicht über die Kriminalitätsstatistik; denn die Kriminalitätsstatistik ist nichts weiter als das Resultat dessen, was innerhalb unserer Gesellschaft passiert – zunächst einmal.

Wenn wir tatsächlich einen Rückgang an erledigten Rechtsfällen und Verfahren in der Gerichtsbarkeit haben, dann müssen wir möglicherweise mehr Richterinnen und Richter, mehr Staatsanwältinnen und Staatsanwälte einstellen. Das haben wir von der Piratenfraktion in der letzten Haushaltsdebatte teilweise gefordert. Darauf zielt Ihr Antrag aber ganz offensichtlich nicht ab. Würde er das tun, würden wir Piraten ihn mittragen.

Uns ist klar, dass die Staatsanwälte besonders in der Abteilung Wirtschaftskriminalität aktuell zu Sachbearbeitern in Insolvenzverfahren degradiert werden, Akten aus dem Bereich der Ordnungswidrigkeiten massiv ansteigen, die vielleicht besser von Amtsanwälten – auch das würde wiederum eine Erhöhung der Personaldecke bedeuten – anstatt von Staatsanwälten bearbeitet würden. Wie auch immer, ob es um den Rückgang von Strafurteilen oder Strafbefehlen geht, das kann nicht Thema unserer Arbeit sein.

Kommen wir zur Kriminalitätsentwicklung: Zunächst einmal – da teile ich die Auffassung, wie sie von Herrn Ganzke von der SPD, aber auch von Frau Hanses von den Grünen dargestellt – erfreuen wir uns an einem Rückgang der Jugendkriminalität in NRW um immerhin 7,5 %. Das ist sicherlich nicht das Ende der Fahnenstange. Nur, wie ich eben schon erwähnte: Die Kriminalitätsstatistik selbst sagt nichts über die Bekämpfung der Kriminalität aus, sondern etwas über den Zustand der Gesellschaft.

Wir Piraten sagen Ihnen gerne, wie Kriminalitätsbekämpfung à la longue aussehen muss: Für eine geringere Kriminalitätsrate brauchen wir bessere Bildung, mehr Prävention und gegebenenfalls mehr Polizei. Im Bereich der Jugendkriminalität ist von Symptombekämpfung und Aktionismus Abstand zu nehmen. Die Antwort auf das Problem der Jugendkriminalität ist trotz der erfreulichen statistischen Entwicklung nicht, jeden jungen Menschen als potenziellen Straftäter von morgen zu behandeln und so die Nachfrage nach sicherheitspolitischen Maßnahmen künstlich zu steigern. Resozialisierungsangebote für junge Straftäter, zum Beispiel Patenschaften, sind auszuweiten, um deutlich zu machen, dass die Abwärtsspirale sehr wohl durchbrochen werden kann.

Ich verweise an dieser Stelle nicht zuletzt, was die Kriminalitätsstatistik im Bereich der Erwachsenenkriminalität angeht, auf den letzten, den vorletzten und den vorvorletzten Armutsbericht. Damit sind wir wieder bei den Problemen, die in unserer Gesellschaft begründet liegen.

(Beifall von den PIRATEN)

Soweit wir mehr Polizeibedienstete benötigen, um zu entsprechenden Ermittlungserfolgen zu kommen, verweise ich unter anderem auf die Forderungen der Gewerkschaft der Polizei. Sie spricht von 1.700 Polizeibediensteten, die pro Jahr eingestellt werden müssten.

Ferner werden wir nicht umhinkommen, an zahlreichen Stellen innerhalb der Gesellschaft die Stellschrauben so zu drehen,

(Das Ende der Redezeit wird angezeigt.)

dass Kriminalität nicht notwendig wird. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass Kriminalität in Nordrhein-Westfalen insbesondere importiert wird. Marodierende Einbrecherbanden stellen in der Tat ein Problem dar. Das wiederum wäre eine Sache der Exekutive; angesprochen wäre Herr Minister Jäger.

Präsidentin Carina Gödecke: Herr Kollege Schulz, die Redezeit.

Dietmar Schulz (PIRATEN): Ja, ich komme zum Ende.

Mit Ihrem Antrag sorgen Sie weder für eine Verbesserung der Kriminalitätsverfolgung noch der Kriminalitätsstatistik. Ganz ehrlich: Wir sollten uns in den Ausschüssen und gerne auch im Plenum über die Dinge unterhalten, die zu einem Erfolg innerhalb unseres Landes dahin gehend führen, dass Kriminalität nicht notwendig ist oder dass Kriminalität, so sie grundsätzlich …

(Das Ende der Redezeit wird angezeigt. – Heiterkeit von den PIRATEN)

– Ich sorge für Erheiterung.

Präsidentin Carina Gödecke: Herr Kollege Schulz, Sie sind bei einer Minute Überziehung.

Dietmar Schulz (PIRATEN): Entschuldigung.

Wie auch immer, ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Der Antrag ist für mich, mit Verlaub, nichts weiter als ein Showantrag. – Danke schön.

(Beifall von den PIRATEN)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Schulz. – Für die Landesregierung spricht Herr Minister Kutschaty.

Thomas Kutschaty, Justizminister: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Worüber reden wir heute eigentlich? Reden wir über die polizeiliche Kriminalstatistik, die der Innenminister am 12. März 2012 veröffentlicht hat? Das wäre zwar etwas spät, würde mich allerdings bei dem Tempo der Opposition nicht wundern.

Oder reden wir über die Strafverfolgungsstatistik, die ich am 18. Januar dieses Jahres vorgestellt habe? Inhaltlich passt das zwar nicht zu Ihrem jetzt vorgelegten Antrag, der mit der Überschrift „Rückgang strafrechtlicher Verurteilungen…“ überschrieben ist, doch scheint dies gleichwohl von Ihnen gewollt zu sein.

Tatsächlich, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist die Zahl der strafrechtlichen Verurteilungen im Jahre 2011 um 1,8 Prozentpunkte gestiegen. Die Überschrift des Antrags der Opposition ist also reiner Etikettenschwindel, und – ehrlich gesagt – noch nicht einmal ein sonderlich intelligenter.

(Beifall von der SPD)

Worum geht es den Damen und Herren von der Opposition denn heute in Wahrheit? Sie wollen doch den Bürgerinnen und Bürger in unserem Lande eine Mogelpackung verkaufen, eine Mischung aus Halbwahrheiten und Gefühlen, um die Ängste in der Bevölkerung zu schüren. Damit werden Sie aber keinen Erfolg haben; die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land habe Ihre Inhaltslosigkeit längst durchschaut, meine Damen und Herren!

Gehen wir einmal auf die Details Ihres Antrags ein: Sie behaupten zunächst, dass wir im Jahre 2011 einen Rückgang strafrechtlicher Verurteilungen zu verzeichnen gehabt hätten. Das Gegenteil ist der Fall, meine Damen und Herren: Die Zahl der Verurteilungen ist von 174.656 im Jahre 2010 auf 177.782 im Jahre 2011 gestiegen.

Weiter behaupten Sie, dass sich der Anteil der Einstellungen von Ermittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaften erhöht habe. Auch das, meine Damen und Herren, stimmt nicht. Der Anteil der Verfahren, die ohne Auflage eingestellt worden sind, ist gesunken. Der Anteil der Verfahren, die mit Auflagen eingestellt worden sind, ist gesunken. Der Anteil der Verfahren, die aufgrund rechtlicher Gründe wie zum Beispiel erwiesener Unschuld eingestellt worden sind, ist ebenfalls gesunken.

Sie schaffen es allerdings, die hervorragende Arbeit unserer 19 Staatsanwaltschaften in Nordrhein-Westfalen in Verruf zu bringen, meine Damen und Herren.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Doch damit alleine begnügen Sie sich noch nicht. Sie machen mit Ihrem Antrag auch unserer Polizei Vorhalte, dass sie nicht genügend Straftaten aufkläre. Das, meine Damen und Herren, hat die Polizei nicht verdient. Ich will einige Zahlen aus der polizeilichen Kriminalstatistik zitieren, die ein wirkliches Bild von dem Zustand auf unseren Straßen beschreiben:

Die Aufklärungsquote der übrigens im Jahre 2011 um zwei Prozentpunkte rückläufigen Zahl an Gewaltdelikten lag 2011 bei rund 72 %, bei Sexualdelikten sogar bei rund 80 %. Die Aufklärungsquote lag bei Mord bei 98 %. Noch vor 40 Jahren war das Risiko, in Nordrhein-Westfalen Opfer eines versuchten oder vollendeten Tötungsdeliktes zu werden, doppelt so hoch wie heute. Das sind die wahren Zahlen zur Sicherheit in unserem Lande, meine Damen und Herren.

(Beifall von der SPD, den GRÜNEN und Ministerpräsidentin Hannelore Kraft)

Diese Zahlen aber überführen Sie mit Ihrem Antrag, der zeigt, was er tatsächlich ist: eine Mischung aus Halbwahrheiten und Gefühlen. Aber völlig unklar ist mir bis jetzt, auch nach Ihren Redebeiträgen, Herr Kruse und Herr Wedel, geblieben, was Sie mit Ihrem Antrag eigentlich bezwecken.

Wollen Sie die Arbeit der Polizei, der Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, der Richterinnen und Richter unseres Landes kritisieren? Halten Sie beispielsweise Verfahrenseinstellungen gegen Zahlung einer Geldauflage für ein ungeeignetes Instrument der Verfahrenserledigung? Oder wollen Sie gar, dass ich mich verfassungswidrig in die Entscheidungsfindung unabhängiger Gerichte einmische und sozusagen Urteile aus dem Justizministerium heraus anweise? Oder wollen Sie sich sogar selbst einmischen?

Die Debatte in der letzten Rechtsausschusssitzung lässt einiges dazu befürchten. Herr Ganzke hat es zitiert. Ich hoffe, es ist Ihnen zumindest bewusst, dass wir alle hier in diesem Hause das nicht tun sollten und unsere unabhängige Justiz gerade vor solchen Eingriffen und Einflüssen zu schützen ist.

Aber ich befürchte, meine Damen und Herren von der Opposition, dass Sie bereit sind, das öffentliche Ansehen der Justiz für eine einzige Schlagzeile zu beschädigen. Und das von einer selbsternannten Sicherheitspartei namens CDU und einer selbsternannten Bürgerrechtspartei namens FDP? – Ich finde das erbärmlich.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Oder wollen Sie mit Ihrem Antrag mehr Personal für Polizei und Justiz fordern? Das könnte ich sogar noch nachvollziehen, weil diese Bereiche in der Tat viel Arbeit zu leisten haben. Aber ich glaube nicht, dass Sie das wollen. Ihre jüngsten Veröffentlichungen zum geforderten Personalabbau in Nordrhein-Westfalen sprechen genau das Gegenteil.

Ich möchte an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, die herausragende und hervorragende Arbeit der Polizistinnen und Polizisten, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte sowie Richterinnen und Richter und aller weiteren bei Polizei und Justiz Beschäftigten zu loben und ihnen mein ausdrückliches Vertrauen auszusprechen. – Ich fordere Sie auf: Tun Sie das auch. Schließen Sie sich an!

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Bei Ihrem Antrag macht mich noch etwas stutzig. Legen wir doch einmal den Maßstab Ihrer Antragsschrift an Ihre Regierungsjahre von 2005 bis 2010 in Nordrhein-Westfalen an. Während Ihrer Regierungszeit ist die Zahl der Verurteilungen jedes Jahr kontinuierlich gesunken. Die Zahl der Einstellungen lag im Mittel Ihrer Regierungsjahre in allen Bereichen über dem Wert aus dem Jahre 2011. Würde ich jetzt Ihre Worte aufgreifen, müsste ich sagen: „bedenklich“.

Oder nehmen wir die polizeiliche Kriminalstatistik. Die Zahl der Gewaltdelikte lag in den Jahren 2007, 2008 und 2009 jeweils im vierstelligen Bereich über den Zahlen der Gewaltdelikte, die wir im Jahr 2011 hatten. Das gleiche Bild stellen wir bei Fällen von gefährlicher und schwerer Körperverletzung fest. Würde ich die Worte Ihres Antrags benutzen, müsste ich jetzt „besorgniserregend“ sagen, meine Damen und Herren. In diesem wirklich relevanten Bereich haben Sie in Ihren Regierungsjahren nachweislich deutlich schlechtere Ergebnisse geliefert als die jetzige Landesregierung. Das haben Sie bei Ihrer Antragstellung ganz offensichtlich verdrängt.

Meine Damen und Herren, die Sicherheit in Nordrhein-Westfalen ist ein hohes Gut. Bestimmt können wir an vielen Stellen gemeinsam, auch parteiübergreifend, noch einiges verbessen. Das setzt allerdings voraus, dass die Arbeit der Kolleginnen und Kollegen bei Polizei und Justiz nicht pauschal und mit falschen Zahlen diffamiert wird. Denn diese Menschen geben jeden Tag ihr Bestes, um uns alle zu schützen. Meinen Sie wirklich, diese Menschen haben die Form der von Ihnen geäußerten Kritik verdient? Wenn Sie das wirklich meinen, sollten Sie das auch sagen. Ich jedenfalls würde mich von Ihnen angesichts Ihrer Regierungsbilanz in diesem Bereich deutlich mehr Selbstkritik wünschen.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Weiterhin wünsche ich mir deutlich konstruktivere Beiträge von Ihnen als den, den Sie dieser Aktuellen Stunde zugrunde legen. Effekthascherei und künstliche Aufgeregtheit Ihrerseits helfen uns nicht weiter. Konkrete Vorschläge zur Verbesserung fehlen bei Ihrem Antrag genauso wie jede Substanz.

Wenn das alles ist, meine Damen und Herren von der Opposition, was Sie gemeinsam mit Ihrem jeweiligen Wunschkoalitionspartner zu bieten haben, bin ich mir sicher, dass bei Ihnen weiterhin jedes Jahr eine Zahl sinken wird, nämlich die Zahl Ihrer Wählerstimmen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister Kutschaty. – Der Minister hat die Redezeit ebenfalls um ungefähr eine Minute überzogen, sodass wir bei den nachfolgenden Fraktionsrednerinnen und ?rednern etwas großzügiger sind. – Für die CDU-Fraktion hat Herr Kollege Kamieth das Wort.

Jens Kamieth (CDU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da heute Herr Minister und Herr Kollege Ganzke die letzte Sitzung des Rechtsausschusses haben Revue passieren lassen, wiederhole ich gern, was ich dort gesagt habe. Wir als Oppositionspartei sehen es als unsere Verpflichtung an, nachzufragen, wenn wir den Eindruck bekommen, dass etwas schiefgelaufen ist.

Genau das haben wir aufgrund eines Zeitungsberichtes getan. Dass die Schlagzeile – zum Glück – durch die Presse falsch gewählt war, hat Herr Minister dargestellt. Das ist in Ordnung für uns.

Aber wir können diese Informationen aus unserer Position heraus nicht so schnell bekommen. Die Regierung ist dazu in der Lage. Wir hätten uns gewünscht, dass die Regierung selbst für Offenheit und Klarheit sorgt. Offenheit und Transparenz, die auch Herr Ganzke angesprochen hat, herrschen leider in dieser Regierung nicht.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Wir haben es bereits durch den Kollegen Theo Kruse gehört: Die Aufklärungsquote in Nordrhein-Westfalen ist unter der rot-grünen Landesregierung schlecht. Die Zahl der Straftaten ist um fast 5 % gestiegen; das sind 70.000 Straftaten mehr. Bundesweit ist die Zahl der Straftaten um 1 % gestiegen. Das heißt, der Kriminalitätszuwachs in Nordrhein-Westfalen ist fast fünf Mal so hoch wie im Bundesdurchschnitt.

Nordrhein-Westfalen ist wieder einmal abgeschlagen. Das Risiko, in Nordrhein-Westfalen Opfer einer Straftat zu werden, ist gestiegen. Da brauchen wir keine oberlehrerhaften Belehrungen von der sehr geschätzten Kollegin Hanses über die Aufgaben der Justiz und die Gewaltenteilung. Uns ist das sehr wohl bekannt. Bezeichnend ist, dass Sie den Herrn Minister zur Belehrung heranrufen. Einen Justizminister aus dem grünen Bereich sehe ich bundesweit nicht.

(Dagmar Hanses [GRÜNE]: Wir arbeiten daran, Herr Kamieth! Keine Sorge! – Heiterkeit von Minister Thomas Kutschaty)

Die Aufklärungsquote ist bedauerlicherweise nicht gestiegen, sondern sogar gesunken. Das ist peinlich für den Innenminister, der mich sicherlich auch hört. Er geriert sich als sehr starker Mann. Dann wäre es schön, wenn die Aufklärungsquote entsprechend gut wäre.

Was passiert denn mit den aufgeklärten Fällen? Man müsste doch annehmen, dass aufgeklärte Fälle in der Regel zu einer Verurteilung führen. „Aufgeklärt“ im Sinne der polizeilichen Kriminalstatistik ist ein Fall – ich darf zitieren –, den „nach dem polizeilichen Ermittlungsergebnis ein mindestens namentlich bekannter oder auf frischer Tat ergriffener Tatverdächtiger begangenen hat.“

Damit dürfte doch eigentlich alles klar sein und dürfte man davon ausgehen können, dass tatsächlich eine Verurteilung erfolgt. Das Gegenteil ist in der Regel der Fall.

Die Strafverfolgungsstatistik macht insofern eine differenzierte Betrachtung erforderlich. Gerade im Jugendbereich ist es das A und O, zu verhindern, dass Jugendliche überhaupt auf die schiefe Bahn geraten. Es ist natürlich sehr erfreulich, dass die Zahl der verurteilten Jugendlichen um 7,5 % zurückgegangen ist.

Wir haben, Herr Minister, die Situation in den Jahren unserer Regierungszeit sehr genau analysiert und natürlich die Lehren daraus gezogen. So sind für den Rückgang der Verurteilungen nicht nur der demografische Effekt und, wie Sie gesagt haben, die besseren Perspektiven und besseren Ausbildungsmöglichkeiten sowie der Umstand anzuführen, dass auffällige Jugendliche früher besser betreut werden, sondern es sind natürlich gerade auch die von unserer Ministerin Müller-Piepenkötter auf den Weg gebrachten Maßnahmen, die jetzt greifen,

(Vereinzelt Beifall von der CDU und der FDP – Zurufe von der SPD: Oh!)

wie „Staatsanwalt für den Ort“ oder die Häuser des Jugendrechts für Intensivtäter. Sie ernten jetzt die Früchte, die wir damals gesät haben.

(Zuruf von Dagmar Hanses [GRÜNE])

Ich frage Sie, Herr Minister: Wo sind Ihre Projekte? Wie wollen Sie denn versuchen, die Kriminalitätsstatistik zu bessern? Sie sind seit drei Jahren im Amt, ich sehe aber keine eigenen Projekte von der Qualität wie die Projekte, die ich gerade angesprochen habe.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Wichtig ist natürlich auch, dass diejenigen, die auf die schiefe Bahn gekommen und straffällig geworden sind, verurteilt werden. Für uns gilt ganz klar: Opferschutz vor Täterschutz.

Deswegen halten wir es vor dem Hintergrund der erheblichen Zunahme von Straftaten insgesamt für sehr erschreckend, dass die Zahl der strafrechtlichen Verurteilungen in Nordrhein-Westfalen inzwischen auf den zweitniedrigsten Stand seit 2003 gesunken ist. Das bleibt so, auch wenn Sie diese Zahl nicht wahrhaben wollen.

Lassen Sie mich das am Beispiel der Wohnungsdiebstähle etwas genauer darstellen. Die Wohnungsdiebstähle gehören zum einen zur zweitgrößten Deliktsgruppe, sie sind zum anderen darüber hinaus ganz besonders traumatisch für die Opfer. Es ist ein schwerwiegender Eingriff in die Privatsphäre. Stellen Sie sich vor, Sie müssten in dem Raum schlafen, der wenige Tage vorher durch Fremde begangen worden ist, dass Ihre Klamotten durchwühlt worden sind usw. – Das möchte kein Mensch.

Nach einer Studie der Ruhr-Universität Bochum kommt es bei solchen Wohnungsdiebstählen lediglich bei 47 von 1.881 Fällen zu einer Verurteilung. Das sind gerade einmal 2,5 %. Entspricht das Ihrer Vorstellung von einer angemessenen strafrechtlichen Reaktion des Staates, Herr Minister Kutschaty? Können Sie sich vorstellen, wie enttäuscht die Opfer sind, die einen solchen Wohnungsdiebstahl erlitten haben? Oder versetzen Sie sich in die Lage der Polizeibeamten, die mühsam und mit hohem persönlichen Einsatz die Tatsachen ermittelt haben und dann frustriert feststellen müssen, dass Tatverdächtige in der Regel ungeschoren davonkommen?

(Nadja Lüders [SPD]: Wenn man denn welche hat!)

Angesichts dieser Zahlen kann ich Ihre Zufriedenheit mit dem vorgelegten Zahlenwerk bei der Pressekonferenz nicht nachvollziehen. Mit weniger Verurteilungen trotz steigender Kriminalität kann nur zufrieden sein, wer den Täterschutz vor den Opferschutz stellt.

(Beifall von der CDU)

Besonders kritisch ist in diesem Zusammenhang die große Zahl der Verfahrenseinstellungen zu sehen, die gerade durch Ihren Erlass im Hinblick auf die Betäubungsmittelvergehen nach wie vor hoch gehalten wird.

(Vereinzelt Beifall von der CDU)

Rund 28 % der Ermittlungsverfahren werden aufgrund der Ermessensvorschriften mit oder ohne Auflage eingestellt.

Wir müssen natürlich die Arbeitsfähigkeit der Justiz erhalten. Der Aufwand der Durchführung eines Strafverfahrens darf nicht außer Verhältnis stehen zu der angeklagten Tat oder dem zu erwartenden Strafmaß. Kein Mensch hätte Verständnis dafür, wenn für einen Parkrempler, der eigentlich als Unfallflucht zu werten wäre, unzählige Zeugen gehört und ein kostenintensives Sachverständigengutachten über Lacksplitter eingeholt würde, wenn der Täter geständig ist und das Missgeschick zum ersten Mal geschieht. Dann bietet sich ausnahmsweise eine Verfahrenseinstellung an.

Aber gerade bei Mehrfachtätern muss eine Verfahrenseinstellung die Ausnahme bleiben. Hier lassen sich die Ressourcen der Justiz zum Beispiel dadurch schonen, dass konsequent im beschleunigten Verfahren Anklage erhoben wird. Dadurch kann gewährleistet werden, dass gerade Wiederholungstäter kleinerer Delikte ihre gerechte Strafe erhalten.

In dem Zusammenhang ist es schon so, Herr Schulz, dass man Vorschläge machen kann, die nicht auf die Judikative zielen, sondern auf die Form der Anklageerhebung. Das fällt ganz klar in das Ressort des Ministers.

Das beschleunigte Verfahren fristet in Nordrhein-Westfalen immer noch ein Schattendasein. Es wird viel zu selten angewandt. Hier könnte in einem schnellen Verfahren in einer Vielzahl von Fällen ohne großen Aufwand für die Justiz ein verfassungsgemäßes Urteil gefällt werden. Damit würde man dem Anspruch der Opfer und auch der Polizeibeamten gerecht.

Herr Minister, was wollen Sie unternehmen, damit das beschleunigte Verfahren in Nordrhein-Westfalen stärker etabliert wird?

(Beifall von der CDU)

Nüchtern betrachtet gibt es sehr viel zu tun. Die vorgelegten Zahlen mit Ausnahme der Entwicklung bei den Jugendlichen enttäuschen. Sehen Sie sich die Kriminalitätsentwicklung im Bund an, schauen Sie sich die Entwicklung bei den Jugendlichen in Hessen an. Es geht besser. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Wolf.

(Vorsitz: Vizepräsident Eckhard Uhlenberg)

Sven Wolf (SPD): Frau Präsidentin! Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Opposition will positive Entwicklungen nicht zur Kenntnis nehmen. Das ist das gute Recht der Opposition.

Herr Kollege Schulz, Sie haben gerade noch einmal sehr deutlich danach gefragt, was eigentlich der Anlass für diese Aktuelle Stunde ist. – Ich glaube, den Anlass kann man aus den Wortbeiträgen der Kollegen Kruse und Kamieth genau herauslesen. Sie haben nämlich die große Sorge, dass Sie die vermeintliche Kompetenz, die Ihnen die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land einmal im Bereich der Innen- und Rechtspolitik zugesprochen haben, auch verspielen und verlieren. Das ist der eigentliche Anlass für diese Aktuelle Stunde.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Sie müssen sich auch von mir zum wiederholten Male zwei Fragen stellen lassen. Sie sind gegen die steigende Zahl der Verfahrenserledigungen, und Sie beklagen, es erfolgten zu wenige Verurteilungen. Beim Kollegen Wedel habe ich erkannt, dass er sich noch ein bisschen auf sein juristisches Grundwissen verlässt und sich daran erinnert.

Die Kollegin Hanses hat das hier sehr pädagogisch mit Wiederholungen versucht. Ich will es auch noch einmal mit einer Wiederholung versuchen.

Soll die Antwort auf die von Ihnen gestellten Fragen sein, dass wir als Parlament oder gar der Justizminister Einfluss auf die Staatsanwaltschaften oder die Richterinnen und Richter in unserem Land nehmen? – Das kann, glaube ich, nicht die Antwort sein.

Herr Kamieth, Sie haben sehr ausführlich dargelegt, dass Ihnen die Zahl der Verfahrenseinstellungen deutlich zu hoch ist. Sie wünschen sich ein anderes Verfahren. Die Staatsanwaltschaften sollen weniger einstellen.

Da merkt man deutlich, dass Sie vermutlich wenig Strafverteidigung gemacht haben. Denn ein wichtiger Grund für Verfahrenseinstellungen – das werden Ihnen alle Kollegen, die in diesem Bereich tätig gewesen sind, bestätigen – ist zum Beispiel eine Wiedergutmachung gegenüber den Opfern. Dagegen können Sie doch eigentlich nichts haben. Wenn der Täter dem Opfer entgegenkommt und eine Wiedergutmachung ausspricht, dann ist die Verfahrenseinstellung wohl das richtige Mittel.

Zurück zum Grundsatz: Bei uns gilt das Legalitätsprinzip. Danach ist zunächst jeder Anzeige in unserem Land nachzugehen. Es gibt in anderen Ländern andere Beispiele. In den Niederlanden wird nur dort ermittelt, wo auch davon ausgegangen werden kann, dass es zu einer Verurteilung kommt.

Meine Damen und Herren, der Minister hat darauf hingewiesen, dass nach der Logik von CDU und FDP die Jahre von 2005 bis 2010 rechtspolitisch ebenfalls ein Desaster gewesen sein müssten, denn es gab einen stetigen Rückgang der Verurteiltenzahlen. Ich bin aber der Meinung, dass dies nichts aussagt. Aussagekräftiger ist vielmehr der Vergleich mit den Eingangszahlen, besonders den Belastungsanzeigen bei den Staatsanwaltschaften.

Herr Wedel, Sie haben angedeutet, dass es da ein Problem gibt. Dieses Problem haben wir erkannt. Insbesondere auf die hohe Belastung der Amtsanwälte haben wir reagiert und bereits in den Haushalten 2011 und 2012 insgesamt eine Verstärkung um 50 Bedienstete beschlossen. Davon konnten 30 bereits ihre Ausbildung beginnen. Das ist die richtige politische Schlussfolgerung. Da hätten Sie zustimmen können.

(Beifall von der SPD)

Meine Damen und Herren, wenn die Kollegen von CDU und FDP schon dieses Thema auf die Tagesordnung setzen, dann müssen sie auch ertragen, dass wir hier die positiven Effekte erwähnen und unterstreichen.

Herr Kollege Kruse, die innere Sicherheit in Nordrhein-Westfalen ist entgegen dem von Ihnen gemalten Bild nicht gefährdet. Die Zahl der verurteilten Intensivtäter – das hat der Minister hier sehr deutlich gesagt – geht zurück, insbesondere die Verurteiltenzahl – das ist ein ganz wichtiges Signal – der gewaltbereiten Jugendlichen. In diesem Fall stimmt auch der Rückgang in der Kriminalstatistik mit der Statistik der Verurteilungen überein. In anderen Fällen gehen diese beiden Statistiken deutlich auseinander. Das hat etwas mit Logik zu tun, der Sie sich leider, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU und FDP, verschließen. Sie wollen hier Äpfel mit Birnen vergleichen.

Der Justizminister hat die Verurteiltenzahlen genannt, und die polizeiliche Kriminalstatistik zeigt an, wie viele Anzeigen eingegangen sind. Es gibt unterschiedliche Gründe, warum sich das Anzeigeverhalten verändert. Es gibt unterschiedliche Deliktstrukturen. Es gibt Kontrolldelikte. Wenn man dort stärker kontrolliert, dann steigen natürlich in diesem Bereich auch die Anzeigenzahlen.

Ich denke, mein Kollege, der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, kann Ihnen das noch einmal sehr ausführlich erklären, falls Sie im Sinne der Wiederholung, die Frau Hanses schon ansprach, noch ein bisschen Beratung brauchen.

Dann beginnen Sie, die Zahlen von Nordrhein-Westfalen mit denen aus anderen Bundesländern zu vergleichen. – Auch das ist schwierig. Sie müssen zur Kenntnis nehmen: Nordrhein-Westfalen ist ein Ballungsraum. Fast die Hälfte aller großen Städte liegt in unserem Land. Was Sie, Herr Kamieth, hier vorgetragen haben – erlauben Sie mir das –, ist eher eine alte Leier, durch die Sie immer wieder versuchen, durch diese Vergleiche die Arbeit in Nordrhein-Westfalen zu diskreditieren. Das wird Ihnen nicht gelingen.

Diese positive Entwicklung gerade bei den jugendlichen Tätern ist aber nicht vom Himmel gefallen. Zwei Projekte sind hier schon mehrfach bemüht worden, zum einen das „Haus des Jugendrechts“ und zum anderen das Projekt „Staatsanwalt für den Ort“. Klar, Sie haben darauf hingewiesen: eine Idee der schwarz-gelben Regierung. Aber es gab dazu auch einen breiten politischen Konsens. Das haben Sie hier unterschlagen.

Diese Modellprojekte, die aus der Modellphase hinausgewachsen sind, nun auf das ganze Land auszuweiten, das hat Justizminister Kutschaty getan. „Staatsanwälte für den Ort“ sind nun das Regelmodell für alle Staatsanwaltschaften in Nordrhein-Westfalen. Es macht Sinn, denn die Staatsanwälte und Jugendrichter kennen die häufig auffallenden Jugendlichen und wissen daher auch, welche Maßnahmen ganz konkret zu ergreifen sind. Ich will hier einmal das Schiller-Wort aus „Wallenstein“ „Ich kenne meine Pappenheimer.“ anführen.

Aber es gibt auch einen dritten Ansatz. Wir diskutieren im Rechtsausschuss schon lange darüber: das Jugendarrestvollzugsgesetz. Ich glaube, der erzieherische Umgang mit jungen Delinquenten ist genau der richtige Ansatz. Dafür braucht die rot-grüne Landesregierung, wie es in einem Zeitungskommentar sehr treffend beschrieben wurde, einen langen Atem. Den langen Atem haben wir.

Der Präventionsansatz der rot-grünen Landesregierung zeigt Wirkung. Wir müssen jungen Menschen berufliche Perspektive schaffen; wir müssen prekäre Arbeitsverhältnisse zurückdrängen. Dann kommen immer weniger junge Menschen auf die schiefe Bahn. Das ist ein nachhaltiger Ansatz, der nichts mit Sozialromantik zu tun hat, sondern – ganz bescheiden – aus der Tradition der Sozialdemokratie stammt, der sich 150 Jahre lang bewährt hat und auch weiterhin bewähren wird. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Abgeordneter. – Für die FDP-Fraktion spricht Herr Dr. Orth.

Dr. Robert Orth (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man hat jetzt einige Zeit zuhören können. Ich möchte deswegen auf das eine oder andere eingehen, was die Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen heute hier gesagt haben.

Herr Ganzke hat zu Beginn gefragt: Warum diskutieren wir heute? – Herr Ganzke, ich kann es Ihnen beantworten: weil bei den Menschen eine Betroffenheit herrscht, die Sie anscheinend nicht kennen.

(Beifall von der FDP – Zuruf von Hartmut Ganzke [SPD])

Wir lassen nicht durch Überschriften Sorgen entstehen, sondern die Menschen haben in der Realität Sorgen, und dieser Sorgen muss sich die Politik annehmen, meine Damen und Herren.

(Beifall von der FDP)

Wenn man Opfer eines Einbruchs ist und danach tagsüber beim Verlassen des Hauses immer die Rollladen herunterlässt, wenn man meint, man müsse nun immer den Strom anschalten und Energie verbrauchen, damit die Menschen draußen denken, es sei jemand im Haus, wenn die Menschen anfangen, ihre Wertsachen mitzuschleppen anstatt sie zu Hause zu lassen, dann müssen doch auch Sie erkennen, dass hier in Nordrhein-Westfalen in der Kriminalitätsbekämpfung etwas falsch läuft.

(Beifall von der FDP)

Sie interpretieren auch die Zahlen falsch. Die Zahl der Einbrüche, der Diebstähle, der Raubdelikte ist hoch. Da kann man doch nicht aus der geringen Anzahl der Gewaltdelikte schlussfolgern, alles wäre gut. Nein, die Wahrscheinlichkeit, Opfer nicht eines Gewaltdelikts, sondern eines anderen Delikts zu werden, ist in Ihrer Regierungszeit enorm gestiegen.

Frau Hanses, Sie erklären Wiederholung zu einem wichtigen Lernprinzip. – Wenn das so ist, dann – denke ich – werden wir in Zukunft immer wieder diese Themen ins Plenum einbringen, damit Sie endlich lernen, dass Sie da etwas tun müssen, meine Damen und Herren.

(Beifall von der FDP)

Ich bedauere nicht, wenn Verfahren durch die Gerichte eingestellt werden. Aber entscheidend ist doch: Was gelangt eigentlich von der Polizei bis zu den Staatsanwaltschaften und bis zu den Gerichten? – In Düsseldorf sind die Einbrüche 2011 im Vergleich zu 2010 um 27 % gestiegen. Das ist eine ziemlich große Zahl, nicht nur für Liberale. Die Aufklärung liegt nur noch bei 9,7 %.

Meine Damen und Herren, wer in Düsseldorf Opfer eines Einbruchs wird, weiß vorher schon, dass er a) seine Sachen höchstwahrscheinlich nicht wiederbekommt und b) der Täter nie zur Rechenschaft gezogen wird. Das ist Realität, und das ist nicht nur Statistik, sondern die Menschen sind persönlich davon betroffen.

In Ihrer Zeit sind durch Ihre präventive Politik nur zwei Dinge gestiegen: die Schulden und die Straftaten.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Herr Schulz, wenn Sie Statistiken als nichts anderes als nur Nebelkerzen bezeichnen, dann – glaube ich – haben Sie sich nicht die Arbeit gemacht, sich damit ernsthaft auseinanderzusetzen. Sie werden damit der Betroffenheit der Menschen nicht gerecht.

Wenn man über die Gründe nachdenkt, weshalb die Aufklärungsquoten wohl so stark sinken, dann ist ein Grund sicherlich, dass nicht konsequent nach dem Verbleib des Diebesguts geschaut wird, Herr Minister Jäger. Die Aufklärungsquoten könnten steigen, wenn man sich damit auseinandersetzen würde, wo die Ware „vertickt“ wird. Aus meinem Bekanntenkreis habe ich gehört, dass die Versicherung einem Einbruchsopfer geraten hat, seine Uhr doch bei ebay zu ersteigern, denn dann könnte die Versicherung wenigstens versuchen, an den Täter zu heranzukommen. Die Polizei kümmerte sich nicht darum.

Meine Damen und Herren, es kann doch nicht sein, dass der Betroffene versuchen soll, seine Uhr zu ersteigern, weil sich die Polizei nicht darum kümmert.

(Beifall von der FDP – Zuruf von Minister Ralf Jäger)

Im Ländervergleich hinkt NRW gerade bei der Aufklärung von Wohnungseinbrüchen hinterher. Was macht der Minister? – Der Minister macht vor einigen Wochen eine Aktion, bei der auf der Autobahn pauschal alle angehalten werden, die ein südosteuropäisches Kennzeichen haben. – Meine Damen und Herren, das ist nicht Reaktion, das ist in meinen Augen Hilflosigkeit.

Wir würden uns ein konsequenteres Vorgehen wünschen. In „SPIEGEL ONLINE“ vom 10. Januar 2013 war zu lesen, das Innenministerium habe eine Arbeitsgruppe mit dem Namen „Bekämpfung mobiler Intensivtäter Eigentumskriminalität“ eingesetzt. Von dieser Arbeitsgruppe seien erhebliche Defizite der Ermittlungsarbeit aufgedeckt worden.

Ich frage Sie, Herr Minister: Was haben Sie mit den Ergebnissen gemacht? Tun Sie etwas damit! Die Menschen würden es sich jedenfalls wünschen. Es ist unerträglich, wie es in Nordrhein-Westfalen zugeht. Deswegen, Frau Hanses, müssen wir es wahrscheinlich hier noch öfter betonen, damit Sie es endlich lernen, etwas zu tun. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Dr. Orth. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Frau Abgeordnete Hanses.

Dagmar Hanses (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir können alle Lernprinzipien noch mal durchgehen, Herr Orth; das ist kein Problem.

Ich möchte noch mal betonen: Dieser Bereich der Rechtspolitik, ist, wenn wir uns die Strafverfolgungsstatistik anschauen, für Ihre Schwarz-Weiß-Spiele nicht geeignet. Gute Regierung – schlechte Regierung, Schwarz-Grün nein, Rot-Grün – Schwarz-Gelb, all das ist Mumpitz. Sie haben die Instrumente genannt, die auch immer wieder hervorgehoben werden: das „Haus des Jugendrechts“ und „Staatsanwalt für den Ort“, stellen dabei aber jedes Mal heraus, diese habe Ihre schwarz-gelbe Regierung eingeführt. Es geht aber gar nicht darum, wer was eingeführt hat und was deshalb gut oder schlecht ist, sondern darum, dass es funktioniert. Das ist Unfug und wird weder den Opfern noch den Betroffenen gerecht, die ihr Leben ändern wollen.

Weil es funktioniert und sich bewährt hat, haben wir das ausgebaut, und wir werden es weiter ausbauen.

Herr Kollege Kamieth hat die Opfer angesprochen. – Eine Opfergruppe benötigt aus unserer Sicht besonderen Schutz und verdient besondere Aufmerksamkeit: die Opfer sexualisierter Gewalt. Im Zusammenhang mit der Statistik noch nicht erwähnt worden ist der Rückgang von 932 Fällen in 2010 auf 828 in 2011 – das sind 11 % – bei den Straftaten mit sexualisiertem Hintergrund.

Zur Haltung, Herr Kollege Kamieth: Eine gute Täterarbeit ist aus unserer Sicht der beste Opferschutz. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Frau Kollegin Hanses. – Für die Fraktion der Piraten spricht Herr Kollege Schulz.

Dietmar Schulz (PIRATEN): Danke schön. – Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Dr. Orth, Sie führen gerade bei der Kriminalitätsstatistik die Entwicklung in Düsseldorf an. Wie wir alle wissen, ist Düsseldorf – das bezieht sich selbstverständlich auch auf die Polizei und die Ordnungskräfte – CDU/FDP-geführt.

(Zuruf von Dr. Robert Orth [FDP])

– Ja, und es besteht auch ein reger Austausch zwischen dem Rat der Stadt Düsseldorf und dem Polizeipräsidenten. Man sitzt ständig zusammen und kann die Entwicklung hervorragend verfolgen. Sei‘s drum.

Wir sind nach wie vor bei den Symptomen. Wir sind bei der Kriminalität und der Entwicklung. Lassen Sie uns doch einfach mal der Menschen annehmen, der Betroffenen. Sie sprachen eben auch von Betroffenheit.

Ich will eine Deliktgruppe herausgreifen, die völlig unterbewertet bzw. überhaupt noch nicht angesprochen worden ist: die Drogenkriminalität. Insbesondere Nordrhein-Westfalen ist davon sehr stark betroffen. In Nordrhein-Westfalen haben wir 850.000 plus X statistisch erfasste Konsumenten von Cannabis bzw. Cannabisprodukten. Es ist also so, dass Cannabis und Cannabisprodukte mittlerweile zur Volksdroge geworden und in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen sind.

Ich sagte eben schon: Wir müssen uns im Bereich der Aufklärung bewegen und weniger in der Bekämpfung und Kriminalisierung von bestimmten Deliktgruppen. Aufklärung ist gefragt.

(Beifall von den PIRATEN)

Mit der Aufklärung und der Entkriminalisierung findet auch gerade im Bereich des Konsums von Cannabis und Cannabisprodukten eine Verringerung bzw. Beseitigung eines Schwarzmarktes statt, damit gleichzeitig eine Verringerung der Verfahren gegen einfache Konsumenten nach der Kifferdatei. Dazu sollten wir uns kooperativ zeigen; wir sollten gemeinschaftlich an Konzepten arbeiten und versuchen, diese parteiübergreifend innerhalb unserer Gesellschaft zu besprechen, zu erörtern und politische Handlungsfolgen umsetzen.

Das wird nicht in Nordrhein-Westfalen gehen; das ist sicherlich ein Bundesthema. Aber wir können immerhin von Nordrhein-Westfalen aus entsprechende Initiativen starten. Sollte man sich darauf einigen können, die Piratenpartei wäre selbstverständlich sehr froh darüber.

Wir sollten uns der Verantwortung stellen und versuchen, die Herstellung, den Verkauf und den Konsum von Hanfprodukten aus der Kriminalitätsstatistik herauszubringen.

(Beifall von den PIRATEN)

Sie dürfen eines nicht vergessen: Gerade in Nordrhein-Westfalen gibt es sehr große Anbaugebiete für Hanf. Die Herstellung von Hanfprodukten ist selbstverständlich erlaubt, aber das Ziehen von Hanf bzw. von Cannabisprodukten zum Verzehr als Droge nicht – ganz zu schweigen von ihrem Einsatz für medizinische Verwendungszwecke.

Lassen Sie uns gemeinsam versuchen, bestimmte Kriminalitätsformen in diesem Bereich der weichen Drogen dem Jugendschutz und dem Verbraucherschutz zu unterwerfen. Lassen Sie uns in die Schulen und in die Begegnungsstätten gehen, um entsprechende Aufklärung herbeizuführen. Dann kommen wir sicherlich zu dem Punkt, an dem wir sagen können: Auch bei der Drogenkriminalität ist eine Verringerung der Zahlen in der Kriminalitätsstatistik zu verzeichnen. Das wäre außerordentlich wünschenswert. – Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Kollege Schulz. – Mir liegt noch eine Wortmeldung des Herrn Abgeordneten Stotko von der SPD-Fraktion vor.

Thomas Stotko (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Orth, genau das Bild, das Sie eben geprägt haben, ist das, was wir alle kritisieren: die Tatsache, dass effektheischend dargestellt wird, die Menschen trauten sich nicht aus dem Haus aus Angst davor, bei ihrer Rückkehr nicht mehr das vorzufinden, was in ihrem Haus war, als sie gegangen sind. Das Bild, das Sie damit produzieren, nehmen die Menschen mit.

(Zuruf von Dr. Robert Orth [FDP])

Das Bild passte, wenn es denn passt, aber auch schon in Ihrer Regierungszeit, Herr Dr. Orth; denn auch in dieser Zeit, 2005 bis 2010, hatten wir einen rasanten Anstieg der Zahl der Wohnungseinbrüche. Dem sind Sie nicht begegnet, außer dass Ihr Innenminister Sicherheitsfirmen besucht und bei den Bürgern für den Kauf deren Produkte geworben hat. Das war Ihre Strategie gegen Wohnungseinbrüche!

(Beifall von der SPD – Zuruf von Dr. Robert Orth [FDP])

Dann Ihre Geschichte mit Düsseldorf: Das tut einem, auch als Jurist, ein bisschen weh. Sie sagen, in Düsseldorf sei alles so schrecklich, es müsse etwas passieren. Ich will gar nicht die Frage aufgreifen, wer in Düsseldorf kommunalpolitisch das Sagen hat.

(Beifall von der SPD – Zuruf von Dr. Robert Orth [FDP])

Aber für Düsseldorf, Herr Dr. Orth, gab es das Angebot, ein „Haus des Jugendrechts“ zu schaffen, um die Jugendkriminalität zu verringern. Ihre CDU/FDP-Regierung in Düsseldorf will das nicht haben. Da wollen wir doch einmal ehrlich sein!

(Beifall von der SPD)

Sie verweigern sich in Düsseldorf einer Verringerung der Jugendkriminalität; einer Jugendkriminalität, die nachgewiesen ist!

Wenn Sie beide – CDU und FDP – hier so fröhlich behaupten, es seien die Ideen von Frau Müller-Piepenkötter gewesen, will ich an eines erinnern: Der „Staatsanwalt für den Ort“ ist eine Initiative, die in Aachen von den betroffenen Staatsanwälten ergriffen worden ist. Das war keine Idee der Ministerin. Für das „Haus des Jugendrechts“ in Köln gilt das Gleiche.

Später dann ist das umgesetzt worden. Und wir setzen es fort, weil es gut ist. Aber zu behaupten, es sei Ihre Idee gewesen oder auf Sie zurückzuführen, finde ich ein bisschen peinlich.

Etwas anderes, was für mich eine Rolle spielt, sind die Vergleiche, die hier gezogen werden. Sie werfen Äpfel und Birnen in einen Topf. Sie haben nur über die PKS – die Polizeiliche Kriminalstatistik –, aber nicht über die Strafverfolgungsstatistik diskutiert. Ihr Antrag ist aber ein anderer.

Warum haben Sie hier seit zehn Monaten nicht über die Kriminalstatistik diskutiert, wenn sie Ihnen so wichtig ist? Die Zahlen, die Sie hier anprangern, liegen seit März 2012 vor, und jetzt bedienen Sie sie für die Öffentlichkeit. Ich frage mich, warum.

Der Herr Minister hat es Ihnen ziemlich deutlich gesagt, aber ich werde es für Sie beide noch einmal ein bisschen klarer formulieren: Sie greifen die Wohnungseinbrüche heraus – und Sie noch dazu den Raub. Darauf könnten wir auch noch eingehen, was ich jetzt aber gar nicht mache.

Warum haben Sie nicht die Beförderungserschleichung herausgegriffen? Den größten Anstieg der Kriminalität in Nordrhein-Westfalen gab es mit 53,4 % bei der Beförderungserschleichung. Aber das interessiert zunächst einmal keinen; denn der Geschädigte ist der Verkehrsverbund. Ihrer Meinung nach sind das nicht die Bürgerinnen und Bürger.

Sie greifen sich das heraus, was Ihnen passt, vermischen es mit Ergebnissen aus der Strafverfolgungsstatistik, und machen einen Bohei darum. Ich finde das unangenehm; denn es entspricht nicht der Qualität, die das, was Sie machen, eigentlich haben könnte. Es wird Zeit, dass Sie in der Opposition ankommen. Das sage ich Ihnen ganz deutlich.

Dann die CDU: Herr Kollege Kruse, ich freue mich immer, wenn Sie fordern, da müsse jetzt etwas passieren; denn im Grundsatz haben wir die gleiche Idee. Aber ich habe Ihre Verlautbarungen zum Sparen gelesen. Danach will die CDU bei der Polizei 1.000 neue Verwaltungsmitarbeiter einstellen. Das macht 30 Millionen €. Woher kommen die 30 Millionen €? – Die 30 Millionen € kommen dadurch zustande, dass es weniger Polizisten gibt, oder nicht?

Sie beide, CDU und FDP, versuchen, den Eindruck zu erwecken, die Polizei in Nordrhein-Westfalen sei nicht gut genug aufgestellt. Sie haben dafür gerade ein Beispiel gebracht – ich finde es abstrus –: Sie behaupten, die Polizei würde dem Hinweis „Das, was mir gestohlen worden ist, ist bei ebay eingestellt“ nicht nachgehen, sondern würde sagen: Kümmere dich selbst darum, Bürger. – Geben Sie da mal Butter bei die Fische. Das können wir gerne für die nächste Ausschusssitzung aufnehmen. Tragen Sie vor, welcher Fall das war, dann mag die Polizei überprüfen, ob das so gewesen ist.

Das ist doch, wenn Sie das hier so erzählen, eine Witznummer. Seien wir einmal ganz ehrlich!

(Beifall von der SPD)

Das belegen Sie mal, anstelle einfach etwas in den Raum zu stellen! Her mit dem Namen, her mit dem Fall, dann wird das überprüft! Damit das gleich klar ist: Wenn das stimmt, hat sich die Polizei zu entschuldigen – das sage ich ganz deutlich –, wenn es nicht stimmt, haben Sie sich zu entschuldigen.

Sie beide, CDU und FDP, haben in der Zeit Ihrer Regierungsverantwortung, 2005 bis 2010, 2.000 Polizistinnen und Polizisten zu wenig eingestellt. Sie wussten, dass uns Leute fehlen, und haben Ihr 2005 gegebenes Versprechen, mehr Polizisten einzustellen, zu spät eingehalten, und die Zahl der Eingestellten war zu gering. Wir hätten heute 2.000 Kolleginnen und Kollegen mehr, die Wohnungseinbrüche aufklären könnten, wenn Sie einen Hintern in der Hose gehabt und dafür Geld in die Hand genommen hätten. Diese Regierung hat das getan und steht auch dazu.

(Beifall von der SPD)

10 Millionen € für das Projekt „Kurve kriegen“ – die Präventionsinitiative gegen Jugendkriminalität –, die „Riegel-vor“-Kampagne und im Übrigen auch die von Ihnen nicht geschätzte „Blitzmarathon“-Kam­pagne – die Unfallstatistik beweist, es funktioniert –: Das sind gute Sachen. „Weiter so“, sage ich immer nur. Damit können wir Kriminalität bekämpfen. Mit Ihren Halbwahrheiten wird das nicht funktionieren. – Danke schön.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Kollege Stotko. – Da mir keine weiteren Wortmeldungen vorliegen, schließe ich die Aktuelle Stunde.

Wir kommen zu:

2   Gesetz zur Förderung des Klimaschutzes in Nordrhein-Westfalen

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 16/127

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses
für Klimaschutz, Umwelt, Naturschutz,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz
Drucksache 16/1914

Entschließungsantrag
der Fraktion der SPD und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 16/1958 – Neudruck

zweite Lesung

In Verbindung mit:

Landesregierung muss eigenes Mittelstandsgesetz ernst nehmen – Beratung über Klimaschutzgesetz bis zur Befassung durch die „Clearingstelle Mittelstand“ aussetzen!

Antrag
der Fraktion der CDU
Drucksache 16/1909

Ich eröffne die Beratung und erteile als Erstes für die SPD-Fraktion dem Herrn Abgeordneten Meesters das Wort.

Norbert Meesters (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute werden wir im Landtag Nordrhein-Westfalen mit dem Beschließen des Klimaschutzgesetzes eine wichtige Entscheidung treffen, die in mehrfacher Hinsicht neue Chancen für unser Land eröffnet.

(Dietmar Brockes [FDP]: Neue Risiken!)

Wir beenden mit dieser Entscheidung einen langen Diskussionsprozess, der durch die vorgezogene Neuwahl unterbrochen wurde und für dessen Weiterführung wir durch die klare und eindeutige Entscheidung der Menschen in Nordrhein-Westfalen im Mai vergangenen Jahres einen neuen Auftrag bekommen haben. Die Menschen in Nordrhein-Westfalen wissen, welche Weichenstellungen vorgenommen werden müssen, damit dieses Land weiter seinen guten Weg in Richtung Klimaschutz geht und seine Industrie und seine Wirtschaft fit macht für die ökologischen Herausforderungen der Zukunft.

Im Gegensatz zu Ihnen, liebe rückwärtsgewandte Kolleginnen und Kollegen von CDU und FDP,

(Zurufe von der CDU und der FDP: Oh!)

nehmen wir diesen Auftrag der Menschen in Nordrhein-Westfalen ernst und setzen mit diesem Klimaschutzgesetz den Rahmen für eine neue ökologische industrielle Revolution in unserem Land, wie es unser Koalitionsvertrag richtig formuliert.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Lassen Sie mich auf die Chancen zu sprechen kommen, die uns diese wichtige politische Entscheidung eröffnet. Man muss dafür ein wenig in die Geschichte schauen; denn wir hatten in Nordrhein-Westfalen schon vor über 50 Jahren besondere umweltpolitische Herausforderungen zu meistern. Und wir haben sie gemeistert.

Ich erinnere noch einmal an das Wort vom „blauen Himmel über der Ruhr“, das Willy Brandt im Bundestagswahlkampf 1961 das erste Mal genannt hat und damit umweltpolitische Ziele formulierte, die von der damaligen Regierungspartei CDU auf das Heftigste verlacht wurden.

(Zuruf von der FDP: So viel zur Rückwärtsgewandtheit!)

Es brauchte seine Zeit, aber Umweltpolitik ist heute selbstverständlicher Teil staatlichen Handelns geworden, und das Thema ist längst in der Mitte der Bevölkerung angekommen, allerdings noch nicht in der Mitte aller Parteien hier im Landtag, habe ich den Eindruck.

(Beifall von der SPD)

Aber auch wenn der Himmel über der Ruhr mittlerweile wieder blau erscheint, so können wir nicht von einer heilen Welt sprechen. Heute ist die Realität eines drohenden Klimawandels in unser Bewusstsein gerückt. Heute müssen wir als Politik auf allen Ebenen Verantwortung zeigen und den globalen Veränderungen der klimatischen Verhältnisse begegnen. Die Folgen des Klimawandels kennen wir alle: den Anstieg der Durchschnittstemperaturen, die Zunahme wetterbedingter Schadensereignisse durch extreme Sommerhitze, orkanartige Herbststürme, Starkniederschläge mit der Folge von Hochwässern, die Veränderung der Lebensgrundlagen von Tieren und Pflanzen und somit die Bedrohung der biologischen Vielfalt. Die Aufzählung ist holzschnittartig und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, aber sie spricht für sich. Klar ist auch: Diese Ereignisse finden nicht – was übrigens für sich genommen schon schlimm genug wäre – irgendwo draußen in der Welt statt, sondern auch vor unserer eigenen Haustür. Wir selbst sind Betroffene.

Die volkswirtschaftlichen Kosten des Klimawandels betragen zusammengenommen nach einer Schätzung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung über 70 Milliarden €. Das reicht, um eines deutlich zu machen: Wir dürfen nicht länger nur reden, wir müssen handeln. Und wir in NRW handeln nun.

Und wem, verehrte Kolleginnen und Kollegen von CDU und FDP, zu dieser wichtigen Entscheidung nur die Plattitüde von der Deindustriealisierung Nordrhein-Westfalen einfällt,

(Zurufe von Dietmar Brockes [FDP])

der befindet sich in der Tat in einer intellektuellen Inversionslage, Herr Brockes, wie die CDU im Jahre 1961 und hat nicht viel von den Notwendigkeiten in unserem Land im Jahre 2013 begriffen.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Zuruf von Dietmar Brockes [FDP])

Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, es handelt sich hier eben nicht nur um einen Morgenthauplan, der NRW in einen Agrarstaat verwandeln will, sondern um einen Klimaschutz-Marshallplan für den Industrie- und Wirtschaftsstandort NRW, dem Energieland Nummer eins in Deutschland.

Die notwendige, von niemandem bestrittene Energiewende liefert uns noch mehr Argumente, warum wir heute dieses Gesetz beschließen wollen und müssen. Um diese Energiewende erfolgreich zu gestalten, braucht es auch die richtigen Entscheidungen auf Bundesebene: einen Masterplan, der diesen Namen verdient, um eine aufeinander abgestimmte Folge der notwendigen Maßnahmen für einen energiepolitisch praktikablen und vor allem sozialverträglichen Ausbau der erneuerbaren Energien zu erreichen.

Dies wird eine der wichtigsten Aufgaben der neuen Bundesregierung ab Herbst dieses Jahres sein. Rot-Grün kann das, und so auch auf Landesebene in Nordrhein-Westfalen. Wir setzen mit diesem Gesetz den Rahmen, damit das bundesweit anerkannte Klimaschutzziel Verringerung des CO2-Ausstoßes um 25 % bis 2020 und um 80 % bis 2050 auch erreicht werden kann. Wir nehmen das Thema ernst und sichern damit einen Standortvorteil für Nordrhein-Westfalen.

Wir berücksichtigen dabei die geltenden Regelungen des EU-Emissionshandelssystems.

(Heiterkeit von der FDP)

Lesen Sie unseren Entschließungsantrag, damit keine Märchen in die Welt gesetzt werden bezüglich der alles dominierenden Klimaschutzziele und Grundsätze im Klimaschutzplan, den wir noch erarbeiten. Selbstverständlich bleibt es im Rahmen der zukünftigen Aufstellung der Raumordnungspläne bei einer umfassenden Abwägung aller Belange, wie sie das Raumordnungsgesetz vorsieht. Die Erarbeitung des Klimaschutzplans läuft bereits in einem nie dagewesenen dialogorientierten Prozess unter Beteiligung der wesentlichen gesellschaftlichen Gruppen. Das hat Vorbildcharakter. Dieser Prozess soll auch bei der Umsetzung und Fortschreibung der Maßnahmen des Klimaschutzplans durch den jetzigen Koordinierungskreis fortgesetzt werden.

Ein weiterer wesentlicher Punkt ist die Beteiligung des Parlamentes bei der Erarbeitung und bei der Umsetzung des Klimaschutzplans. Mit dem vorliegenden Entschließungsantrag sichern wir die Beteiligung des nordrhein-westfälischen Landtags im weiteren Verfahren. Wir binden den Klimaschutzplan somit in den parlamentarischen Prozess ein.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU und FDP, sehr geehrte Damen und Herren, Nordrhein-Westfalen gibt heute ein starkes Signal für die Klimaschutzpolitik in Deutschland. Geben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU und FDP, auch ein Signal und verschließen Sie sich nicht der Wirklichkeit! Verschließen Sie sich nicht der Notwendigkeit zu handeln! Lösen Sie sich bitte von der Vorstellung, Opposition müsse immer dagegen sein! Ihr Verschiebungsantrag heute geht an der Sache vorbei. Unser Gesetz setzt von Anfang an auf Dialog und Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen. Davon sollten Sie sich nicht ausschließen.

Wir setzen heute ein starkes Signal. Wir treffen heute die richtige Entscheidung für Nordrhein-Westfalen mit dem Beschluss des Klimaschutzgesetzes. – Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Meesters. – Für die Fraktion der CDU spricht der Abgeordnete Deppe.

Rainer Deppe (CDU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Remmel, da Sie auch Verbraucherschutzminister sind, hätten Sie das Klimaschutzgesetz gar nicht erst zulassen dürfen; denn es ist ein klarer Fall von Etikettenschwindel. Im Gesetz steht nämlich nicht das drin, was draufsteht.

Die Mehrheit, die dieses Gesetz heute im Landtag verabschieden will, nimmt in Kauf, dass mit dem hochtrabenden Namen „Klimaschutzgesetz“ nichts erreicht wird. Es schützt nämlich nicht das Klima, nicht das Klima in Nordrhein-Westfalen und schon gar nicht das Klima in der Welt. Das ist das eindeutige Ergebnis von zwei großen Anhörungen; da sind sich Wirtschaft, Gewerkschaften, Kommunen, Landwirtschaft und Juristen vollkommen einig gewesen. Das aber haben die Landesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen bis heute ignoriert.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Was den Klimaschutz angeht, meine Damen und Herren, ist dieses Gesetz im besten Fall ein Nullsummenspiel. Europa hat sich auf einen marktwirtschaftlichen Weg zur CO2-Reduktion, nämlich das EU-Emissionshandelssystem, geeinigt.

Für Ihren dirigistischen und auf ein einziges Bundesland bezogenen Zwang zur CO2-Minderung ist daneben überhaupt kein Platz. Im günstigsten Fall werden bei uns CO2-Emissionen vermindert und in andere Länder in Deutschland oder in Europa verlagert. Für das Klima, meine Damen und Herren, spielt es nämlich keine Rolle, ob die CO2-Emissionen in Nordrhein-Westfalen, in Rheinland-Pfalz, in Brandenburg oder sogar in Frankreich oder in Polen in die Atmosphäre geraten.

Ich gehe noch einen Schritt weiter. Ich behaupte, Herr Remmel, dieses Gesetz schadet sogar dem Klimaschutz. Es ist gar ein Klimaschadensgesetz.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Wenn es in Kraft tritt, werden aus Nordrhein-Westfalen überproportional viele Emissionszertifikate auf den Markt kommen mit der Folge: Die Zertifikatspreise werden noch weiter sinken. Damit schwächt diese Landesregierung das europäische Emissionshandelssystem, anstatt es zu stärken.

(Beifall von der CDU)

Was wir brauchen, sind doch höhere und nicht niedrigere Zertifikatspreise. Nur wenn Verschmutzungsrechte teuer sind, entsteht ein Anreiz, in CO2-arme und nachhaltige Technologien zu investieren.

Statt die EU-Klimakommissarin Connie Hedegaard und Bundesumweltminister Peter Altmaier auf diesem Weg zu unterstützen, spielen Sie mit diesem Gesetz ausgerechnet jenen in die Hände, die die europaweite Verknappung der Emissionsrechte verhindern wollen.

Schon Ihr ausschließlich outputorientierter Ansatz ist falsch. Da sind sich die Experten bis hin zu den Gewerkschaften einig. Wenn wir in Nordrhein-Westfalen die Produktion von Leichtbaustahl für leichtere Autos, von treibstoffsparenden Reifen, von Dämmstoffen, von LED-Leuchten steigern, führt das bei Ihnen zu einer Verschlechterung des Klimaschutzes. Dabei sparen doch die innovativen Produkte durch ihre Verwendung viel mehr CO2 ein als deren Herstellung verursacht. Somit ist die Bilanz nicht so wie bei Ihnen negativ, sondern im Gegenteil positiv.

Wer das Klima tatsächlich schützen will, meine Damen und Herren, sollte sich schnell von Ihrer Quellenbilanz verabschieden und stattdessen auf eine positive Produktbilanz achten und den CO2-Footprint des Transportes nicht vergessen. Den haben Sie total ausgeblendet.

(Beifall von der CDU)

Dieses Gesetz schadet den Arbeitsplätzen in Nordrhein-Westfalen.

Der Vertreter des DGB Achim Vanselow hat es hier im Saal auf den Punkt gebracht. Ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten: Wir sehen die Arbeitsplatzeffekte in der nahen Zukunft, die mit diesem Prozess verbunden sind, doch mit einiger Sorge. – So Herr Vanselow. – „Auf der einen Seite verlieren wir gute Arbeitsplätze – ‚gut‘ heißt in diesem Fall:“ – immer noch Zitat – „sozialversicherungspflichtig, tarifgebunden, zu relativ guten, fairen Arbeitsbedingungen –, auf der anderen Seite wissen wir nicht genau, was wir dafür bekommen.“

Da, wo es nämlich dringend nötig wäre, die Energiewende in Nordrhein-Westfalen, die ja nun bekanntermaßen hier stockt, voranzubringen, hilft dieses Gesetz überhaupt nicht weiter.

Genauso wie wir sehen das übrigens auch die Gewerkschaften. Ich zitiere aus der Anhörung vom 25. Oktober 2012 Waldemar Bahr von der IG BCE zu der Frage, ob das Klimaschutzgesetz etwas für diese Bereiche bringt, die für die Energiewende wichtig sind, wie zum Beispiel Netzausbau: Da sagt das Klimaschutzgesetz erst einmal gar nichts und trägt nichts dazu bei.

Wenn Sie uns schon nicht glauben, liebe Kollegen der SPD, sollten Sie doch vielleicht wenigstens auf die Gewerkschaften hören. Aber offenbar sind Sie auf diesem Ohr inzwischen auch taub geworden.

(Zurufe von der SPD)

Herr Minister Remmel, Sie haben in der letzten Woche gesagt, es gehe um eine gesellschaftliche Leit­entscheidung für den Klimaschutz. Die Leitentscheidung ist in Deutschland längst gefallen. Wir können uns streiten, ob wir den Beitritt zum sogenannten Berliner Mandat 1995 oder das Kyoto-Protokoll 1997 oder die Ratifizierung 2002 als Datum für die Leitentscheidung in Deutschland nehmen. Die Frage ist vielleicht müßig. Die Tatsache ist aber, dass seit mehr als 15 Jahren der Klimaschutz in Deutschland politischer und gesellschaftlicher Konsens ist. Schon an diesen Daten kann jeder sehen, dass Klimaschutz, Herr Remmel, lange, lange vor Ihnen begonnen hat.

Die CDU hat hier wahrlich keinen Nachholbedarf. Wir wissen, dass die Umweltwirtschaft bereits die dynamischste Wachstumsbranche in Deutschland ist. Wohlverstandener, geschickt initiierter Klima- und Umweltschutz führt zu wirtschaftlichem Wachstum und großen Exporterfolgen. Dazu leistet Ihr Gesetz aber keinen einzigen Beitrag.

Deutschland hat seine Verpflichtungen aus dem Kyoto-Protokoll eingehalten. Mit diesem Gesetz, Herr Remmel, das Sie heute hier verabschieden lassen wollen, wird es keinen Tag schneller gehen.

Vor einigen Wochen, am 28.11.2012, haben wir über die von Ihnen immer noch zurückgehaltene Prognos-Studie debattiert. Mittlerweile sind aber Einzelheiten über die Medien in die Öffentlichkeit gelangt. Nehmen Sie sich diese Studie doch zu Herzen. Dort steht mit entwaffnender Eindeutigkeit: Wenn Sie die Klimapolitik der Bundesregierung hier in Nordrhein-Westfalen nur umsetzen würden, würden Sie die Klimaziele erreichen und würden nicht die Wirtschaft hier schädigen.

(Beifall von der CDU)

Der DGB-Vertreter in der Anhörung hatte doch recht, als er seinen Landesbezirksleiter zitierte: Wir brauchen eigentlich kein Klimaschutzgesetz. – Recht hat er.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Dieses Gesetz, meine Damen und Herren, schützt nicht das Klima. Aber es gefährdet die Arbeitsplätze in Nordrhein-Westfalen. Nur wem das gleichgültig ist, der wird heute diesem Gesetz zustimmen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Deppe. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Frau Abgeordnete Brems.

Wibke Brems (GRÜNE): „Selbst der Kleinste vermag den Lauf des Schicksals zu verändern.“ – Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Obwohl dieses Zitat aus einem Roman stammt, ist dessen Inhalt doch absolut wahr. Denn die Gefährten aus Tolkiens „Herr der Ringe“ haben genau das gezeigt: Es bedarf eines Mutigen, der sich traut, voranzugehen. Aber um alle Hürden zu überwinden und Angriffe von allen Seiten zu überstehen, sind Gefährten nötig. Dann ist es machbar, die Welt vor Schlimmem zu bewahren.

Und auch der Klimaschutz braucht Mutige, die vorangehen. Klar ist: Alleine retten wir, das Land Nordrhein-Westfalen, das Klima sicherlich nicht. Aber auch als kleiner Teil dieser Welt können wir dessen Schicksal ändern. Denn ohne Nordrhein-Westfalen sind die Ziele dieser Bundesregierung niemals zu erreichen. Und erreicht Deutschland die Ziele nicht, dann sind auch die Ziele der EU absolute Makulatur, und das hätte negative Auswirkungen auf alle internationalen Bemühungen zum Schutz des Klimas.

(Beifall von den GRÜNEN)

Das Klimaschutzgesetz Nordrhein-Westfalen will nicht nur das Klima schützen. Vielmehr wollen wir Nordrhein-Westfalen auch den Klimaveränderungen anpassen. Denn eines ist ganz klar: Auch in den letzten 60 Jahren gab es schon Klimaveränderungen hier bei uns. Vegetationszeiten haben sich verändert, Jahreszeiten verlagern sich, der Herbst wird länger, der Winter wird kürzer.

Dann fragt man sich: Ist das Ganze denn wirklich dramatisch? – Die Landwirtschaft merkt es schon, und auch in Zukunft wird es weitere Veränderungen geben. Projektionen des Landesumweltamts für die Periode zwischen 2031 und 2060 sagen ganz klar einen Anstieg der durchschnittlichen Temperatur und Niederschlagsmengen um ca. 5 % voraus – eher im Winter als im Sommer –, und das hier vor Ort in Nordrhein-Westfalen. Das Ganze kann – Herr Meesters hat es eben schon ausgeführt – zu Zunahmen von Wetterextremen wie starken Gewittern und Hitzewellen führen.

Das sind Auswirkungen, die hinterher nicht nur die Landwirtschaft bemerkt. Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln hat in einer aktuellen Erhebung festgestellt, dass für 2030 43 % der deutschen Unternehmen negative Auswirkungen auf ihr Unternehmen durch den Klimawandel erwarten.

Wir wollen mit dem Klimaschutzgesetz Nordrhein-Westfalen Bürgerinnen, Industrie und Verbände im Klimaschutzplan mitnehmen. Der Prozess wurde – bisher einmalig – so im Februar 2012 gestartet. Die Unterlagen sind für alle transparent erhältlich. Es wird wissenschaftlich begleitet und in einer breiten Beteiligung in den nächsten Monaten weiter erarbeitet.

Mit dem Klimaschutzgesetz Nordrhein-Westfalen wollen wir vorangehen und unsere Industrie in Nordrhein-Westfalen fitmachen. Klar ist: Stahl und Kohle haben NRW groß gemacht, aber neue Technologien werden NRW groß halten.

Auch wenn Teile der Opposition und Teile der Wirtschaft es selbst noch nicht glauben: In der Welt gibt es ebenfalls Veränderungen. Der aktuelle, wiedergewählte Präsident der USA, Obama, hat bei seiner Einführung in seine zweite und damit letzte Amtszeit – das bedeutet, dass er offener über alles reden kann – gesagt:

„Wir, das Volk, glauben immer noch, dass unsere Verantwortung als Amerikaner nicht nur gegenüber uns selbst gilt, sondern gegenüber allen unseren Nachkommen. Wir werden auf die Bedrohung des Klimawandels reagieren. Denn wir wissen, dass wir, wenn wir dies unterlassen würden, unsere Kinder und zukünftigen Generationen verraten würden.“

Weiter geht er in einer zuvor nie gekannten Deutlichkeit vor:

„Wir können die Technologie, die neue Jobs und neue Industrie schafft, nicht anderen Ländern überlassen. Wir müssen sie für uns beanspruchen. So werden wir unsere Wirtschaftskraft erhalten.“

Wenn Herr Obama das für die USA so sagt und erkennt, dann sollten auch Sie das endlich für Nordrhein-Westfalen und für unsere Region erkennen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Wir wollen mit dem Klimaschutzgesetz Nordrhein-Westfalen auch für die Landesregierung mit einem guten Beispiel vorangehen. Denn sie setzt sich hier das Ziel der CO2-Neutralität bis zum Jahr 2030. Das bedeutet große Anstrengungen und große Veränderungen im Bereich der Gebäude bei Neuanschaffung, aber eventuell auch irgendwann beim Verhalten.

Zu guter Letzt will das Klimaschutzgesetz Kommunen unterstützen. Denn in den Kommunen finden die Klimaveränderungen, aber auch Projekte statt. Kommunen wie Saerbeck und Bocholt werden zu „NRW-Klimakommunen“. In Kommunen werden Projekte wie der „Bürgerwindpark Hilchenbach“ und „InnovationCity Ruhr – Modellstadt Bottrop“, die Initiative „Bergisch energisch!“, die Klimasiedlung in Bielefeld und das „ENERGETICON“ im Aachener Raum umgesetzt.

Gerne komme ich zu zwei zentralen Fragen zurück: Ist das Klimaschutzgesetz das richtige Instrument, um das Klima zu schützen?

(Lutz Lienenkämper [CDU]: Nein!)

Reichen die Ziele des Klimaschutzgesetzes?

(Zurufe von der CDU: Nein!)

Ich mache einmal einen Vergleich. Wenn Sie in einem Auto säßen und mit Karacho auf eine Wand zufahren würden, würden Sie dann diese Fragen genauso stellen?

(Lutz Lienenkämper [CDU]: So blöd sind wir gar nicht erst!)

Ist das Auf-die-Bremse-Treten genau das richtige Instrument? Würden Sie sich dann noch fragen, ob Sie rechtzeitig vor der Wand zum Stehen kämen? – Das würden Sie nicht tun. Wir sollten endlich anfangen zu bremsen. Wir sollten endlich anfangen, das Klima zu schützen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Liebe CDU, liebe FDP, Sie sollten endlich aufhören, Klimaschutz-Mikado zu spielen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Frau Kollegin Brems. – Für die FDP-Landtags­fraktion spricht der Abgeordnete Höne.

Henning Höne (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Bevor ich zum Klimaschutzgesetz selber komme, möchte ich zwei kurze Anmerkungen machen.

Es ist nicht so, dass wir hier in diesem Hause letztverbindlich über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes entscheiden. Allerdings: Wenn bei einer Anhörung die Experten, die von SPD und Grünen eingeladen wurden, die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, eben dieses Gesetzes, bezweifeln, dann sollte das den Koalitionsfraktionen eigentlich zu denken geben. Schade, dass Sie bei diesem Gesetz so beratungsresistent sind.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Zweiter Punkt. Ich möchte kurz auf das praktische Handeln der Koalitionsfraktionen eingehen, gerade bei diesem Gesetzentwurf. Angeblich wollen Sie doch den kooperativen Stil aus der Zeit der Minderheitsregierung soweit wie möglich aufrechterhalten. Ein Durchregieren würde es mit Ihnen nicht geben, ist zu hören. Aber ich sage Ihnen: kurzfristige Anhörungen, kurzfristige Änderungsanträge – all das widerspricht diesem Anspruch in der Praxis. Ich frage mich: Wovor genau haben Sie eigentlich Angst?

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Gesetz wird der Umwelt nicht helfen. Es wird nicht helfen, weil Verschmutzungen nicht an den Grenzen Nordrhein-Westfalens oder an anderen politischen Grenzen Halt machen. Jede CO2-Einsparung in Nordrhein-Westfalen wird aufgrund des EU-Emissionshandels europaweit verrechnet. Im Ergebnis wird dieses Klimaschutzgesetz dazu führen, dass mehr Zertifikate zu günstigeren Preisen gehandelt werden. Es führt zum Gegenteil des gewünschten Effekts, wenn anderswo in Europa die Dreckschleudern mit günstigen Zertifikaten ein paar Jahre länger laufen können. Denken Sie zum Beispiel an die Kohleverstromung in Polen.

Vielmehr müsste doch Verschmutzung, müsste Emission teurer werden, um Anreize für Einsparungen und Innovationen zu bieten. Das Klimaschutzgesetz wird also das Klima nicht schützen. Dieses Klimaschutzgesetz wird klimapolitisch unwirksam sein. Und dieses Klimaschutzgesetz wird – das hat bereits der Kollege Deppe gesagt – dem eigenen Namen nicht gerecht. Es ist nicht drin, was drauf steht. Alleine deswegen, Herr Remmel, sollten Sie als Verbraucherschutzminister diesen Gesetzentwurf nicht weiter tragen.

Ein weiteres Problem dieses Gesetzentwurfs ist – das ist eben bereits angeklungen –, dass die CO2-Bilanzen quellenbezogen erstellt werden. Darüber haben wir bereits diskutiert. Sie betrachten Emissionen immer nur bezogen auf den Produktionsprozess vor Ort. Mit dieser Betrachtung, mit der quellenbezogenen CO2-Bilanzierung, nehmen Sie eine einseitige und zu kurz gegriffene Perspektive ein. Richtig wäre eine produktbezogene Bilanzierung der Emissionen. Wenn zum Beispiel Dämmstoffe produziert werden, wenn energiesparende Reifen entwickelt und produziert werden, wenn Materialien für den Bau von Windkraftanlagen produziert werden, dann entstehen Produkte, die einen ressourcenschonenden Umgang mit der Umwelt fördern. Ich frage mich: Warum lassen Sie diesen Aspekt so konsequent außen vor? Warum ignorieren Sie das einfach?

Frau Kollegin Brems, Sie haben ja schon etwas leiser hier im Plenum gesprochen und eingestanden, dass es eigentlich schöner wäre, produktbezogen zu bilanzieren. Sie haben uns auch im Ausschuss vorgeworfen, weil wir genau diesen Aspekt kritisieren, wir würden lieber nichts tun. Das ist falsch! Wir wollen durchaus etwas tun! Der Unterschied ist aber, wir wollen nicht mit Ihnen in die falsche Richtung gehen. Um in Ihrem Bild zu bleiben: Wir wollen durchaus bremsen, wir wollen aber nicht das Lenkrad panisch herumreißen und versuchen, das Auto so zum Stehen zu bringen.

(Beifall von der FDP)

Ich komme zum Klimaschutzplan. In der letzten Ausschusssitzung habe ich kritisiert, dass die Erarbeitung des Plans unserer Meinung nach zu intransparent ist. Beispielsweise scheint es keine festen Kriterien zur Einladung in die Arbeitsgruppen zu geben. Herr Minister Remmel, Sie haben in einer der letzten Debatten zu diesem Thema hier im Plenum erklärt, bei Anfragen von neuen Interessenten hätten Sie sich – ich zitiere – bemüht, diese aufzunehmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Personaler wissen, was „stets bemüht“ wirklich bedeutet. Ich glaube, mit „stets bemüht“ können weder der Klimaschutz noch die Energiewende gelingen.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Darüber hinaus habe ich kritisiert, dass das Parlament zu lange außen vor bleibt. Zum Klimaschutzplan nur Ja oder Nein sagen zu können, das reicht uns jedenfalls nicht. Herr Minister Remmel, Sie haben sich daraufhin echauffiert und gesagt, mein Redebeitrag sei eine Unverschämtheit, sie würden alle einbeziehen. Gestern kam nun der Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen. Gestern, Herr Meesters, und nicht von vorneherein!

Darin wird gefordert, den Landtag regelmäßig zu unterrichten. Es ist schon einmal ein Fortschritt, dass das Ganze zurück in die Legislative, ins Parlament gespiegelt werden soll. Auf Seite 2 dieses Entschließungsantrags fordern Sie ferner, dass der Landtag ein Gremium schafft, das die Erarbeitung und die Umsetzung der Klimaschutzpläne begleitet. Erarbeitung und Umsetzung! Donnerwetter, habe ich gedacht, so unverschämt kann also meine Kritik in der letzten Ausschusssitzung nicht gewesen sein. Ihr Schuldeingeständnis hat einen Namen, es trägt die Drucksachennummer 16/1958.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Dieses Gremium, dessen Einrichtung Sie auf Seite 2 fordern, findet sich zwar nicht in den konkreten Aufforderungen am Ende des Antrags wieder, aber – das will ich eingestehen – das Parlament soll irgendwie ein bisschen mehr einbezogen werden. Als Westfale sage ich dazu: Das ist zumindest nicht ganz schlecht.

(Jochen Ott [SPD]: Was heißt „ein bisschen mehr“?)

Warum dieser Antrag? Warum diese Änderungen? – Vielleicht, liebe Kolleginnen und Kollegen gerade der SPD, vielleicht, lieber Herr Meesters, haben Sie gemerkt, dass die Grünen sehr gelassen auf die jüngsten Äußerungen zur Zukunftsfähigkeit von Kohlekraftwerken reagiert haben, die ja von der SPD kamen. Die können ganz gelassen reagieren und sich zurücklehnen, weil sie ganz genau wissen: Mit einem Klimaschutzplan, mit einem Klimaschutzgesetz aus dem Hause Remmel wird es solche Kraftwerke sowieso nicht geben. Diese Projekte werden von Anfang an auf das Abstellgleis gestellt.

(Thomas Eiskirch [SPD]: Das ist Quatsch!)

Was ist zu tun? – Der europäische Emissionshandel ist zu stärken. Die Ziele müssen international festgelegt werden. Das Handelssystem kann um weitere Staaten und um weitere Sektoren erweitert werden. Dann gibt es marktwirtschaftliche Anreize für mehr Klimaschutz und für mehr Innovationen. Ihre Verbote, Ihr Dirigismus führt lediglich zu Verlagerungen. Und wir müssen die Forschung stärken, zum Beispiel bei der angesprochenen produktbezogenen Bilanzierung. Wir müssen Wirtschaft und Wissenschaft stärker vernetzen. Hier liegt Potenzial. Darauf hat unter anderem auch der DGB in der Anhörung hingewiesen. Er hat deutlich gemacht, dass bei der aktuellen Fassung des Gesetzes vor allem eines passiert: Es werden Chancen vertan.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die FDP-Fraktion wird diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Höne. – Für die Fraktion der Piraten spricht Herr Abgeordneter Rohwedder.

Hanns-Jörg Rohwedder (PIRATEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer auf den Tribünen und draußen im Stream! Wie wir schon in der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfes angekündigt haben und es auch in den Ausschusssitzungen gehalten haben, werden wir diesem Klimaschutzgesetzentwurf zustimmen.

Die Gründe dafür sind vielfältig und wurden bereits häufig genannt: Der Klimawandel findet bereits statt. Er ist unbestreitbar. Die Schnelligkeit dieses Klimawandels ist unerhört. Das heißt, dass die Natur, die ja eigentlich an Klimawandel gewöhnt ist und sich anpassen kann, überfordert ist. Die Schnelligkeit überfordert besonders die immobilen Arten und bringt dadurch die Biodiversität insgesamt in Gefahr. Mir liegt eine neue Studie vom Biodiversitäts- und Klimaforschungszentrum vor, wonach jetzt auch die genetische Vielfalt innerhalb einzelner Arten in Gefahr ist, weil zu viele Exemplare sterben. Diese Vielfalt im Erbgut ist aber die Grundlage für zukünftige Evolution. Umso wichtiger ist schnelles Handeln.

Wir finden dieses Gesetz unzulänglich, weil es nur die öffentliche Hand betrifft. Es ist aber immerhin ein erster Schritt. Das Ganze ist kein Marshallplan – leider nicht. Die Bezeichnung „Marshallplan“ wäre einige Potenzen zu hoch gegriffen.

Genauso wenig schafft es die neuen Arbeitsplätze, die wir brauchen. Wir machen einen Strukturwandel durch. Dieser ist unvermeidbar. Es wird auch in der Industrie die Zahl der Arbeitsplätze, wie von CDU und FDP befürchtet, nicht zurückgehen. Das Regierungshandeln ist insgesamt inkonsistent.

Frau Brems hat von tapferen Gefährten gesprochen. Frau Brems, waren Sie in Hambach bei den Waldbesetzern? Da finden Sie solche tapferen Gefährten. Wissen Sie, wie die von der Polizei schikaniert werden, und zwar immer noch? Haben Sie sich da mal sehen lassen?

In Hambach soll der Wald weiter gerodet werden. Das Verwaltungsgericht Aachen hat das zum Glück gestoppt – dank NGOs wie BUND und NABU, die dort das Verbandsklagerecht nutzen, um gegen rechtswidrige Bescheide zu klagen, und zwar mit Erfolg.

Auch die Neueröffnung von Braunkohlekraftwerken in diesem Gebiet ist inkonsistent und steht im Widerspruch zu den Intentionen des Klimaschutzgesetzes. Das ist unambitioniert.

(Beifall von den PIRATEN)

Nichtsdestotrotz ist es ein kleiner, zaghafter Schritt in die richtige Richtung. Wir werden das, wie gesagt, unterstützen.

Die CDU hat einen Entschließungsantrag vorgelegt, der rein taktische Prämissen hat. Er soll einfach nur die Abstimmung vertagen und verzögern – eine kontraproduktive Verzögerungstaktik und Fundamentalopposition.

Das Mittelstandsförderungsgesetz, auf das Sie sich hier berufen, lehnen wir Piraten in seiner jetzigen Form ohnehin ab. Der CDU-Antrag wird auch keine neuen Erkenntnisse bringen können. Die wirtschaftspolitischen Auswirkungen des Klimaschutzgesetzes wurden in der öffentlichen Sachverständigenanhörung bereits erörtert. Da besteht im Moment kein weiterer Bedarf.

Es gibt keine Sitzung in irgendeinem Ausschuss ohne Ihre immer gleichen Vorbehalte gegenüber dem Klimaschutzgesetz. Die Einwände, die Sie vortragen, und Ihre Begründungen sind unzutreffend und sattsam bekannt.

Eine erneute Verbändebefragung, die sogenannte Mittelstandsverträglichkeitsprüfung, soll das Klimaschutzgesetz einfach nur verzögern. Dieses Manöver ist durchsichtig. Da machen wir nicht mit.

Dieses Land braucht zügig ein Klimaschutzgesetz und den damit verbundenen Klimaschutzplan. Weil dieser Klimaschutzplan im Entschließungsantrag von SPD und Grünen erwähnt wird, werden wir diesem Entschließungsantrag der regierungstragenden Fraktionen zustimmen. – Vielen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Rohwedder. – Für die Landesregierung spricht Herr Minister Remmel.

Johannes Remmel, Minister für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Sommer 2011 wurde es auf den Weg gebracht, dann durch die Landtagswahlen in die Warteschleife geschickt, aber gründlich beraten und breit diskutiert. Jetzt ist es so weit: Das bundesweit erste Klimaschutzgesetz steht heute zur Beschlussfassung an.

Zunächst einmal danke ich Ihnen, den Kolleginnen und Kollegen im Landtag, für die gute Beratung – im Übrigen auch der Opposition, denn auch harte Kritik kann dazu beitragen, Argumente zu schärfen und Besseres zu entwickeln. Ich danke aber auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Landesregierung, meines Hauses, den Vertretern der Verbände sowie den Expertinnen und Experten. Alle haben daran mitgewirkt. Alle haben dafür gesorgt, dass wir nun ein solides, anspruchsvolles, wegweisendes Gesetz zur Förderung des Klimaschutzes hier in Nordrhein-Westfalen auf den Tisch legen.

(Vorsitz: Vizepräsident Oliver Keymis)

Ich bin davon überzeugt, dass dieses Gesetz in anderen Ländern und im Bund zur Blaupause werden kann und wird. Ich fordere geradezu – das ist nicht oft der Fall; hier ist es aber so – zu „Copy and Paste“ auf. Es dient der Sache. Hier geht es schließlich darum, ernst zu machen mit der Jahrhundertherausforderung des Klimawandels, ernst zu machen mit der Jahrhundertchance des Klimaschutzes. NRW hat die große Chance, hier zum Vorreiter zu werden.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Bei aller Freude über das Erreichte wissen wir aber ganz genau: Wir stehen erst am Anfang. Das Gesetz als solches schützt das Klima ja noch nicht, sondern es schafft den Rahmen. Der Rahmen ist größer, als mancher meint.

Es geht um den Ausbau der Erneuerbaren, es geht um Effizienzsteigerung, es geht um Einsparung. Das sind die großen Drei bei Strom und Wärme.

Klimaschutz und Energiewende sind aber mehr als das. Es geht auch darum, den Ressourcenverbrauch zu begrenzen und weg von der Verschwendung hin zu einer wirklichen Kreislaufwirtschaft zu kommen.

Es geht darum, alle Bereiche von Konsum und Lebensstil zu erreichen und zu einem nachhaltigen Konsum zu kommen; Stichwort: Klimaschutz auch beim Einkauf.

Es geht um die Mobilität – nicht darum, den Verkehr nur anders zu gestalten oder zu optimieren, sondern darum, neue Mobilität zu organisieren.

Es geht um Bauen und Stadtentwicklung. Unsere Häuser und Städte bieten enorme Klimaschutzpotenziale. Genau die wollen wir aktivieren.

Es geht ferner um unsere Ernährung und die Landwirtschaft. Ökologisch und regional schmeckt nicht nur besser, sondern schont auch das Klima.

Es geht insbesondere auch um Wirtschaft und Industrie. Manchen Vorbehalt, den ich da lese, verstehe ich nicht. Das korrespondiert überhaupt nicht mit den Erfahrungen, die ich mache, wenn ich mit vielen Unternehmen spreche. Ich habe manchmal den Eindruck, dass die Unternehmer und Unternehmerinnen in unserem Land weiter sind als die Verbandsvertreter, mit denen wir oft sprechen.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

In vielen Unternehmen gibt es nämlich – genauso wie in Kommunen – bereits Nachhaltigkeitskonzepte und Firmenstrategien, mit denen man sich auf genau diesen Weg macht. Sie sehen das auch als ökonomische Chance für sich.

Im Übrigen braucht sich die produzierende Wirtschaft in Nordrhein-Westfalen beileibe nicht zu verstecken. In diesem Bereich wurde nämlich seit 1990 am meisten CO2 eingespart, und zwar über 40 %. Hier sind also schon große Potenziale erschlossen. Zukünftig besteht die Möglichkeit, Weiteres zu tun und damit auch ökonomische Chancen für Nordrhein-Westfalen wahrzunehmen.

Herr Laschet ist heute leider nicht da. Er betont in seinen Reden immer wieder, dass es neben dem ökologischen Imperativ auch einen ökonomischen Imperativ gibt. Das ist doch keine Neuentdeckung; das sind Schlachten von gestern. Heute gehört beides zusammen, meine sehr verehrten Damen und Herren. Unzertrennlich gehören Ökonomie und Ökologie zusammen. Es ist doch nicht der Umweltminister in Nordrhein-Westfalen, der davon spricht, dass wir so etwas wie ein grünes Wirtschaftswunder vor uns haben. Es ist der Bundesumweltminister, der das proklamiert.

Wenn wir die vielen Institute, wenn wir die vielen Zahlen der Prognosen nehmen, dann wird deutlich, dass das die Zukunftsbranche ist, die Wachstum und Arbeitsplätze in der Zukunft verspricht. Das in Einklang zu bringen ist unsere Aufgabe und findet statt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich kann an Sie nur appellieren: Verbeißen Sie sich hier nicht in der Vergangenheit, sondern gewinnen Sie mit uns gemeinsam die Zukunft! Denn das Klimaschutzgesetz ist auch ein Mittelstandsförderungsgesetz.

(Zurufe von der CDU und der FDP – Dietmar Brockes [FDP]: Fragen Sie mal die Wirtschaft!)

Fragen Sie doch nach, beispielsweise bei den Installationsbetrieben! Fragen Sie doch bei den Anlagen- und Maschinenbauern nach, womit sie ihr Geld verdienen! Fragen Sie doch bei den Fensterbauerinnen und Fensterbauern nach! Fragen Sie in den Schreinereien! Fragen Sie bei den Dachdeckern nach! Da finden Energiewende und Klimaschutz bereits heute statt. Da wird Geld verdient, bereits heute, liebe Kolleginnen und Kollegen!

(Beifall von den GRÜNEN – Zurufe von der FDP)

Oder kommen Sie mit mir zur metallverarbeitenden Industrie. Mittlerweile wird für die Windenergie mehr Eisen und Stahl verbaut als für die Autoindustrie.

(Thomas Kufen [CDU]: Quatsch!)

Oder fragen Sie nach bei kleinen und mittleren chemischen Unternehmen. Hier entstehen die neuen Werkstoffe der Zukunft.

(Dietmar Brockes [FDP]: Auch ohne dieses Gesetz!)

Das ist die Zukunft für Nordrhein-Westfalen. Das ist die Industrie, die in Nordrhein-Westfalen nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung ist.

(Beifall von den GRÜNEN)

Ich könnte so weitermachen – beispielsweise damit, dass in unseren Kommunen mittlerweile eine 10-Milliarden-Wertschöpfung mit der Umweltwirtschaft, mit neuen Energien stattfindet.

(Dietmar Brockes [FDP]: Auch ohne dieses Gesetz!)

Und das wollen wir stärken und weiterentwickeln. Genau darum geht es.

Unterm Strich: Klimaschutz ist Wirtschaftsförderung, Klimaschutz ist Mittelstandsförderung par ex­cel­lence. Wir haben hier die Chance, gemeinsam nach vorne zu gehen. Ja, Leitentscheidung ist gut und schön, aber um Leitentscheidungen muss man auch gesellschaftlich ringen. Und das ist der Auftrag des Klimaschutzgesetzes – nicht allein ein Gesetz zu beschließen, sondern auch in die gesellschaftliche Diskussion zu gehen, den Dialog zu suchen, transparent zu sein, alle mitzunehmen. Es müssen nämlich alle mitmachen; denn nur als Gemeinschaftswerk kann das Ganze gelingen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU: Kommen Sie aus Ihrer Schmollecke! Machen Sie mit! Helfen Sie mit, dass das Industrieland, das Energieland Nummer eins auch das Klimaschutzland Nummer eins in Deutschland wird!

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein Wort noch zum Emissionshandel – ich habe das schon einmal gesagt –: Emissionshandel ist gut und schön. Zurzeit müssen wir allerdings feststellen, dass er wirkungslos ist. Mit 7 oder 8 € je Tonne ist das nicht wirklich gestaltend.

(Thomas Kufen [CDU]: Das wird durch das Gesetz auch nicht besser!)

Der Emissionshandel ist auf den Weg gekommen, als man von einem dauerhaften europäischen Wachstum ausging. Das waren falsche Grundlagen. Deshalb muss man die Grundlagen verändern. Im Übrigen erfasst der Emissionshandel nur einen Teil der Bereiche, die für den Klimaschutz relevant sind.

(Dietmar Brockes [FDP]: Zwei Drittel!)

Ja, lassen Sie uns daran arbeiten, sehr geehrter Herr Brockes. Dann müssen Sie aber Ihren Wirtschaftsminister in Berlin überzeugen, dass wir zusammen in Brüssel aufschlagen. Da wird nämlich innerhalb der Bundesregierung blockiert.

(Beifall von den GRÜNEN)

Was kommt jetzt? Das Gesetz ist ein Rahmen. Jetzt fängt die Arbeit an. Jetzt geht es nicht mehr darum, den Klimaschutz nur mit Worten zu unterstützen, sondern jetzt müssen Taten folgen, viele kleine Taten von Städten, Gemeinden, Unternehmen, Genossenschaften – eben Klimaschutz konkret, Klimaschutz zum Anfassen. Wir setzen hier auf die Potenziale von unten.

Natürlich brauchen wir weltweit nach wie vor eine Verständigung. Daran müssen wir arbeiten. Aber wir sehen, dass Regionen, Städte, Gemeinden, Unternehmen vorangehen. Jetzt geht Nordrhein-West­falen noch ein stärkeres Stück mit voran. Deshalb Klimaschutzplan, deshalb Dialog, deshalb auch Verlässlichkeit und Transparenz! Deshalb auch Dank für den Entschließungsantrag von SPD und Grünen, der ja zum Ziel hat, einen solchen dialogischen Prozess mit den Akteuren dauerhaft zu halten und weiterzuführen. Das ist gut und richtig.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Helmut Schmidt hat gesagt: Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen. – Ich meine, wer heute Visionen hat, der soll in Wissenschaft und Forschung gehen, der soll in die Wirtschaft gehen, und der soll auch in die Politik gehen.

Vielleicht erinnern Sie sich noch an Konrad Adenauers Slogan: „Keine Experimente!“ Auch das taugt heute nicht. Ich meine, wir brauchen genau das: Experimentiererinnen und Experimentierer, Erfinderinnen und Erfinder, Pioniere eines neuen Klimaschutz- und Energiezeitalters. Das ist das, was dieses Land braucht. Daran müssen wir arbeiten. Ich hoffe dabei auf Ihre Unterstützung. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister Remmel. – Nun spricht für die CDU-Fraktion Herr Kollege Wüst.

Hendrik Wüst (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Remmel, Ihr Rauchverbot für Schlote ist keine Hilfe fürs Weltklima, bestenfalls eine Hilfe für Ihr Koalitionsklima. Wenn man sich den müden Applaus der wenigen applaudierenden SPD-Kollegen angeschaut hat, weiß man, dass es hier um nichts anderes geht als um ein Prestigeobjekt für den kleinen Koalitionspartner.

(Beifall von der CDU und der FDP)

All das, was Sie zum Mittelstand geschrieben und gesagt haben, wem der Klimawandel hilft, ist gut und richtig. Ich habe gerade einen Hausbau abgeschlossen, KfW 70 – die hatten alle Spaß. Das hat aber alles ohne Ihr Klimaschutzgesetz funktioniert, Herr Remmel. Deswegen sollten Sie sich hier nicht Dinge auf die Fahne schreiben, für die Sie keine Verantwortung haben.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Das Klimaschutzgesetz ist untauglich, kontraproduktiv und unnötig. Zugestanden, die Regierungsplanung an diesem Punkt ist clever: Erst kommen all die wirtschaftsfeindlichen Dinge wie das Tariftreue- und Vergabegesetz, das Rauchverbot für Schlote, das Rauchverbot in der Gastronomie, die flächendeckende Gewerbesteuererhöhung über das Gemeindefinanzierungsgesetz, und wenn Sie all diese kleinen „Sauereien“ – mit Verlaub – gemacht haben, dann kommt am Ende ein Mittelstandsgesetz mit einer Clearingstelle, die alle zukünftigen, aber eben leider nur die zukünftigen Gesetze einem Mittelstandscheck unterwerfen soll.

Deswegen fordere ich Sie auf: Legen Sie dieses Klimaschutzgesetz der Clearingstelle vor! Vertagen Sie dieses Klimaschutzgesetz hinter den Beschluss des Mittelstandsgesetzes! Wenn es stimmt, was Sie immer sagen, nämlich dass alles mittelstandsfreundlich ist, dann bräuchten Sie keine Angst davor zu haben. Wenn Ihnen Ihre Clearingstelle das Mittelstandssiegel für das Gesetz geben würde, dann könnten Sie die Opposition veritabel blamieren.

(Zuruf von der SPD: Das macht ihr schon selber!)

Legen Sie also den Hebel um: Schieben Sie das Gesetz heute und lassen den im Mittelstandsgesetz implementierten Prozess der Clearingstelle wirken. Ich glaube, Sie tun das ganz bewusst nicht, weil Sie wissen, dass Sie dann Schwierigkeiten bekämen.

Diesem grünen Prestigeobjekt ordnet die Koalition alle anderen Dinge unter, Kollateralschäden inklusive. Das ganze Land wartet auf planungsrechtliche Startsignale für den Ausbau der Windkraft, Herr Remmel, selbst die LEP-Novelle muss warten, bis der Klimaschutzplan, bis das Klimaschutzgesetz beschlossen ist. Dabei wäre das schnelle Lösen der Bremsen beim Ausbau der Windkraft ein wirklicher, ein ehrlicher Beitrag zum Klimawandel.

(Beifall von der CDU)

In Wahrheit stockt Ihre Planung, weil der Klimaschutzplan länger dauert. Sie beschreiben, dass es einen Prozess mit vielen Beteiligten gibt. Das kommt bei allen Beteiligten gut an, unabhängig von den Inhalten. Ihnen schlägt aber doch die blanke Sorge entgegen, wie ich aus den Gremiensitzungen höre, dass Ihr Klimaschutzgesetz und Ihr Klimaschutzplan alles andere als Hilfen für Wirtschaft und Mittelstand sind. Deswegen ist der ganze Prozess ins Stocken geraten. Sie werden uns irgendwann erklären, dass Ihr Zeitplan nicht mehr hält.

Glaubwürdig wäre es, Herr Minister Duin, wenn Sie den von Ihnen mit Verve vertretenen Prozess der im Mittelstandsgesetz implementierten Clearingstelle einfordern würden und dem Kollegen Remmel im Sinne der Wirtschaft abtrotzen könnten, das Verfahren umzudrehen. Bei Ihren Reisen im Land haben Sie mittlerweile sicher selber gemerkt, was die Wirtschaft vom Klimaschutzgesetz hält.

Meine Damen, meine Herren, parallel reden wir auch zum Haushalt. Eine Krux für unser Land – neben vielen anderen – ist, dass wir seit Jahrzehnten unterdurchschnittliche Wachstumsraten haben. Der nordrhein-westfälische Standort ist nicht so stark, wie er sein könnte. Seit wieder Rot-Grün regiert, tun wir nicht genug, um das zu ändern.

Wenn Sie aus Nordrhein-Westfalen herausfahren, sei es nach Niedersachsen, sei es durch Ihre Heimat, Herr Minister Remmel, durch das Siegerland Richtung Hessen, sei es – nahebei – Richtung Niederlande, dann finden Sie immer kurz hinter der Grenze – das ist kein Wunder – Industrie? und Gewerbegebiete. Das spricht für eine Menge Potenzial, das ich lieber in diesem Land hätte.

(Minister Johannes Remmel: Da kennen Sie unser Land aber nicht!)

Mit diesem Gesetz forcieren Sie den Standortnachteil Nordrhein-Westfalens. Sie ändern nichts daran, dass die Automobilindustrie die Autos leichter machen wird. Das ist gut. Da wird in Zukunft mehr Aluminium verbaut als heute. Das Einzige, was Sie mit Ihrem Gesetz ändern, Herr Remmel, Herr Duin, ist, dass dieses Aluminium nicht mehr aus Nordrhein-Westfalen kommen, sondern dass es aus Indien und China importiert wird, wo es zu ganz anderen Bedingungen hergestellt wird, wo viel mehr Energie verbraucht wird und von wo es zudem noch hierher transportiert werden muss.

(Minister Johannes Remmel: Die Produktion nimmt wieder zu!)

Wir haben also einen höheren CO2-Ausstoß bei der Produktion und gleichzeitig noch Emissionen beim Transport. Deswegen sage ich: Dieses Gesetz ist untauglich und kontraproduktiv. Es ist zudem unnötig, weil Industrie? und Energieversorgungsunternehmen mit dem europäischen Emissionshandel schon heute erfolgreich große Anstrengungen unternehmen.

Heute, verehrte Kolleginnen und Kollegen insbesondere der SPD, ist die letzte Chance, weiteren Schaden für Arbeit und Beschäftigung von Nordrhein-Westfalen abzuwenden. Lehnen Sie dieses Gesetz ab. Wenn der Koalitionsfriede Sie dazu nötigt, es nicht zu tun, dann schieben Sie es wenigstens. Seien Sie glaubwürdig im Hinblick auf all das, was zum Mittelstandsgesetz gesagt worden ist. So viel sollten Sie sich selber zutrauen. – Vielen herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke schön, Herr Wüst. – Nun spricht für die SPD-Fraktion Herr Eiskirch.

Thomas Eiskirch (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Noch kurz zu Ihrem Antrag: Der Kollege Wüst muss unter Amnesie leiden. Er hat gerade gesagt, die Windkraft könne nicht schnell genug ermöglicht werden, und über den LEP, es müsse alles schneller gehen. Dabei handelt es sich um dieselben Leute, die unter Ihrer Regierungszeit – das ist noch gar nicht so lange her – von Windindustriemonstern gesprochen haben, wenn es um Windkraftanlagen ging, die keine Ermöglichungs?, sondern Verhinderungsstrategien betrieben haben.

Sie haben gerade gesagt, das Mittelstandsgesetz käme erst nach dem Klimaschutzgesetz. – Es gab einmal ein Mittelstandsgesetz. Das haben CDU und FDP aber abgeschafft. Danach haben sie angekündigt, sie würden ein neues einbringen, haben das aber bis zum Ende ihrer Legislaturperiode nicht hinbekommen, weil sie nicht die Kraft dazu hatten, sich gegen die eigene Regierung durchzusetzen. Das ist die Wahrheit zum Thema „Mittelstand“.

(Beifall von der SPD)

Kommen wir zurück zu unserem Entschließungsantrag und dem Klimaschutzgesetz. Wir beschließen heute ein Klimaschutzgesetz, das mit konkreten Maßnahmen im Klimaschutzplan unterlegt wird. CDU und FDP tun bis heute so, als ginge es bei der Klimaschutzpolitik des Landes um einen Verbotsklimaschutz. Sie haben bis heute nicht verstanden, dass es um einen Ermöglichungsklimaschutz geht. Wir wollen ermöglichen, wir wollen Wachstum, Innovation und Beschäftigung unterstützen.

(Zuruf von der FDP: Wachstum wollen Sie doch gerade nicht! – Dietmar Brockes [FDP]: Sie hemmen Wachstum!)

Aus der Wirtschaft wurden uns in den vergangenen Monaten – darum will ich gar nicht herumreden – zwei Kritikpunkte vorgehalten. Die haben wir aufgegriffen, und wir haben zu den bestehenden Unklarheiten im Entschließungsantrag noch einmal ganz deutlich Stellung genommen.

Erster Kritikpunkt war: Raumordnung und Abwägung. Dies sei nicht klar genug gefasst. Wir schreiben jetzt im Entschließungsantrag – ich zitiere mit Genehmigung des Präsidenten aus dem Antrag –:

„Zur Erreichung der landesweiten Klimaschutzziele dient vor allem der Klimaschutzplan. Die für verbindlich zu erklärenden Teile des Klimaschutzplans sind – soweit sie raumordnerisch gesichert werden können -“

– also auch dort umsetzbar sein können –

„als Ziele und Grundsätze der Raumordnung festzulegen. Die im Raumordnungsgesetz vorgesehene umfassende Abwägung aller Belange bei der Aufstellung der Raumordnungspläne bleibt erhalten.“

Wir werden all diese Fachbeiträge miteinander abwägen, da gibt es kein Ober und kein Unter. – Das ist der erste Kritikpunkt, zu dem wir deutlich Position beziehen wollen.

Zweiter Punkt. Immer wieder wird gesagt, es werde doppelt eingegriffen, es gebe ja die europäischen Zertifikate. Auch dazu will ich deutlich sagen: Wir wissen, dass das übergeordnet ist, und werden es respektieren. Doppeleingriffe wird es nicht geben.

Gerade im Hinblick auf die Zertifikate will ich noch mal deutlich machen, wo wir heute überhaupt stehen.

Die CDU-Bundeskanzlerin hat für 2020 gegenüber 1990 eine Senkung der CO2-Emission um 40 % verbindlich zugesagt. Bis zum Jahr 2010 hat die Bundesrepublik Deutschland ihre CO2-Emissionen bereits um 25 % gesenkt. Die Hälfte dieser Einsparungen gelang in den Jahren 1990 bis 1995, die andere Hälfte brauchte die Jahre 1995 bis 2010. Das heißt: Die ersten 25 der 40 % sind geschafft, noch 15 % liegen vor uns.

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Deppe?

Thomas Eiskirch (SPD): Nein, ich möchte im Zusammenhang vortragen.

Vizepräsident Oliver Keymis: Keine Zwischenfrage.

Thomas Eiskirch (SPD): Mit diesen 15 % setzen wir uns auseinander.

Frau Thoben hatte damals für Nordrhein-Westfalen übrigens deutlich höhere Ziele vorgeschlagen, aber nicht unterlegt, wie man sie erreichen könnte, null Maßnahmen, nur – um des deutlich zu sagen – „Gequatsche“. Wir hingegen versuchen deutlich zu machen, wie wir diese Klimaschutzziele inhaltlich erreichen wollen.

Wie Sie wissen, existieren mit dem EU-Emissionshandelssystem vorrangige internationale Regelungen. Die Wirksamkeit dieses Systems im Hinblick auf die Verminderung von Treibhausgasemissionen beruht im Wesentlichen auf der Höhe der vorgegebenen emissionsbezogenen Caps für die von der Emissionshandelspflicht erfassten Anlagen. Das EU-Emissionshandelssystem wird die Obergrenze für den CO2-Ausstoß, diese sogenannten Caps, kontinuierlich senken. Der jährliche Reduktionspfad für die neue Handelsperiode 2013 bis 2020 beträgt 1,74 % pro Jahr. Wenn wir diesen Wert für NRW eins zu eins umsetzen, wir also rein statistisch die etwaigen unverhältnismäßigen Verlagerungseffekte außen vor lassen, bedeuten die 1,74 % per anno bezogen auf die nächsten sieben Jahre bis 2020 mehr als 10 % und damit den Löwenanteil der noch zu erbringenden CO2-Emis­sions­ein­spa­rungen. Das heißt, dieser Teil wird schon durch ein anderes System sichergestellt.

Deswegen hilft ein realistischer Blick. Der zeigt dass wir hier in Nordrhein-Westfalen unseren zusätzlichen Beitrag zum Rest noch leisten müssen. Er zeigt auch, dass die Treibhausgasemissionen in NRW vor allem auf die Energiewirtschaft entfallen, unter ihnen alle Kraftwerke. Diese Kraftwerke werden aber bereits vollständig von dem übergeordneten Emissionshandelssystem geregelt, sind also außen vor.

Der nächstgrößte Emissionsbereich, die nordrhein-westfälische Industrie, ist für 18 % der Gesamtemissionen zuständig. Die größten Emittenten in der Industrie sind die chemische Industrie, die Eisen- und Stahlproduktion sowie die Mineralproduktion, Zement-, Kalk- und Glasherstellung. Auch deren engergieintensive Anlagen unterliegen dem EU-Emissionshandelssystem.

Inzwischen unterliegt auch der Luftverkehrsbereich dem EU-Emissionshandelssystem.

Das heißt: All diese Bereiche gehören schon zu den anderen 10 % über die Zertifikate.

Wir reden jetzt also noch über die letzten 5 % auf dem Weg zum 40-%-Ziel. Es bleibt ein großer Bereich, an den man ran muss: Das sind die Haushalte, Gebäude und Kleinverbraucher. Und es bleiben mehrere andere Bereiche, von denen der größte bei den Treibhausgasen übrigens noch heute die Landwirtschaft ist, meine Damen und Herren, die größer ist als im Jahre 2011 die Bereiche der flüchtigen Emissionen aus Brennstoffen, Gas und Öl sowie der Produktanwendung wie etwa Klima- und Kälteanlagen zusammengenommen. Die flüchtigen Brennstoffe und die Kälteanlagen zusammen machen also weniger als die Landwirtschaft aus. Die Landwirtschaft ist aber der einzige Bereich, in dem sich von 2006 bis 2011 bei den Treibhausemissionen gar nichts getan hat, schlicht und ergreifend ein Nullabbau.

Alle Zahlen entstammen übrigens einer Studie des Landesamtes für Natur-, Umwelt- und Verbraucherschutz.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, Sie ringen doch gerade um die neue Wirtschaftskompetenz der CDU.

(Zuruf von der CDU: Die haben wir längst zurück!)

– Zugegeben, aber aus meiner Sicht mehr schlecht als recht. Große Konzepte haben wir von Ihnen nicht gehört, weder zum Thema „Klimaschutz“ noch zu sonst irgendetwas. Deswegen kann ich Ihnen nur sagen: Fangen Sie doch mal im Kleinen an, nicht mit den großen Sachen, und legen uns ein Konzept zum Klimaschutz in der Landwirtschaft vor. Das ist doch ein Bereich, in dem Sie sich zu Hause fühlen.

(Jochen Ott [SPD]: Mit Rindviechern kennen sie sich aus!)

Sehen Sie zu, dass Sie dort konzeptionell etwas erarbeiten, damit auch Sie wenigstens einen inhaltlichen Beitrag zu diesem Thema am Tagesende geleistet haben werden. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Kollege Eiskirch. – Nun spricht für die FDP-Fraktion Herr Kollege Brockes.

Dietmar Brockes (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vorneweg zum Antrag der CDU-Fraktion: Liebe Kolleginnen und Kollegen, inhaltlich teilen wir Ihre Kritik, sehen allerdings einige formale Punkte, die so nicht haltbar sind. Deshalb müssen wir uns gleich in der Abstimmung zu Ihrem Antrag leider enthalten.

Meine Damen und Herren, kommen wir zum Klimaschutzgesetz. Seit geschlagenen zwei Jahren diskutieren wir dieses Gesetz hier im Hause. Seit diesem Zeitpunkt laufen die Industrie und die Wirtschaft Sturm gegen dieses Gesetz. Wer das – wie scheinbar der Umweltminister, der bisher mit keinem Wort auf diese Kritik eingegangen ist – nicht glauben will, muss heute nur in die Zeitung schauen, zum Beispiel in die „Rheinische Post“. Ich zitiere Herrn Mittelstaedt vom VCI:

„Wer den Gesetzentwurf unverändert verabschiedet, gefährdet die Entwicklungsperspektiven von Chemiestandorten.“

Oder Herr Kerkhoff, der sagt, das neue Gesetz schaffe erhebliche Rechts- und Planungsunsicherheiten. – Meine Damen und Herren, angesichts dessen ist es ehrlich gesagt arrogant, wenn Sie, Herr Minister, hier und heute wie auch während der ganzen Debatte in den hinter uns liegenden beiden Jahren in keiner Weise auf solche Bedenken eingehen und sie zu zerstreuen versuchen.

(Beifall von der FDP)

Es ist arrogant und ehrlich gesagt unerträglich, wie Sie mit der Wirtschaft hier in Nordrhein-Westfalen umgehen.

(Beifall von der FDP und Lutz Lienenkämper [CDU])

Meine Damen und Herren, das Gesetz nutzt dem Klima nicht, verursacht Standortnachteile und schafft ein investitionsfeindliches Klima. Wer, meine Damen und Herren, soll bei diesen unklaren Standortbedingungen in Nordrhein-Westfalen denn investieren? Das ist ein absolutes Ausschlusskriterium für jeden, der überlegt, an welchem Ort in Deutschland oder Europa er investieren will.

(Beifall von der FDP und Lutz Lienenkämper [CDU])

Aber wir haben doch einen Wirtschaftsminister in diesem Land. Herr Duin, Sie sind seit einem halben Jahr hier. Es ist richtig, dass man Ihnen das in Ihrer ersten Kabinettsitzung sozusagen vor die Füße gelegt hat. Aber Sie hätten über Ihre Fraktionen massiv Einfluss nehmen müssen. Ich sage Ihnen ganz klar, da Sie den Fußball lieben, auch wenn Sie aufgrund Ihrer Vergangenheit einem aus unserer Sicht falschen Club zugeneigt sind:

(Zuruf von den GRÜNEN: Oh! – Minister Johannes Remmel: Demselben wie der Umweltminister!)

Es reicht nicht, nur auf dem Platz zu stehen. Die SPD hat Sie als Stürmer hierher geholt. Aber Sie müssen auch dahin gehen, wo es wehtut, und sich innerhalb der Mannschaft durchsetzen. Das erwarten wir von Ihnen.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU – Zurufe von der SPD)

Herr Duin, werden Sie Ihrem Namen gerecht! Sie sind Minister für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk – und nicht dagegen. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP und der CDU – Jochen Ott [SPD]: Die FDP-Fraktion tobt!)

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke schön, Herr Brockes. – Nun spricht für die Fraktion der Piraten Herr Schmalenbach.

Kai Schmalenbach (PIRATEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Brockes, bitte korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre: Dahin, wo es wehtut, gehen, glaube ich, die Verteidiger.

(Heiterkeit und Beifall von den PIRATEN, der SPD und Minister Johannes Remmel)

Frau Brems, an Sie die Antwort – die CDU hat das auch beantwortet – auf die Frage nach der Bremse: Wenn ich geplant vor die Wand fahre, bremse ich natürlich nicht.

Wir reden über ein Klimaschutzgesetz für NRW. Das klingt gut, allerdings klingt es meiner Meinung nach besser, als es ist. Wir werden ihm dennoch zustimmen, weil es aus unserer Sicht mal wieder ein kleiner Schritt in die richtige Richtung ist. Herr Rohwedder hat dazu schon einiges gesagt.

Auch wenn es ein Schritt in die richtige Richtung ist – genau deswegen habe ich mich auf die Redeliste setzen lassen –, habe ich eine wichtige Frage dazu: Glauben Sie, liebe Koalition, dass Sie dem Klima Gutes tun, indem Sie voRWEg gehen?

(Vereinzelt Beifall von den PIRATEN)

Ich bitte Sie aufrichtig, über diese Frage nachzudenken und darüber mit uns zu diskutieren. – Vielen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke schön, Herr Schmalenbach. – Für die Landesregierung hat nun der Wirtschaftsminister, Herr Duin, das Wort.

Garrelt Duin, Minister für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordneten! Sehr geehrter Herr Kollege Brockes, Sie haben über Fußballvereine, diesbezügliche Leidenschaften usw. gesprochen. Klar ist, dass man sich drei Dinge nicht aussuchen kann: Vater, Mutter und Verein.

(Heiterkeit und Zustimmung von Dietmar Brockes [FDP])

Das fällt so, wie es kommt.

(Dietmar Brockes [FDP]: Das habe ich Ihnen auch nicht vorgeworfen!)

Sie konnten vielleicht nicht wissen – wir haben das auch erst in der ersten Kabinettsitzung festgestellt –, dass in der Tat der Umweltminister und der Wirtschaftsminister von Nordrhein-Westfalen die Leidenschaft für denselben Verein teilen.

(Allgemeine Heiterkeit)

Insofern werden Sie an dieser wie an allen anderen Stellen keine Differenzen herbeidiskutieren können, wie wir sie auf der Berliner Bundesebene zwischen den beiden Amtskollegen leider jeden Tag erleben.

(Beifall von den GRÜNEN)

Herr Brockes, Sie wissen genauso wie Herr Wüst, dass ich nicht zu denen gehöre, die man als Stubenhocker bezeichnen könnte. Ich will damit zum Ausdruck bringen, dass ich jede Woche landauf, landab unterwegs bin, um in den Unternehmen Gespräche darüber zu führen, wie einerseits die wirtschaftliche Gesamtsituation eingeschätzt wird und wie andererseits die speziellen Bedürfnisse sind. Wir sprechen jeweils sehr intensiv darüber, welche Entwicklungsperspektiven sie am Standort Nordrhein-Westfalen haben.

Das geht vom kleinen Mittelständler, der in seiner Region beheimatet ist und dort seinen Markt findet, über die Hidden Champions, die zwar weltweit aktiv, aber gleichwohl noch mittelständisch orientiert sind, bis hin zu großen Unternehmen, darunter auch DAX-Unternehmen, die international agieren und zum Teil in einer bestimmten Größenordnung sogar international bestimmt werden.

Ich will Ihnen ein ganz konkretes Beispiel aus der letzten Woche nennen, Herr Brockes. Ich bin in einem großen Chemieunternehmen in Köln mit einer vierstelligen Beschäftigtenzahl gewesen. Wir haben dort mit dem Vorstand genauso intensiv wie mit dem Betriebsrat diskutiert. Eine der ersten Fragen lautete: Wie verhält es sich mit dem Klimaschutzgesetz? Natürlich haben wir darüber intensiv beraten. Aber nach dieser Beratung war auch im Vorstand dieses Unternehmens klar: Hierdurch droht weder eine Gefahr noch etwas Dramatisches, sondern hierdurch ergibt sich eine Chance auch zur ökonomischen Entwicklung am Standort Nordrhein-Westfalen.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Leider ist in den letzten zweieinhalb Jahren eine Diskussion entstanden, die Sie entsprechend befördern – Sie bauen ständig einen Pappkameraden auf –, dass dieses Klimaschutzgesetz in irgendeiner Weise den Standort gefährden würde. Das Gegenteil ist der Fall. Wir reden in jeder energiepolitischen Debatte über mehr Effizienz und darüber, wie wir den Klimaschutz wirklich bewerkstelligen können. Wir sprechen über neue Mobilität und am Ende über neue Märkte und neue Chancen. Dieses Klimaschutzgesetz eröffnet diese neuen Chancen für Nordrhein-Westfalen.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Herr Wüst hat von der Aluminiumindustrie gesprochen. Diesen Ball muss ich aufgreifen – ob als Stürmer oder Verteidiger, das sei dahingestellt. Ich habe viele Gespräche mit der Aluminiumindustrie an allen Standorten geführt, sodass wir wissen, welche Probleme es dort gibt. Wir haben ein Wiederauffahren der Produktion auf der anderen Rheinseite in Neuss.

(Beifall von Hans Christian Markert [GRÜNE])

Wir haben Schwierigkeiten in Voerde. Wir haben das größte Unternehmen in Essen. Aber diese Besprechungen machen eines klar: Alle an diesen Standorten haben ein Problem mit der Orientierungslosigkeit der Bundesregierung in energiepolitischen Fragestellungen. Sie haben kein Problem mit der Haltung dieser Landesregierung.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Das ist offenkundig.

(Zurufe von Lutz Lienenkämper [CDU] und Thomas Kufen [CDU])

– Herr Kufen, Sie kennen doch das Unternehmen. Sprechen Sie dort mit den Verantwortlichen! Man wird Ihnen das dort schon klarmachen, wenn Sie sie nur halb so oft wie ich besuchen.

Was sagt die Wirtschaft? Die Wirtschaft sagt, die Unternehmen sagen durch die Bank: Wir brauchen klare Entscheidungen. Wir wollen Planungssicherheit. Wir wollen ein Projektmanagement. Wir wollen ein Monitoring. – All diese Elemente finden Sie in diesem Gesetz wieder. Auf Berliner Ebene: Fehlanzeige, meine Damen und Herren. Genau das ist der Punkt.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Abschließend will ich noch sagen, weil dieser Punkt beim Mittelstandsgesetz angesprochen wurde, das am 29. Dezember in Kraft getreten ist. Die Rechtsverordnung wird im Februar im Kabinett sein. Wir werden am 25. Februar mit den Beteiligten die Vereinbarung für die Clearingstelle unterzeichnen, die dann am 1. März eingerichtet wird und danach ihre Arbeit aufnimmt.

Dieses Clearingverfahren ist für kommende Gesetze. Wir brauchen dafür überhaupt nichts zu unterbrechen, um das Klimaschutzgesetz noch nachträglich in das Clearingverfahren hineinzubringen. Denn das, was bei der Erarbeitung des Klimaschutzplans gemacht wird, geht sogar weit über das, was wir sinnvollerweise beim Clearingverfahren eingeführt haben, hinaus. Mehr Beteiligung der Stakeholder, mehr Beteiligung der Betroffenen geht überhaupt nicht, als wir es mit der Erarbeitung des Klimaschutzplanes vorgesehen haben, meine Damen und Herren.

Deswegen geht auch dieser Antrag der Opposition ins Leere. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister Duin.

Wir kommen jetzt zur Abstimmung. Die Kolleginnen und Kollegen haben sich dazu auch eingefunden, wie man sieht, und zwar deshalb, weil es bei der Abstimmung zum Klimaschutzgesetz Nordrhein-Westfalen durchaus kontrovers zugehen kann. Wir haben jetzt drei Abstimmungen vorzunehmen. Da mehrere Anträge vorliegen, ist nach § 42 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung zuerst über den weitestgehenden Antrag abzustimmen.

Deshalb stimmen wir als Erstes über den Antrag der CDU-Fraktion Drucksache 16/1909 ab. Wer stimmt diesem Antrag zu? – Die Fraktion der CDU. Wer stimmt gegen diesen Antrag? – Piraten, SPD und Grüne. Wer enthält sich? – Wie angekündigt, enthält sich die FDP-Fraktion. Damit ist dieser Antrag mit Mehrheit in diesem Hohen Hause abgelehnt.

Wir stimmen zweitens ab über den Gesetzentwurf Drucksache 16/127, über den wir diskutiert haben. Der Ausschuss für Klimaschutz, Umwelt, Naturschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in der Beschlussempfehlung Drucksache 16/1914, den Gesetzentwurf in der Fassung seiner Beschlüsse anzunehmen. Wer stimmt diesem so zu? – Die Fraktionen SPD, Grüne und Piraten. Wer stimmt dagegen? – CDU- und FDP-Fraktion. Gibt es Enthaltungen im Hohen Hause? – Das ist augenscheinlich nicht der Fall. Damit ist die Beschluss­empfehlung angenommen und der Gesetzentwurf in zweiter Lesung verabschiedet.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Wir kommen drittens zur Abstimmung über den Entschließungsantrag Drucksache 16/1958 – Neudruck – von den Fraktionen SPD und Bündnis90/Die Grünen. Wer stimmt dieser Entschließung zu? – SPD, Grüne und Piraten. Wer stimmt dagegen? – CDU und FDP. Gibt es Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Damit ist der Entschließungsantrag mit den Stimmen von SPD, Grünen und Piraten angenommen.

Ich bedanke mich für die Beratung und die Abstimmung.

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt

3   Inklusion: Landesregierung muss (Rechts?)­unsicherheit beenden und endlich Gesetzentwurf vorlegen!

Antrag
der Fraktion der CDU
Drucksache 16/1907

Entschließungsantrag
der Fraktion der FDP
Drucksache 16/1956

Ich eröffne die Beratung und erteile für die CDU-Fraktion Herrn Kollegen Kaiser das Wort.

(Unruhe)

– Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, den Saal leise zu verlassen und Gespräche leise oder am besten gar nicht zu führen, damit sich der Redner in unserem Hohen Hause Gehör verschaffen kann. – Herr Kollege Kaiser, Sie haben das Wort.

Klaus Kaiser (CDU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Inklusion ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Inklusion ist keine einmalige politische Verordnung, sondern ein kontinuierlicher Prozess, der beharrliches Erarbeiten und Erkämpfen erfordert. Deshalb hat die CDU-Land­tagsfraktion gemeinsam mit SPD und Bündnis 90/Die Grünen Ende 2010 einen Antrag zur Inklusion in der Schule im Landtag von Nordrhein-Westfalen mit konkreten Handlungsanweisungen an die Landesregierung verabschiedet.

Unter anderem ist darin die intensive Einbeziehung aller Beteiligten aufgeführt. Frau Löhrmann, fragen Sie heute einmal die betroffenen Verbände, ob das so geschehen ist.

Weiterhin wurden die Schaffung der personellen und finanziellen Rahmenbedingungen für einen schrittweisen Ausbau des gemeinsamen Unterrichts an allen Schulformen und die zeitnahe Vorlage eines Inklusionsplanes festgelegt. Davon bleibt das meiste bis heute unerfüllt. Die Frage bleibt: Was haben Sie eigentlich in den drei Jahren geleistet?

Wenn wir Bilanz ziehen zur Frage der Inklusion in der Schule, so können wir schlicht feststellen: Diese Landesregierung hat es nicht geschafft, eine gesellschaftliche Akzeptanz für diese große Herausforderung zu schaffen und den Konsens in der Frage der Inklusion zu vergrößern. Im Gegenteil, Inklusion in der Schule hat Frau Löhrmann in das verwaltungstechnische Klein-Klein ihres Handelns geführt. Manche sprechen inzwischen von kalter Inklusion für diese Art der Umsetzung und ungeordneten Eile.

Wir haben als CDU immer vor einer Inklusion nur um der Umsetzungsprozente willen – von denen Sie gestern offensichtlich in der Pressekonferenz stolz gesprochen haben –, ohne Qualität hochzufahren, gewarnt. Gründlichkeit vor Schnelligkeit, Qualität vor Quantität! Gründlichkeit geht nur auf der Grundlage eines sorgfältig erarbeiteten Gesetzes.

Wir müssen jedoch heute in der Zeitung lesen, dass Frau Löhrmann bei der Finanzierung – ich zitiere – „pokert“. So steht es in der „Recklinghäuser Zeitung“. Die Folge ist: Verunsicherung, Ängste und Widerstände prägen das Bild. Unruhe statt Aufbruch zu Neuem kennzeichnen die Wirklichkeit.

Zur gestrigen Pressekonferenz hatte ich wirklich erwartet, dass Sie diesem Antrag zuvorkommen und ein verbindliches Datum für die Einbringung des Gesetzentwurfs zum 9. Schulrechtsänderungsgesetz nennen würden. Fehlanzeige, Frau Löhrmann! Ich hatte erwartet, dass Sie etwas Verbindliches zur Umsetzung des Rechtsanspruchs, das alle Betroffenen so dringend erwarten, sagen. Fehlanzeige! Sie haben mehr über Ausnahmen als über die Umsetzung des Rechtsanspruchs gesprochen. Das heißt, dass Sie es damit doch nicht so ernst meinen. Ich hatte erwartet, dass Sie etwas Verbindliches zu einer Aufstockung der Ressourcen und zur ernsthaften Beteiligung der Kommunen sagen. Aber auch hier Fehlanzeige!

Blicken wir eine Woche zurück. Es ist ein bisher einmaliger Vorgang, dass die Lehrerverbände von der GEW bis zum Philologen-Verband und alle kommunalen Spitzenverbände einen gemeinsamen Hilferuf senden, um die Inklusion in Nordrhein-Westfalen zu retten. Diese Verbände prangern das totale Versagen dieser Landesregierung in dieser Frage an. Zu Recht!

Frau Löhrmann, Sie müssen sich an Ihren eigenen Aussagen in dieser Frage messen lassen. Nehmen wir ein Beispiel. Sie haben auf Ihrer Internetseite am 14. April 2010 unter der Rubrik „Ihre Frage an Sylvia“ geschrieben – ich zitiere –:

„Wir wollen Schulen personell und räumlich so ausstatten, dass sie die individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen umsetzen können.“

Jetzt kommt es:

„Schulen müssen generell barrierefrei ausgebaut sein.“

Man muss kein ausgesprochener Kommunalrechtler sein, um festzustellen, dass hier die Kommunen als Schulträger für die äußeren Schulangelegenheiten angesprochen sind,

(Zuruf von Ministerin Sylvia Löhrmann)

also ohne jeden Zweifel ein Fall von Konnexität. Aus diesem Satz wird deutlich, dass das, was Sie wollen, die Kommunen finanziell betrifft.

Die Kommunen sind deshalb so wütend und haben nicht zuletzt auf Ihre gestrige Pressekonferenz sofort wieder mit einer Pressemeldung reagiert, weil Sie jede Konnexität leugnen. Diese Landesregierung missachtet bei der Inklusion explizit ihre verfassungsrechtlichen Pflichten nach Artikel 78 Abs. 3 Satz 2 der Landesverfassung von Nordrhein-West­falen, worin die Landesregierung bei Gesetzesvorhaben aufgefordert wird, eine Kostenfolgeabschätzung vorzunehmen. Das heißt, die Berechnung der Auswirkungen der Inklusion auf die Kommunen ist durch die Landesregierung zu leisten. Deshalb fordern wir dies explizit in Punkt 2 unseres Antrags.

(Beifall von der CDU)

Frau Löhrmann, es ist sicherlich kein Beitrag zur Erhöhung der gesellschaftlichen Akzeptanz der Inklusion, sondern aus meiner Sicht schlichte Machtarroganz, wenn Sie sich in der „Westdeutschen Zeitung“ am 16. Januar dieses Jahres wie folgt äußern – ich zitiere –:

„Die Kommunen müssten erst mal den Nachweis erbringen, dass tatsächlich Mehrkosten entstehen. Das ist bislang nicht geschehen, und ich sehe das auch nicht.“

Unbestritten sind die Schülerfahrtkosten in ihrer Differenziertheit, die Hilfskräfte, die erforderliche räumlich-sachliche Schulausstattung, zusätzliche Lehr- und Lernmittel bei Sinnesgeschädigten, zusätzliche Personalkosten für Hilfs- und Pflegepersonal an den allgemeinen Schulen nur einige Aspekte, die konnexitätsrelevant sind. Es ist die Aufgabe der Landesregierung, dies zu berechnen, und nicht Auftrag der Kommunen.

Fragen wie die folgenden bleiben jedoch völlig offen: Wie viele Vorreiterschulen sind vorhanden? Wie viele Förderplätze an allgemeinen Schulen sollen zur Verfügung stehen? Wie viele Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen sind in welchem Jahr zusätzlich erforderlich? Wie sieht der Fortbildungsplan aus? Wie viele Schulen werden in welchem Jahr fortgebildet und damit fit für die Inklusion gemacht? Wie garantieren Sie die nötigen Fortbildungskapazitäten?

Statt präziser Planung werden Nebelkerzen geworfen, die Aktivitäten dokumentieren sollen. Ihre Zahlen, Frau Löhrmann, sind ohne Referenzdaten, die den tatsächlichen Bedarf anzeigen, zwecklos und helfen nicht weiter.

Frau Löhrmann, Sie sprechen davon, dass jährlich zusätzlich 500 Studienanfänger für das Lehramt an Förderschulen ihr Studium ab 2013 beginnen sollen. Das war gestern das Highlight des Sprechzettels. Und die Schuld, dass nicht genügend Förderschullehrer vorhanden sind, geben Sie dann an die Opposition weiter.

(Sigrid Beer [GRÜNE]: Na klar!)

– Genau. So ist es Ihrem Sprechzettel zur gestrigen Pressekonferenz zu entnehmen. Das ist ein Armutszeugnis und hält auch einem Faktencheck nicht stand.

(Beifall von der CDU)

Nur so viel zu den Fakten, Frau Löhrmann: Die UN-Konvention trat in Deutschland am 26. März 2009 in Kraft.

(Zuruf von Sigrid Beer [GRÜNE])

Daraufhin hat die damalige schwarz-gelbe Regierung zum 1. August 2009 den GU ohne erweiterte Rechtsgrundlage ausgeweitet, um es möglichst allen Eltern, die es für ihre Kinder wünschten, einen Platz im GU zu ermöglichen. Dies ist unbestritten weitestgehend gelungen. Damals wurde sofort eine Konferenz mit allen Betroffenen einberufen, und ihre jeweiligen Anliegen wurden konkretisiert. Diese lagen bei Ihrem Amtsantritt vor.

Dass sich die Zahl der Sonderschullehrer erhöhen sollte, war die Folge der angefangenen Umsetzung. Wir sind jetzt im Jahr vier nach Inkrafttreten der UN-Konvention. Ein knappes Jahr davon gab es Schwarz-Gelb, drei Jahre gab es Rot-Grün. Jetzt wollen wir einmal fragen: Wer musste handeln?

(Beifall von der CDU)

Das heißt, diese Argumentation, Frau Löhrmann, ist eigentlich intellektuell nicht Ihr Niveau. Es zeigt nur, wie sehr Sie in der Ecke sind. Dass Sie schon mit solchen Scheinargumenten durch die Lande ziehen, zeigt, dass Sie im Prinzip Ihr Handeln nicht vernünftig aufgestellt haben.

Sachlich entscheidend für die CDU-Fraktion war jedoch von Anfang an die Qualität für alle Schülerinnen und Schüler im gemeinsamen Unterricht. Leider gibt es nun Beispiele für das Gegenteil. Die Qualität wird schlechter. Nach Auskunft von Frau Löhrmann beträgt die Integrationsquote in der Grundschule heute ca. 33 %, in der Sekundarstufe I dagegen 18 %. Das bedeutet: Viele Kinder finden nach der Grundschule keine weiterführende Schule, die sie aufnimmt.

Was tut Frau Löhrmann? Nachdem sie jahrelang die Notwendigkeit einer erhöhten Lehrerausstattung an den weiterführenden Schulen beschworen hat, lässt sie nun die integrativen Lerngruppen auslaufen und verschlechtert die Qualität an den Schulen mit der Zählung derjenigen Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf als normale Schüler der Schule. Konkret bedeutet das: Sie kürzt den Lehrermehrbedarf auf die Hälfte – nachzulesen im Referentenentwurf zum 9. Schulrechtsänderungsgesetz: weniger statt mehr Qualität in der Sek I, wo die Probleme liegen. – Das ist von Ihnen in der gestrigen Pressekonferenz auch nicht besonders herausgearbeitet worden.

Weiter zum Thema Qualität! Ebenfalls unter der Rubrik „Ihre Frage an Sylvia“ im Internet sagten Sie am 14.10.2010 – ich zitiere –:

„Inklusive Lerngruppen sollen maximal eine Klassengröße von 20 Kindern haben.“

Das war doch wohl nur hohles Wahlkampfpalaver. Lassen Sie sich mal aus den Schulen berichten! Was bisher viel zu wenig war, soll nun plötzlich reichen, und Sie haben noch die Stirn, sich mit den vielen angeblich geschaffenen Stellen zu brüsten, während Kinder und Lehrer unter ungenügenden Bedingungen lernen und lehren müssen.

Wie schlecht die Stimmung an den Schulen ist, wird auch durch die gestrige Pressemeldung deutlich. Sie haben es bei der Weiterbildungsmaßnahme nicht einmal geschafft, im ersten Durchgang die von Ihnen angekündigten 250 Lehrerinnen und Lehrer für die Fortbildung zum Sonderschulpädagogen zu kriegen. Sie haben nur davon gesprochen, dass es etwa 200 sind. 50 Plätze bleiben also frei. Das heißt, die Lehrerinnen und Lehrer trauen dem nicht, sind unsicher, und das gibt die Stimmungslage in den Schulen wieder.

Sie können allerdings nicht behaupten zu wissen, welche Bedarfe da sind. Sie geben überhaupt keine Auskunft darüber, ob diese 250 auskömmlich sind. Sie geben Zahlen ohne Referenzrahmen an, ohne klarzumachen: Dadurch wird eine Bedarfsdeckung von x Prozent in dem und dem Jahr erreicht. – Die Planung ist also immer rückwärtsgewandt, nie nach vorne, und das löst die Unsicherheit aus.

Alle Betroffenen haben aber einen Anspruch darauf zu erfahren, was sie erwartet. Lehrerinnen und Lehrer haben Anspruch auf ausreichende Ressourcen und Vorbereitung. Kinder aller Schulformen haben Anspruch auf gleiche Unterrichtsqualität. Die Eltern haben einen Anspruch darauf zu erfahren, wann und vor allem mit welcher Qualität ihr Rechtsanspruch umgesetzt wird.

Frau Ministerin Löhrmann, bei diesem größten bildungspolitischen Reformprojekt sind Sie seit 2010 keinen Schritt weitergekommen. Statt Aufbruchstimmung für dieses gesellschaftliche Projekt zu erzeugen, haben Sie für Lethargie, Angst und Aggression gesorgt. Deshalb unser dringender Appell: Legen Sie endlich das 9. Schulrechtsänderungsgesetz vor!

Frau Ministerpräsidentin, Ihr Spruch „Kein Kind zurücklassen!“ wird durch das Handeln des Schulministeriums zur hohlen Phrase. Ihre Inklusionspolitik ist unsozial und ungerecht. Es ist höchste Zeit zum richtigen Handeln. – Schönen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Kaiser. – Für die SPD-Fraktion spricht Frau Kollegin Voigt-Küppers.

Eva Voigt-Küppers (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! In der UN-Behindertenkonvention heißt es – ich zitiere mit Ihrer Genehmigung –:

„Die Vertragsstaaten … prüfen sorgfältig die Schaffung oder Bestimmung eines staatlichen Koordinierungsmechanismus, der die Durchführung der entsprechenden Maßnahmen in verschiedenen Bereichen und auf verschiedenen Ebenen erleichtern soll …“

Die Betonung liegt auf Sorgfalt. Wir befinden uns in einem ganz normalen Gesetzgebungsverfahren, und dazu gehört die Beteiligung der Öffentlichkeit, wie es die Landesregierung im Referentenentwurf zum 9. Schulrechtsänderungsgesetz vorbildlich gemacht hat. Sie finden, wenn Sie sich die Mühe machen, den Referentenentwurf und weitere Dokumente auf der Internetseite des Ministeriums. Selten ist so breit und so offen über einen Gesetzentwurf diskutiert worden. Das ist auch gut so. Denn wir wollen und werden Anregungen und Kritik berücksichtigen. Auch hier gilt das Struck’sche Gesetz: Kein Gesetz verlässt den Plenarsaal so, wie es hineinkommt.

Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Landesregierung eine klare Linie zum Verfahren vorgegeben hat. Die Ministerpräsidentin hat erst letzte Woche noch einmal bekräftigt: Der Gesetzentwurf kommt mit Wirkung für die Klassen 1 und 5 zum Schuljahr 2014/15. – Wir halten uns an unseren Zeitplan. Entscheidend ist, dass das Gesetz rechtzeitig vor Beginn der nächsten Anmeldephase für die Grundschulen im November 2013 in Kraft tritt.

Noch mal zur Erinnerung: Der Referentenentwurf ist bereits seit September für die Verbände zur Stellungnahme freigegeben. Das heißt, diejenigen, deren Sorge Sie hier angeblich vertreten, beteiligen sich längst an der Debatte.

(Beifall von den GRÜNEN)

Wenn Sie also lauthals Forderungen stellen, sollten Sie sich bewusst machen, dass die Regierungsfraktionen schon lange auf dem Weg sind. Deshalb gehört der Antrag auch jetzt nicht in die plenare Debatte.

Ich füge einen weiteren wichtigen Punkt hinzu. Schon jetzt wächst allein durch die veränderte Erlasslage seit Dezember 2010 die Zahl der gemeinsam unterrichteten Schülerinnen und Schüler. Die Integrationsquote hat sich fast verdoppelt. Schon jetzt erleben wir in sehr vielen Schulen des Landes, wie erfolgreicher gemeinsamer Unterricht aussieht. Aus diesen langjährigen Erfahrungen mit dem gemeinsamen Unterricht in Nordrhein-Westfalen lassen sich wertvolle und wichtige Erkenntnisse ziehen. Deshalb unterstützen wir die Schulen, die sich auf den Weg in die Inklusion begeben, mit 100 Stellen.

Wir werden als Gesetzgeber dafür sorgen, dass die notwendigen Voraussetzungen für die Arbeit vor Ort gegeben sind. Darauf bereiten wir uns vor. Dazu hat das Gutachten von Prof. Preuss-Lausitz und von Prof. Klemm von 2011 wichtige Hinweise gegeben. Mittlerweile gibt Bertelsmann weitere Antworten darauf, welche Lehrkräfte und welches unterstützende Personal notwendig sind. Das Personal aus den demografischen Effekten sowie die Lehrerinnen und Lehrer aus allgemeinen und Förderschulen rüsten uns gut für erfolgreichen inklusiven Unterricht. Wir machen weiter mit dem gemeinsamen Unterricht, und zwar nicht gehetzt, sondern sorgfältig.

Insgesamt werden zum nächsten Schuljahr knapp 1.700 Stellen bereitgestellt. Wir investieren in Fortbildungsmaßnahmen und stellen zusätzlich 1,25 Millionen € für Sachmittel bereit.

Ebenso investieren wir in die Ausbildung von Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen. Wir haben 500 neue Studienplätze eingerichtet. Wir haben die Möglichkeit geschaffen, 2.500 Lehrkräfte zu sonderpädagogischen Fachkräften weiterzubilden. Sie dagegen hatten bis 2010 ganze 65 Stellen geschaffen.

Wir unterfüttern die Maßnahmen im Inklusionsprozess jetzt schon mit der nötigen Ausstattung. Keine Landesregierung hat so viel Geld an die Kommunen weitergegeben wie die jetzige. Keine ist so kommunalfreundlich wie die jetzige.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Unzweifelhaft und täglich beweisbar nimmt die Landesregierung die Sorgen der Kommunen ernst und lässt sie nicht im Stich, auch in dieser Frage nicht – anders als noch unter der schwarz-gelben Regierung, als das Land hemmungslos in die kommunalen Kassen gegriffen hat.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Im Gegensatz zu Ihnen wollen wir die Debatte inhaltlich führen und nicht strukturell. Wir möchten die Kritik der Verbände ernst nehmen und mit ihr umgehen. Das führt dazu, dass wir die Frage nach dem Zeitplan neu gestellt haben. Dann können wir uns mit allen Sorgen und Ängsten auseinandersetzen.

Unbestritten bleibt: Die Umsetzung der Inklusion und der UN-Behindertenrechtskonvention ist eine große Aufgabe. Wir werden uns im Landtag die notwendige Zeit nehmen, um über den Gesetzentwurf sorgfältig zu diskutieren. Ja, Herr Kaiser: Gründlichkeit vor Schnelligkeit – das erwarten alle Beteiligten zu Recht.

(Beifall von der SPD – Zuruf von Klaus Kaiser [CDU])

Wir haben auch die unterschiedliche Geschwindigkeit bei der Umsetzung der Inklusion vor Ort im Blick. Die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention ist eine Generationenaufgabe. SPD und Grüne haben sich zum Ziel gesetzt, aus Betroffenen Beteiligte zu machen und diese Beteiligten inhaltlich in den Prozess einzubinden, statt sie schamlos zur Stimmungsmache zu benutzen.

Was Ihre Forderung nach einem Stufenplan betrifft: Genau das haben wir getan; diesen Weg werden wir beschreiten. Inklusion geht nicht mit der Brechstange, auch wenn Sie das mit Ihrem Antrag glauben machen wollen. Daher fangen wir zum Schuljahr 2014/2015 mit den Klassen 1 und 5 an.

Schulträger, Lehrerinnen und Lehrer sowie die Eltern haben erfahren, dass die rot-grüne Landesregierung eine verlässliche Schulpolitik im Sinne der Beteiligten macht.

(Zuruf von Klaus Kaiser [CDU])

So haben alle Beteiligten die Möglichkeit, sich im Gesprächskreis „Inklusion“ zu informieren und einzubringen.

Gleiches gilt für Ihre Forderung nach einer Aufklärungskampagne. Im Aktionsplan der Landesregierung zur Inklusion sind viele Maßnahmen im Einzelnen aufgelistet. Wir haben eine Projektgruppe Inklusion eingerichtet, und wir haben einen runden Tisch eingerichtet. Wir informieren in Veranstaltungen zum Sachstand, zum Inhalt und zu allen Fragen, die Inklusion betreffen. Die Kollegen der Opposition sollten sich – wenn sie schon so oft ins Internet gucken – die Maßnahmen, die diese Landesregierung und die vorige Landesregierung in den letzten Jahren auf den Weg gebracht haben, vielleicht noch einmal anschauen.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Wir haben unmittelbar nach der Regierungsübernahme 2010 Ernst gemacht. Mittlerweile arbeiten in allen Bildungsregionen Inklusionsbeauftragte. Wir bilden Moderatoren aus. Wir haben in diesem Haushaltsjahr die Mittel für die Fortbildung erheblich aufgestockt. Das sind alles Maßnahmen, die nicht gesetzlich regulieren, sondern, da sie erforderlich sind, schon jetzt, ohne Änderung des Gesetzes, gemacht werden.

Ich erinnere den Antragsteller gern daran, dass es Ihre Fraktion war, die vor einem Jahr den gemeinsamen Weg zur Inklusion in Nordrhein-Westfalen nicht mehr mitgehen wollte. Sie haben die Gespräche schon vor der Auflösung des Parlaments im März des letzten Jahres abgebrochen. Wir könnten weiter sein.

Doch an Ihrem Verhalten zeigt sich, dass es Ihnen nicht um eine erfolgreiche Inklusion geht. Sie schüren Ängste.

(Klaus Kaiser [CDU]: Nein, die brauchen wir nicht zu schüren, die sind da!)

Offensichtlich stehen Sie nicht mehr zu Ihrem Grundsatzpapier vom Dezember 2011. Ihr heutiger Antrag ist reine Schwarzmalerei und lenkt von den Herausforderungen der Inklusion ab.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Zuruf von Klaus Kaiser [CDU])

Wir werden die Debatte über die Inklusion führen – und zwar mit Sorgfalt –, die die UN-Behinderten­rechtskonvention von uns verlangt.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Gerhard Papke)

Uns ist im Gegensatz zu Ihnen eines wichtig: die Kinder in den Schulen. Sie sind der einzige und der richtige Prüfstein. Daran werden wir uns messen lassen, nicht aber an Ihren durchschaubaren Manövern und Ihrer angeblichen Sorge um die Beteiligten. – Danke.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Frau Abgeordnete. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erteile ich nun Frau Kollegin Beer das Wort.

Sigrid Beer (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit einer Gratulation beginnen. Nein, sie gilt nicht Herrn Kaiser für seinen Antrag, sondern ich möchte der Gemeinschaftsgrundschule Ketteler in Bonn-Dransdorf gratulieren, die in diesem Jahr den Jacob Muth-Preis für ihre hervorragende Arbeit bekommen hat. Von hier aus sollte ein Glückwunsch an diese Grundschule gehen!

(Allgemeiner Beifall)

Seit 2006 arbeitet sie inklusiv und jahrgangsübergreifend. Wer dann noch die Frage nach der Qualität stellt, sollte sich klarmachen, dass sich in dieser Zeit die Zahl der Übergänge zum Gymnasium verdoppelt und die Zahl der Übergänge zur Realschule fast verdreifacht haben. – So viel zur Frage der Leistungsentwicklung und auch der Entwicklung von sozialen und emotionalen Kompetenzen.

Herr Stamp guckt aufmerksam zu. Ich hoffe, dass sich dann auch einmal die Grundsatzposition der FDP ändert, die das gemeinsame Lernen eigentlich immer noch ablehnt. Solange Sie diese Grundsatzposition nicht aufgeben und Ihre Bedenken gegen das gemeinsame Lernen nicht zurückstellen, sind Sie keine Sachwalter in Sachen Inklusion; dann sind auch Ihre PM nicht ernst zu nehmen.

(Zuruf von der FDP)

Aber lassen Sie mich jetzt auf den Antrag der CDU zurückkommen. Kollege Kaiser, ich reibe mir da verwundert die Augen. In fünf Jahren Schwarz-Gelb ist der gemeinsame Unterricht nur zögerlich ausgebaut worden; die Stellenanteile für die integrativen Lerngruppen hatten Sie im Haushalt noch nicht einmal ausfinanziert.

Das haben wir seit 2010 korrigiert. Insgesamt sind 1.148 Stellen zusätzlich in den Inklusionsprozess investiert worden.

Umfassende Daten zur Entwicklung der sonderpädagogischen Förderung mussten wir dem CDU-geführten Ministerium noch in einer Großen Anfrage abringen. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie ich von dieser Stelle aus den Staatssekretär anmahnen musste, dem Parlament wirklich alle Unterlagen zur Verfügung zu stellen und nicht einzelne Datenblätter zurückzuhalten.

(Beifall von den GRÜNEN)

Ich bin dem Ministerium und der Ministerin sehr dankbar, dass sie diese Datensammlung unaufgefordert fortgeschrieben und allen zugänglich gemacht haben; denn diese Daten zeigen zusammen mit den Haushaltsdaten, welche positiven Entwicklungen wir seit dem Regierungsantritt von Rot-Grün zu verzeichnen haben.

Kollege Kaiser, ich bin persönlich doch etwas verwundert und durchaus enttäuscht; denn ich hatte gedacht, dass 2010 der Inklusionsknoten bei Ihnen geplatzt wäre. Sie hatten sich von der Bremse FDP freigemacht, die 2009 noch einen gemeinsamen Antrag zur Inklusion verhindert und die Koalitionskarte gezogen hatte. Ihre damalige Schulministerin durfte lange Zeit den Begriff „Inklusion“ noch nicht einmal hier im Plenum benutzen.

Dann haben wir 2010, in der Zeit der Minderheitsregierung, in der Tat einen gemeinsamen Antrag zur Entwicklung eines inklusiven Schulsystems in Nordrhein-Westfalen – mit dem Inklusionsauftrag an alle Schulen und Schulformen – verabschiedet.

Dann gab es bei Ihnen – so will ich es einmal nennen – eine kleine Inklusionspause.

(Klaus Kaiser [CDU]: Nein, nein, nein! – Weitere Zurufe von der CDU)

Wir haben in der Zeit aber das Thema kontinuierlich vorangetrieben.

(Zuruf von Klaus Kaiser [CDU] – Weitere Zurufe von der CDU)

– Lieber Kollege Kaiser, Sie haben es doch gemeinsam mit Ihrem Fraktionsvorsitzenden in der eigenen Fraktion nicht gebacken bekommen. Ich erinnere an die Runden, in denen wir gemeinsam gesessen haben und Sie nicht in der Lage gewesen sind, für die Fraktion eine einheitliche Meinung darzustellen. Das muss man deutlich sagen: Mehr als ein Jahr haben wir in der Debatte mit Ihnen verbracht, um gemeinsam während der Zeit mit der Minderheitsregierung einen Antrag hinzubekommen und das fachlich auch zu beschreiben. Das wollen Sie doch jetzt wohl jetzt nicht vergessen haben!

(Klaus Kaiser [CDU]: Warum hat das so lange gedauert? Weil ihr keine Zahlen nennen wolltet!)

Ist das Oppositionsamnesie, Herr Kaiser? Nein. Aber in dieser Zeit hat der Löhrmann-Erlass gewirkt. Sie müssen sich schon vor Augen führen: Wir haben in zwei Jahren rot-grüner Schulpolitik mehr bezüglich des gemeinsamen Unterrichts geschafft als Sie in den fünf Jahren Schwarz-Gelb zuvor. Dass Sie nicht rechnen können, haben wir gestern bei dem Sanierungskonzept auch gesehen. Dazu komme ich aber später noch einmal.

33,6 % der Kinder im Landesschnitt lernen inzwischen in der Grundschule gemeinsam. Das sind 50 % mehr als 2009/2010. 18,4 % sind es in den weiterführenden Schulen – mehr als doppelt so viele wie im Schuljahr 2009/2010. Und mit dem 8. Schulrechtsänderungsgesetz haben wir hier das Fortbildungskonzept für Sonderpädagogen verabschiedet; das betrifft 2.500 Lehrkräfte. Und in der kurzen Zeit ist der Ansturm so groß, dass über 200 Plätze gefüllt werden können. Das sollten Sie einmal positiv sehen. Es geht in zehn Tranchen in alle Regionen hinein. Sie haben in Ihrer Zeit nichts getan. Und das wird jetzt auf den Weg gebracht.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Dazu kommen die Studienplätze, dazu kommen 300 Moderatorinnen, dazu kommen 53 Koordinatorinnen in den Netzwerken.

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Frau Abgeordnete, würden Sie eine Zwischenfrage vom Herrn Kollegen Prof. Sternberg zulassen?

Sigrid Beer (GRÜNE): Aber herzlich gerne.

Prof. Dr. Thomas Sternberg (CDU): Frau Kollegin Beer, nur eine Frage: Ist Ihnen bekannt, dass wir im Jahre 2011 sehr intensive Diskussionen zum Thema „Inklusion“ geführt haben, die dazu führten, dass Ende des Jahres 2011 eine sehr umfassende Stellungnahme der CDU-Fraktion zur Inklusion erarbeitet worden ist, die bei den Verbänden große Begeisterung hervorgerufen hat und die die Politik umzusetzen nicht imstande war? Zumindest galt dies für die Regierung. Ist Ihnen bekannt, dass wir da Positionen erarbeitet haben, die maßstabsetzend für die Inklusionspolitik sein sollten?

Sigrid Beer (GRÜNE): Wir haben einmal eine Runde, Herr Kollege Sternberg, innerhalb der Fraktionen durchgeführt. Da kamen Sie schon nicht überein mit der Frage Inklusion im Gemeinwesen und im schulischen Teil. Dann haben wir uns hier zusammengesetzt, was die parlamentarische Umsetzung angeht. Es war wieder keine Sprachfähigkeit vorhanden. Wie oft haben wir dort unten gestanden, und der Fraktionsvorsitzende hat mir persönlich gesagt: Wir sind in der Fraktion noch nicht so weit. Wir können uns diese Woche wieder nicht treffen. – Auch der Kollege war da, und wir haben in der Tat oft genug zusammengesessen, aber nicht mit dem Ergebnis, dass wir plenar hätten etwas auf den Weg bringen können.

Das war so bis zum 14.03., als Rot-Grün einen Antrag vorgelegt hat. Und Sie haben dann fast wortgleich, mit kleinen Nuancen, nachgezogen; Sie hatten quasi den gleichen Antrag an dem Tag, an dem hier im Landtag Neuwahlen beschlossen worden sind.

Nach der Neuwahl sind wir sofort mit unserem Antrag im Plenum gewesen und haben die parlamentarische Beschlussfassung herbeigeführt. Das Ministerium hat das anschließend in einen Referentenentwurf umgesetzt, der dann in die Verbändebeteiligung hineingegangen ist. Es hat also keine Verschleppung und keine Hinhaltetaktik gegeben.

Sie aber haben Ihre Prozesse in der Fraktion noch nicht abgeschlossen. Das sieht man auch an den Einlassungen der Kolleginnen und Kollegen vor Ort. Das wird da sehr deutlich, und es ist sehr unterschiedlich.

Eine Sache finde ich wirklich bedenklich. Sie betrifft das, was ich jetzt in der Landschaft höre; und ich bin viel unterwegs, um mit Lehrerinnen und Lehrern, mit Vertretern von Schulen und auch von Schulträgern zu reden. Ich bin irritiert, wie sich die kommunalen Spitzenverbände in dem gesamten Prozess verhalten haben und dass sie aus Gesprächen ausgestiegen sind. Ich kenne von ihnen jede Menge Forderungen, aber keine Zahlen, und das über lange Jahre in diesem Prozess. Die Hausaufgabe bezüglich der interkommunalen Ausgleiche von Umlageverbänden, Landschaftsverbänden, Kreisen und Kommunen – nichts wird diskutiert, auch von sich aus nicht. Und darin stecken eine Menge Hausaufgaben, die die kommunalen Verbände zu leisten haben.

Am bedenklichsten finde ich aber eine andere Sache, wenn sich diese bestätige sollte. Kommunen sollen von den Spitzenvertretern aufgefordert worden sein, die Erarbeitung ihrer kommunalen Inklusionspläne anzuhalten; denn offenbar könnte damit deutlich werden, dass die jetzige Entwicklung nur einen Prozess fortführt, der seit 1985 in Nordrhein-Westfalen läuft.

Wenn das richtig ist, dann ist das eine Blockadehaltung, die auf dem Rücken von Kindern ausgetragen wird. Das darf so nicht sein. Wir sind jederzeit bereit, miteinander zu reden. Aber das, was da passiert ist, ist nicht lauter, wenn es wirklich so sein sollte.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Und die Kommunen wissen selbst, dass der demografische Wandel auch nicht vor den Förderschulen Halt macht. Circa zwei Drittel aller Förderschulen erreichen die Mindestzahlen jetzt schon nicht mehr. Das ist auch den Kollegen von der CDU bekannt. Und das ist auch schon länger so.

Es ist auch nicht nachzuvollziehen, wenn sehr lautstark eingefordert wird, das Land solle eine Leistung übernehmen, die eigentlich aus dem Sozialgesetzbuch finanziert wird, nämlich die Integrationsassistenzen. Sie stehen einem Kind als individuelles Recht zu. Wenn sie an der Förderschule zugestanden werden, dann auch an einem anderen Ort, nämlich in der allgemeinen Schule. Die Inklusion löst insofern nichts Neues aus.

Eine Sache will ich zum Schluss noch aufgreifen. Nach Ihrem gestern vorgestellten Finanzkonzept wollen Sie im Bereich Schule 300 Millionen € einsparen. Sie stellen noch 170 Millionen bereit, um Inklusion und den Ganztag vor Ort in den Kommunen zu gestalten. Ich verlange von Ihnen die Antwort: Steigen Sie jetzt aus dem Schulkonsens aus? Steigen Sie aus den Verbesserungen der Rahmenbedingungen aus, die wir gemeinsam vereinbart haben? Das lässt sich nämlich mit uns so nicht machen.

Ich finde, es ist besser, wenn die Menschen bei Rot-Grün und damit bei den verlässlichen Ressourcen,

(Zuruf von Klaus Kaiser [CDU])

die wir festgelegt haben, bei dem Weg, auf dem wir weitergehen, bleiben als sich auf diese Konzepte, die Sie vorgelegt haben, zu verlassen. Wir gehen den Weg zur Inklusion weiter: sorgsam, konsequent und wirkungsvoll. Darin werden wir uns nicht beirren lassen.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Frau Kollegin Beer. – Für die FDP-Fraktion erteile ich Frau Abgeordneter Gebauer das Wort.

Yvonne Gebauer (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei den Grünen wird heute wohl die Meinung vertreten: Wer schreit, hat recht. – Ich sehe das ein bisschen anders.

Frau Beer, auch die von Ihnen genannten Zahlen können nicht über die Situation vor Ort in den Kommunen hinwegtäuschen.

(Beifall von der FDP)

Der Hilferuf der letzten Woche war ein einmaliger Vorgang und so deutlich, dass man ihn auch in aller Deutlichkeit benennen muss. Es war ein gemeinsamer Hilferuf von vier Lehrerverbänden und den kommunalen Spitzenverbänden.

(Zuruf von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

Frau Ministerin Löhrmann, ich denke, dieser Hilferuf sollte Ihnen auch zu denken gegeben haben.

Aber es ist nicht der einzige Hilferuf, sondern diesem Hilferuf stehen weitere kritische Einschätzungen anderer Verbände zur Seite. Lehrer- und Elternverbände, ganze Schulkollegien, kommunale Schulverwaltungen, Kommunalpolitiker inklusive Grünen- und SPD-Vertretern, und, meine Damen und Herren, sogar Mitarbeiter bei den Bezirksregierungen erklären übereinstimmend, dass das Vorgehen bei der Inklusion unstrukturiert und – man kann schon sagen – chaotisch ist. Die Qualität der sonderpädagogischen Förderung kann nach übereinstimmender Meinung so nicht gesichert werden.

Ich verweise in diesem Zusammenhang gerne auf den Brandbrief des Grünen-Beigeordneten Schnapka aus Bornheim. Auch wenn ich mit SPD-Kollegen auf kommunaler Ebene spreche, sind wir uns immer einig: Wir wollen Inklusion, aber nicht in diesem Tempo.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Das große Problem dabei ist, dass Rot-Grün auf Landesebene höchste Erwartungen geweckt hat, die aber kurzfristig nicht umsetzbar sind.

(Dietmar Brockes [FDP]: So ist es!)

Leider bestätigt sich jetzt das, wovor die FDP an dieser Stelle immer gewarnt hat. Im Moment droht Inklusion zu scheitern, weil Ihr Vorgehen, Frau Ministerin Löhrmann, das Vertrauen in die Qualität beschädigt hat.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Insofern hat aus Sicht der FDP die CDU mit ihrem Antrag in vielen genannten Punkten zweifellos recht.

Bei der Vielzahl der Probleme, die es momentan gibt, möchte ich mich zunächst auf drei Aspekte konzentrieren. Sie wissen, wir haben zu diesem Thema heute Nachmittag noch eine Fragestunde. Diese drei Aspekte sind Qualität und Konnexität, Förderstrukturen und das weitere Vorgehen.

Qualität der Förderung, meine Damen und Herren: Gegenwärtig sind die Kollegien vor Ort oftmals überfordert, weil der enorme Anstieg der Zahl von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den allgemeinen Schulen nicht von der benötigten Unterstützung flankiert wird. Es fehlt an der entsprechenden Sachmittelausstattung und an sonderpädagogischem Förderpersonal.

Ein Gesamtschullehrer aus Krefeld hat es am vorletzten Sonntag deutlich formuliert, als er unmissverständlich betonte, dass die Lehrkräfte an allgemeinen Schulen für diese Aufgaben nicht ausgebildet seien und die benötigte Förderung nur unzureichend umsetzen könnten.

Rot-Grün hat den Weg beschritten, zeitnah möglichst vielen Kindern den Weg an die allgemeinen Schulen zu eröffnen. Leider aber geht der deutliche Anstieg nicht mit der nötigen Unterstützung einher. Wir sehen, dass Sie Stellen in den Bereich der Inklusion verlagern und Fortbildungsmittel erhöhen wollen. Dennoch ist dem VBE an dieser Stelle zuzustimmen, der erklärt, dass diese Maßnahmen zur Sicherung der Qualität nicht ausreichen.

Zurzeit erleben wir, was Kollegin Vogt aus der CDU leider zu Recht eine graue Inklusion nennt.

Aus FDP-Sicht ist Inklusion nicht dann erreicht, wenn sich möglichst viele Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf an allgemeinen Schulen aufhalten, meine Damen und Herren. Aus unserer Sicht ist eine gelungene Inklusion nur dann erreicht, wenn diese Kinder in allgemeinen Schulen auch bestmöglich gefördert werden.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Dass Sie leider mutwillig auf qualitative Standards verzichten, um Kosten zu vermeiden, belegt auch ein Schreiben an die Kommunen, Frau Ministerin Löhrmann. Ich würde hier gerne zitieren:

Das Land macht weder für den Schulbereich im Allgemeinen noch speziell mit Blick auf den Ausbau des gemeinsamen Lernens auf dem Weg zu einem inklusiven Schulsystem verbindliche Vorgaben zur Größe, zur baulichen Beschaffenheit oder zur Ausstattung von Schulen. Personelle Auswirkungen sind für die Schulträger nicht zu erwarten, weil der Gesetzentwurf keine Vorgaben für das von ihnen zu stellende Personal vorsieht. – Zitatende.

Meine Damen und Herren, diese Aussage bedeutet letztlich: Wir machen keine qualitativen Vorgaben für die Inklusion, damit die Kommunen kein Geld einfordern können.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Frau Ministerin, das darf nicht das Vorgehen im Rahmen der Inklusion sein. Sie dürfen nicht bei einem so hochsensiblen Feld wie dem Thema „Inklusion“ auf umfassende qualitative Standards verzichten. Sie müssen diese Standards setzen und bei der Umsetzung den Kommunen helfen.

Der zweite Aspekt sind die Förderstrukturen. Ihr Referentenentwurf und die Verordnung sehen eine massive Schließungswelle von Förderschulen vor.

Wir betrachten dieses Vorgehen als zutiefst fahrlässig und verantwortungslos. Wir wissen alle, dass sich die Zahl der Förderschulen im Zuge der Inklusion und der demografischen Veränderungen verringern wird. Es muss aber dennoch zukünftig ein flächendeckendes Förderschulangebot garantiert sein. In diesem hochsensiblen Bereich dürfen Sie Eltern die Wahlmöglichkeit nicht verwehren.

Ich komme zum dritten Aspekt, nämlich dem weiteren Vorgehen. Frau Ministerin Löhrmann, ich bitte Sie: Leiten Sie bei dieser Generationenaufgabe Inklusion im Interesse der Ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen eine Kehrtwende ein.

Wir fordern Sie auf: Überarbeiten Sie den Referentenentwurf und die Verordnung grundlegend. Geben Sie den Förderschulen bis zum Schuljahr 2014/2015 Bestandsschutz, und garantieren Sie auch in Zukunft das Wahlrecht der Eltern. Legen Sie für die Umsetzung der Inklusion transparente, finanzielle und personelle Planungen vor und entwickeln Sie umfassende verbindliche Qualitätsstandards zur Umsetzung der Inklusion.

Frau Ministerin, ich nehme das Wort aus Ihrer Pressekonferenz am gestrigen Tage auf. Es geht uns hier nicht um die Ausstellung eines Blankoschecks, sondern es geht um einen fairen Umgang mit den Kommunen. Erkennen Sie die Inklusion als konnexitätsrelevant an, erarbeiten Sie eine Kostenfolgeabschätzung, und treten Sie in ergebnisoffene und ehrliche Gespräche mit den kommunalen Spitzenverbänden ein. Das sind die Voraussetzungen für ein Gelingen der Inklusion. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Frau Kollegin Gebauer. – Für die Piratenfraktion eilt schon Frau Kollegin Pieper nach vorne. Sie haben das Wort, Frau Kollegin.

Monika Pieper (PIRATEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich mich wieder einmal für den Geschichtsunterricht bedanken, den wir hier gerade bekommen haben, damit wir wissen, wer die letzten Jahre an allem schuld war. Dafür erst einmal vielen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)

Ich freue mich, dass die CDU einen Antrag zum Thema „Inklusion“ eingebracht hat. Dafür herzlichen Dank. Herzlich bedanken möchte ich mich auch für den Antrag der FDP. Denn beide Anträge führen dazu, dass dieses Thema überhaupt mal wieder im Parlament besprochen und verhandelt wird.

(Beifall von Klaus Kaiser [CDU])

Obwohl der CDU-Antrag ein paar gute Ansätze aufzeigt, halte ich ihn nicht für zielführend. Wenn wir uns das Papier einmal anschauen, dann sehen wir, dass die Landesregierung sofort ein neues Schulrechtsänderungsgesetz vorlegen soll.

Am Referentenentwurf gab es viel Kritik. Ein breites Bündnis von Lehrern und Elternverbänden sowie Vertretern der Kommunen haben viele berechtigte Einwände erhoben.

Es kann jetzt aber niemand wollen, dass die Landesregierung diesen oder einen weiteren hastig geänderten Entwurf vorlegt. Jetzt müssen Gespräche geführt werden. Jetzt müssen gemeinsam intensiv Lösungen erarbeitet werden, bevor ein neuer haltbarer Gesetzentwurf vorgelegt werden kann.

Nach Ihrem Antrag, Herr Kaiser, soll der Landtag außerdem aufgefordert werden, festzustellen, dass die Landesregierung nicht gewillt ist, sich an den bestehenden Kosten vor Ort zu beteiligen. – Ich unterstelle Frau Ministerin Löhrmann, dass sie dazu durchaus gewillt wäre, wenn die „Kohle“ da wäre. Aber ich denke, dass sie keinen Goldesel im Keller hat, um das Geld dafür auszuschütten.

Das Problem ist doch, dass die Haushaltslage im Land so angespannt ist, dass die Kosten für eine schnelle Inklusion nicht gestemmt werden können. Wo also soll Ihrer Meinung nach, Herr Kaiser, das Geld herkommen? Und wo soll es eingespart werden?

Daneben wird eine Aufklärungskampagne gefordert, welche die Öffentlichkeit über inklusiven Unterricht informiert. – Neben der Tatsache, dass das durchaus bereits passiert, muss ich mich fragen, welchen Sinn eine solche Kampagne zu diesem Zeitpunkt macht. Erst wenn ein tragbares Konzept transparent erarbeitet wurde, sollte man dieses öffentlich bewerben und erklären. Zum jetzigen Zeitpunkt würde eine solche Kampagne nur zu weiterer Verunsicherung führen.

Das soll nicht heißen, dass die Diskussion jetzt nicht öffentlich geführt werden soll und muss. Aber um zu informieren und aufzuklären, scheint es angebracht, genau zu wissen, worüber informiert und aufgeklärt werden sollte.

Der Antrag benennt eine Reihe von wichtigen Punkten, über die gesprochen werden muss. So finde ich es durchaus sinnvoll, gemeinsam mit den Kommunen einen Plan für Schwerpunktschulen zu erarbeiten. Hier fordere ich genauso wie Sie, dass verhindert wird, dass bis dahin weiter kalte Inklusion betrieben wird. Kalte Inklusion ist für betroffene Schüler, Lehrer und Eltern eine Zumutung und wirkt dem Gelingen von qualitativ hochwertiger Inklusion massiv entgegen.

(Beifall von den PIRATEN)

Ich unterstütze auch Ihre Forderung nach mehr genauen Definitionen und klaren Aussagen im Gesetz. Die Landesregierung soll die personellen Voraussetzungen für gelungene Inklusion definieren. Dem stimme ich uneingeschränkt zu. Dabei ist jedoch klar, dass eh nicht ausreichend Personal vorhanden ist. Es gibt nicht genügend Sonderpädagogen, die eine schnelle Umsetzung von qualitativ hochwertiger Inklusion ermöglichen würden.

Auch das Erstellen eines Stufenplans mit festgeschriebenen Zwischenschritten finde ich sinnvoll. An dieser Stelle ist von der Zusammenarbeit mit den Betroffenen die Rede. Ich hoffe, Herr Kaiser, Sie meinen damit nicht nur die Verbände, sondern auch die betroffenen Schüler und Lehrer. Denn diese wurden meiner Meinung nach bisher viel zu wenig in den Prozess eingebunden.

(Beifall von den PIRATEN und Klaus Kaiser [CDU])

Nun geht dieser Antrag in den Ausschuss. Das finde ich gut. Denn man muss sich auch fragen, welchen Stellenwert der Ausschuss und das Parlament in diesem Prozess zur inklusiven Schule eigentlich einnehmen.

Frau Ministerin Löhrmann, Sie beschwören stets die Wichtigkeit der konstruktiven Zusammenarbeit. Sie werden nicht müde, zu erklären, dass Inklusion eine gemeinsame Aufgabe von uns allen ist. Doch leider beziehen Sie das Parlament nicht wirklich aktiv mit ein.

Ich war doch sehr verwundert, dass ich von der Verzögerung des Gesetzgebungsverfahrens und der Verschiebung des Rechtsanspruchs aus den Medien erfahren habe. Wäre es nicht eigentlich selbstverständlich gewesen, wenigstens die Ausschussmitglieder – wenn nicht schon beratend, so doch zumindest informell – mit einzubeziehen?

(Beifall von den PIRATEN)

Schon eine kurze Mail hätte genügt, um uns auf den aktuellen Informationsstand zu bringen. Das hätte Ihre Glaubwürdigkeit sicherlich gestärkt. Ihnen scheint es jedoch wichtiger zu sein, hier die Medien zu bedienen, statt auf Kooperation mit dem Parlament zu setzen.

Vor allem erwarte ich, dass Sie die Einwände und Bedenken der Betroffenen ernst nehmen. Den Stein der Weisen für die Umsetzung der Inklusion haben Sie mit dem Referentenentwurf nicht gefunden. Die Diskussion ist wieder eröffnet. Die Vorstellungen und Konzepte sind auf dem Prüfstand; dazu haben wir hier schon Anfang Juli unsere Kritik vorgebracht. Und auch der Entschließungsantrag der FDP bringt einige gute Ansatzpunkte.

Wir meinen, dass dem Elternwillen umfassend Geltung eingeräumt werden muss. Er erschöpft sich nicht im Rechtsanspruch auf einen Platz in der allgemeinen Schule. Dazu gehört auch das Recht auf Eröffnung eines Verfahrens auf Feststellung zum sonderpädagogischen Förderbedarf.

Zum Thema „Beteiligung“. Beim Gesprächskreis „Inklusion“ im Oktober monierten viele Teilnehmer die geringen Möglichkeiten, sich wirklich zu beteiligen. Einen überzeugenden Dialog hat es bisher nicht wirklich gegeben. Vor allem müssen Sie auf die Betroffenen zugehen. Es reicht nicht, hinter verschlossenen Türen zu verhandeln. So gewinnen Sie nicht die notwendige Akzeptanz der Eltern und der Lehrer für die Inklusion an unseren Schulen. Dazu ist die Verunsicherung im Moment zu groß.

Ich möchte noch einmal ausdrücklich betonen, dass das Thema „Inklusion“ am allerwenigsten für Parteigeplänkel und Wahlkampfrhetorik geeignet ist. Es ist die Aufgabe aller Beteiligten, gemeinsam um Lösungen zu ringen, damit wir wirklich kein Kind zurücklassen. Wenn ich jedoch sehe, dass hier permanent beteuert wird, dass wir das alles gemeinsam machen und dieses Thema nicht für Parteigeplänkel geeignet ist, um dann zwei Minuten später aufeinander einzudreschen, dann, meine Damen und Herren – mit Verlaub, Herr Präsident –, kotzt mich das an!

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Frau Kollegin. Dass Sie gerade einen unparlamentarischen Ausdruck verwendet haben, ist Ihnen augenscheinlich selbst bewusst. Ich bitte, das demnächst zu bedenken. – Jetzt erteile ich für die Landesregierung Frau Ministerin Löhrmann das Wort.

Sylvia Löhrmann, Ministerin für Schule und Weiterbildung: Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Pieper, zu Ihrem vorletzten Gedanken: Ich habe schon in der letzten Dezemberwoche den Gesprächskreis „Inklusion“ über den Stand der Dinge informiert. Meines Wissens sind auch die Fraktionen des Landtags im Verteiler. Ich habe also sehr transparent über die schwierigen Gespräche informiert, auch das Parlament. Wenn es irgendeinen Haken in der Zusendung geben sollte, dann tut mir das leid. Aber ich habe informiert, und Sie sind in dem Verteiler. Darauf lege ich großen Wert, weil wir nichts zu verbergen haben.

Meine Damen und Herren, während wir hier über die Inklusion diskutieren, bekommt die Kettelerschule aus Bonn den Jakob Muth-Preis. Unter dem Motto „Gemeinsam lernen – mit und ohne Behinderung“ zeichnet der bundesweit ausgeschriebene Preis für inklusive Schule pro Jahr drei Schulen aus. Auch von mir herzliche Glückwünsche nach Bonn!

(Beifall von den GRÜNEN)

Es ist nicht die erste Schule aus Nordrhein-Westfalen, die diesen Preis bekommt. Im Gegenteil, es ist das dritte Jahr in Folge. 2010 ging der Preis an die Montessori-Gesamtschule in Borken, im letzten Jahr an die Gemeinschaftsgrundschule Eitorf im Rhein-Sieg-Kreis und nun an die Ketteler-Grund­schule in Bonn. Das zeigt: Vielleicht ist der Begriff „Inklusion“ neu, aber sein Inhalt, sein Anliegen, die Herausforderung sind überhaupt nicht neu.

Meine Damen und Herren, auch die Wiege des gemeinsamen Lernens in unserem Land liegt in Bonn. Die Bodelschwingh-Schule war vor 30 Jahren deutschlandweit eine von vier Schulen, die als erste gemeinsamen Unterricht anboten. Seitdem ist viel passiert, besonders – darauf sind wir stolz – in den gut zwei Jahren unserer Minderheitsregierung. Dass unsere Politik erfolgreich ist, erkennen Sie unter anderem daran, dass der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die allgemeine und öffentliche Schulen besuchen, allein in einem Jahr um rund fünf Prozentpunkte oder um 25 % zugenommen hat und damit mehr als in Ihrer gesamten Regierungszeit. Das passiert nicht, weil wir das vorgeben oder erzwingen, sondern weil wir dem Elternwunsch eine höhere Bedeutung eingeräumt haben, als Sie das getan haben. Aus dem Grund steigen die Zahlen.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Von den 42 neuen Sekundarschulen, die zu Beginn des Schuljahres ihre Arbeit aufgenommen haben, arbeiten zwei Drittel integrativ und von den neuen Gesamtschulen sogar drei Viertel. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, das, was diese Schulen machen, was viele Grundschulen, aber auch die weiterführenden Schulen aller – ich betone: aller – Schulformen machen, was die Jakob Muth-Preisträgerschulen machen, nennen Sie „graue Inklusion“. Sie titulieren damit nämlich die Arbeit dieser Schulen, die in den ganzen Jahren entstanden ist. Sie glauben, Sie treffen mich. Sie treffen die Arbeit dieser gesamten Schulen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Nein, Inklusion ist nicht grau, Inklusion ist bunt. Grau steht für Einfalt, bunt steht für Vielfalt. Inklusion gestalten, leben und annehmen heißt, der Vielfalt unserer Kinder und Jugendlichen gerecht werden. Das wollen wir, und das wollen die vielen Schulen in unserem Land, die sich schon heute – teilweise seit Jahrzehnten, teilweise seit einem Jahr – dieser Aufgabe mit großem Engagement widmen.

Und eines noch, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU und FDP: Inklusion ist die Vollendung von individueller Förderung. Gerade darauf sind Sie doch so stolz,

(Beifall von den GRÜNEN)

dass Sie 2006 die individuelle Förderung in das Schulgesetz geschrieben haben. Das war mit das Einzige, was wir damals daran gut gefunden haben. Es reicht aber nicht, etwas ins Gesetz zu schreiben, liebe Kolleginnen und Kollegen. Dann bleibt es nämlich grau, lieber Herr Kaiser. Sie wissen doch ganz genau – nach Goethe –: „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie.“

(Dr. Joachim Stamp [FDP]: Das ist genau der Punkt!)

Gesetzliche Aufträge müssen durch Maßnahmen begleitet werden. Genau das tut diese Landesregierung seit gut zwei Jahren nach fünf Jahren Pause unter Schwarz-Gelb. Insofern, Herr Kollege Kaiser: Wenn etwas grau war, dann Ihr hohles Versprechen bei dem wichtigen Ziel der individuellen Förderung.

Meine Damen und Herren, dass wir so viele ausgezeichnete Schulen auch mit dem Deutschen Schulpreis, dem Jakob Muth-Preis haben, das ist nicht mein Verdienst.

(Beifall von Dr. Joachim Stamp [FDP])

Das ist aber auch nicht Ihr Verdienst. Das ist zuallererst das Verdienst der Zivilgesellschaft.

Im Grunde hat es in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit der Krüppelbewegung angefangen. In Nordrhein-Westfalen waren es Verbände wie „Gemeinsam leben lernen“ und „Mittendrin e. V.“, die diesen Prozess im Bereich Schule angestoßen und vorangetrieben haben. Diese Bewegung von unten hat in den Kommunen den Veränderungs- und Ausbauprozess ausgelöst und begleitet, oft gegen massivste Widerstände in der Schulaufsicht, in vielen Kommunen und in vielen Schulen. Dennoch haben sich engagierte Kräfte in Schulen und Kommunen auf den Weg gemacht.

Und es ist auch das Verdienst dieser Schulen, die in den 80er- und frühen 90er-Jahren oft ohne Unterstützung den Weg des gemeinsamen Lernens geebnet haben, sodass wir in Nordrhein-Westfalen eine so lange und bewährte Tradition haben. Diesen Akteuren, zu denen natürlich inzwischen auch viele engagierte Kräfte in der Schulaufsicht und in den Kommunen zählen, fühle ich mich verpflichtet. Das treibt mich an.

Weil ich endlich erreichen wollte, dass aus dem Wunsch nach gemeinsamem Lernen ein Recht wird, hatten wir als Regierung das Ziel, dass das Gesetz zum 1. August 2013 in Kraft tritt, wohl wissend, dass es seine volle Wirkung für die Betroffenen erst zum Schuljahr 2014/2015 entfalten würde. Das ist der Hintergrund.

Das Gesetzgebungsverfahren hat sich jetzt bekanntermaßen verzögert. Der Gesetzentwurf soll aber, wenn es nach der Landesregierung geht, dem Landtag so rechtzeitig zugeleitet werden, dass das Gesetz für die Grundschulanmeldungen im November und für die Anmeldung zu den weiterführenden Schulen im Februar greift. Und: Ein Gesetz verabschiedet ein Parlament, nicht eine Regierung!

Meine Damen und Herren, wir wissen auch, dass wir trotz dieses Ziels das System nicht überfordern dürfen. Das ist die Lehre aus Bremen und Hamburg, wo der Prozess der Inklusion zu ehrgeizig angelegt war. Wenn das für Stadtstaaten gilt, umso wie viel mehr gilt es für ein so großes heterogenes Flächenland wie Nordrhein-Westfalen! Meine gestern vorgelegten Zahlen haben auch deutlich gemacht, an welch unterschiedlichen Stellen die Kommunen bei diesem Vorhaben stehen.

Daher setzen wir den Rechtsanspruch stufenweise und aufwachsend um. Es gibt auch einen Umsetzungsvorbehalt, falls es in dezidiert zu begründenden Einzelfällen noch nicht möglich sein sollte, die sächlichen und personellen Voraussetzungen zu schaffen. Das sagen wir den Betroffenen. Das gebietet die Ehrlichkeit. Wir müssen aushalten, dass sie damit nicht zufrieden sind.

Meine Damen und Herren, die Stellung der Eltern wird trotzdem deutlich gestärkt. Die Wirkungen, die mein Erlass vom Dezember 2010 entfaltet hat, trägt der Gesetzentwurf weiter. Mein Ansatz „Der Elternwille zählt“ wird im Gesetz gefestigt.

Zum Verfahren: Aus einem Referentenentwurf wird im Prozess ein Gesetzentwurf. Dieser Prozess hat die Funktion, dass die Stellungnahmen ausgewertet werden. So machen wir das zumindest. Sie haben sich früher immer schon vorher geeinigt. Dann durfte nichts mehr geändert werden, weil der Burgfriede, den CDU und FDP manchmal geschlossen hatten, sonst zerbrochen wäre. Wir meinen die Beteiligungsverfahren ernst und ziehen daraus entsprechende Schlüsse.

Die CDU möchte mit dem Antrag den Ausbauprozess des gemeinsamen Lernens stoppen. Sie verlangt tatsächlich, ich solle den Ausbau nicht fortsetzen. Es gebe keine Rechtsgrundlage, haben Sie gesagt, Herr Kaiser. Offenbar kennen Sie trotz fünfjähriger Regierungszeit und einer weitreichenden Überarbeitung des Schulgesetzes von 2006 nicht die Grundlagen. Neben der Verankerung der individuellen Förderung ist im Schulgesetz auch der Ausbau des gemeinsamen Unterrichts angelegt. Ich zitiere den § 20 Abs. 7:

„Gemeinsamen Unterricht für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf kann die Schulaufsichtsbehörde mit Zustimmung des Schulträgers an einer allgemeinen Schule einrichten, wenn die Schule dafür personell und sächlich ausgestattet ist.“

Nicht 2009, Herr Kollege Kaiser, sondern 2006! An der Ausgestaltung dieser Umsetzung haben Sie dann aber nicht gearbeitet, wie meine gestern vorgestellten Zahlen eindeutig belegen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Erst wir haben alles das, was Sie versäumt hatten, auf den Weg gebracht: mehr Stellen, mehr Studienplätze, mehr Fortbildung und die zusätzliche berufsbegleitende Ausbildung. Frau Voigt-Küppers und Frau Beer haben die Zahlen schon genannt.

Und Sie werfen ausgerechnet mir vor, ich sei untätig! Verehrte Kolleginnen und Kollegen, genauso gut könnten Sie Mario Götze empfehlen, er möge doch endlich mal anfangen, Fußball zu spielen.

(Beifall von den GRÜNEN – Dr. Joachim Stamp [FDP]: Das ist ja wohl vermessen!)

Die Krönung kam dann gestern, Herr Kaiser. Gestern habe ich zum ersten Mal gehört, Frau Sommer habe mir das alles hinterlassen. Das Einzige, was sie mir bei der Amtsübergabe übergeben hat, war der Blauhelm, den sie von Frau Beer geschenkt bekommen hatte. Wenn es etwas gegeben haben sollte, hat der Staatssekretär es kassiert, befürchte ich. Ich habe also keinerlei Unterlagen über irgendwelche Einigungen, die Sie erarbeitet hätten.

Meine Damen und Herren, ich komme noch einmal zu den Kommunen. Die Landesregierung hat mehrfach unter Beweis gestellt, dass sie mit allen Beteiligten die Problemlagen erörtert. Wir machen gerade im Schulbereich eine extrem kommunalfreundliche Politik.

(Beifall von den GRÜNEN)

Denken Sie nur an die Schulentwicklung in den Grundschulen und die Schulentwicklung im Bereich der Sekundarstufe I.

Auch zum Thema „Inklusion“ haben wir unzählige Gespräche geführt. Obwohl es eine Verzögerung des Gesetzgebungsverfahrens bedeutet hat, war die Landesregierung bereit, eine Arbeitsgemeinschaft mit den Kommunen zu bilden, um Belastungs- und Entlastungsfaktoren zu erörtern und vielleicht zu einer Annäherung zu kommen. Ich bedaure sehr, dass die Kommunen nach langem Überlegen dann doch nicht dazu bereit waren. Aber natürlich steht die Tür für weitere Gespräche jederzeit offen.

Selbstverständlich wird die Landesregierung im jetzigen Verfahren der Ressortabstimmung die sensible Frage der möglichen Konnexitätsrelevanz noch einmal prüfen, bevor sie dem Landtag den Gesetzentwurf zuleitet.

Meine Damen und Herren, Sie machen es sich zu leicht, wenn Sie schon jetzt einseitig sagen, es sei konnexitätsrelevant. Wie viel wollen Sie denn bezahlen? Wie viele Lehrerstellen soll es denn mehr geben, Herr Kaiser?

(Klaus Kaiser [CDU]: Sie müssen die Kostenfolgeabschätzung vorlegen! Sie müssen Ihren Job machen!)

Machen Sie sich die Forderung des VBE oder die Forderung der GEW zu eigen? Sie wollen den Kommunen einen Blankoscheck ausstellen. Sie machen es sich sehr leicht – allen wohl und keinem wehe. Das ist eine populistische Fundi-Haltung der Opposition, die überhaupt nicht weiterführt.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD – Klaus Kaiser [CDU]: Quatsch!)

Die CDU beweist mit ihrem Antrag nur, dass sie von der Regierungsverantwortung in Nordrhein-Westfa­len Lichtjahre entfernt ist. Wir dagegen gehen beim Thema „Inklusion“ zielgerichtet und sorgfältig vor. Es hat sich bewährt, dass wir den Prozess von Anfang an zweigleisig angelegt haben.

Meine Damen und Herren, die UN-Behinderten­rechtskonvention ist ein Auftrag an alle staatlichen Ebenen. Statt konstruktiv daran mitzuwirken, schüren Sie mit Ihrem Vorgehen die Vorbehalte und die Ängste. Sie schüren auch das Denken, dass Inklusion eine Last sei, meine Damen und Herren. Dass Sie so tun, als sei das eine Last, halte ich im Grunde für das Schlimmste an Ihrem Vorgehen.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Ich dagegen bin davon überzeugt, dass Inklusion ein Gewinn ist. Genau das zeigen die vielen Schulen wie die heute ausgezeichnete Kettelerschule. Die inklusive Schule ist gut für alle Kinder und für unsere Gesellschaft.

Kein Geringerer als Bundespräsident Gauck hat dies im Oktober 2012 in einer sehr eindrucksvollen Rede vor dem Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband ausgeführt. Ich zitiere:

„Dass all diese Kinder, all diese Verschiedenen gemeinsam in einer Schule zu jungen Erwachsenen reifen, ist mehr als ein Bildungsansatz. Es ist ein neues Lebenskonzept, … Weil wir den Wert eines jeden Menschen anerkennen wollen: So wie das Schicksal ihn ausgestattet und befähigt hat, soll jeder seinen Platz im Klassenzimmer und in der Mitte unserer Gesellschaft finden.“

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Frau Ministerin. – Für die CDU hat jetzt Frau Kollegin Vogt das Wort zu einem allerdings zeitlich etwas limitierten Beitrag, wie sie sicherlich weiß. Bitte schön, Frau Kollegin.

Petra Vogt (CDU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe eine Minute. Ich könnte wahrscheinlich 20 Minuten dazu sprechen. Ich würde mich sehr gerne auch noch an der Vergangenheitsbewältigung beteiligen.

Eines muss ich allerdings sehr deutlich zuweisen, Frau Löhrmann: Wir sind nicht der Meinung, Inklusion ist eine Last; sondern Inklusion ist ein Menschenrecht. Sie können sich in unserem Antrag ganz genau ansehen, was wir uns darunter vorstellen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Da mir jetzt nur eine Minute Zeit bleibt, Frau Löhrmann, mache ich lediglich auf Folgendes aufmerksam: Sie hatten drei Jahre Zeit. Mein Fazit Ihrer Rede gerade ist: Sie haben kein pädagogisches Konzept, Sie haben kein finanzielles Konzept, Sie haben kein organisatorisches Konzept, und Sie haben auch kein zeitliches Konzept. Deswegen kann ich Ihnen am heutigen Tage sagen: Mit dem Thema „Inklusion“ sind Sie bereits gescheitert. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Frau Abgeordnete. Das war zeitlich eine Punktlandung. – Wir kommen damit zu Frau Kollegin Hendricks, der ich für die SPD das Wort erteile.

Renate Hendricks (SPD): Meine sehr geehrten Damen und Herren!

(Zuruf)

– Es gibt Leute, die sich durch unqualifizierte Bemerkungen profilieren müssen. Ich glaube aber nicht, dass das die Aufgabe des Parlamentes ist, erst recht nicht in einer Diskussion um Inklusion.

Frau Pieper, ich möchte bei Ihnen anfangen, weil ich glaube, dass es Verständnisprobleme gibt. Es gab einen Referentenentwurf – das ist nämlich ein Regierungsentwurf, der in dieses Parlament eingebracht wird –, der in das Anhörungsverfahren hineingeht, das vorgeschrieben ist. Und dieses Anhörungsverfahren ist ausgeweitet worden, weil die Landesregierung viele Beteiligte in dieses Verfahren mit hineingenommen hat. Das muss ausgewertet werden. Das ist auch das Fundament, um am Ende vernünftig eine Weiterentwicklung des Gesetzentwurfes zu erarbeiten, die dann dem Parlament zugeleitet wird. Dies ist der Prozess, der zurzeit läuft.

In diesem Prozess hat es viele Gespräche gegeben. Frau Löhrmann hat eben darauf hingewiesen. Und es wird auch, wenn der Gesetzentwurf eingebracht worden ist, weitere Gespräche geben, denn dann ist das Parlament an der Reihe und kann sich mit dem Gesetzentwurf auseinandersetzen und eine eigenen Anhörung durchführen, eigene Gespräche führen. Ich glaube, das Prozedere ist bei Ihnen noch nicht ganz angekommen. Insofern ist es vielleicht notwendig, das noch einmal zu erklären.

(Zuruf von Monika Pieper [PIRATEN])

Es ist auch wichtig, in die Geschichte einer Entwicklung einzutreten. Wenn man die Geschichte nämlich nicht kennt – das gilt auch für unsere eigene Geschichte –, ist man häufig nicht in der Lage, die Dinge wirklich zu verstehen. Ich will versuchen, das noch einmal zu erklären.

Wir haben gemeinsam einen Schulkonsens auf den Weg gebracht. Dieser Schulkonsens ist gelungen, wir stehen auch dazu. Wir hatten als Rot-Grün gehofft, dass wir aus diesem Schulkonsens heraus auch gemeinsam die Inklusion stemmen könnten. Es gab erhebliche Signale vonseiten der CDU, die nämlich im Dezember 2011 ein Papier erarbeitet hat, das sie dann über den Fraktionsvorsitzenden nicht mehr hat durchbringen können und das dann einkassiert worden ist. Das hat dazu geführt, dass wir am 14. März 2012 versucht haben, den eigenen Antrag ins Parlament einzubringen. Die Minderheitsregierung war am Ende, weil der Haushalt nicht beschlossen worden ist, wie Sie alle wissen.

Wir hatten dann Wahlkampf. Wir haben vor der Sommerpause mit einem Antrag das Parlament wieder erreicht und sind jetzt im geordneten Gesetzgebungsverfahren. Dass es am Ende ein bisschen länger dauert, als wir es uns ursprünglich vorgestellt haben, ist aufgrund der Geschichte verständlich. Herr Kaiser und Frau Vogt, wir haben es sehr bedauert, dass Sie nicht mit uns zusammengearbeitet haben.

Wenn Sie heute diesen Antrag vorlegen, dann hat das auch etwas damit zu tun, dass Sie außen vor und nicht mehr mit drin sind. Das heißt, Sie haben die Türe zugeschlagen und sind am Prozess nicht mehr beteiligt. Das ist jetzt aber Ihr Pech. Deshalb müssen Sie die normale Oppositionsrolle einnehmen und heute mit Forderungen auftreten, die im Grunde genommen durch die Überarbeitung des Gesetzes längst obsolet sind.

Was ich überhaupt nicht mehr verstehen kann, ist Ihre sonderbare Pressemitteilung von gestern. Diese Pressemitteilung, Herr Kaiser, ist sehr amüsant, weil sie haarscharf die Unwahrheit mit auf den Weg gibt. Ich weiß nicht, wie die Presse damit umgeht. Aber dass Sie einfach schreiben, wir würden die Unterstützung kürzen, ist schlicht und einfach falsch. Sie waren dabei, als der Haushalt im Schulausschuss eingebracht worden ist. Sie wissen, welche Unterstützung der Haushalt ausweist. An diesem Punkt sagen Sie schlicht und einfach die Unwahrheit.

Noch dramatischer wird es, wenn man sich anguckt, was Sie zum Thema „Vorbereitung“ leisten. Ja, wir wissen, dass Lehrer ca. 6 1/2 Jahre brauchen, bis sie ausgebildet sind. Sie haben eben so schön auf drei Jahre verwiesen. Wer den Inklusionsprozess hätte beschleunigen wollen, hätte schon während Ihrer Regierungszeit anfangen müssen, Lehrer auszubilden. Stattdessen haben Sie ein Hochschulfreiheitsgesetz auf den Weg gebracht, das es uns überhaupt nicht mehr möglich macht, den Hochschulen zu sagen:

(Zuruf von Klaus Kaiser [CDU])

„Bildet Lehrer aus“, es sei denn, wir geben ihnen das Geld. Das ist doch das, was Sie in diesem Land angezettelt haben, genau das, Herr Kaiser. Dann kommen Sie scheinheilig einher, was die Frage der Konnexität angeht.

(Zurufe von der CDU – Bernd Krückel [CDU]: Wer schreit denn da?)

Im Rahmen des KiföG haben Sie dargelegt, was Konnexität für Sie bedeutet.

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Entschuldigung, Frau Abgeordnete. Würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Sternberg zulassen?

Renate Hendricks (SPD): Ja, klar, natürlich.

Prof. Dr. Thomas Sternberg (CDU): Vielen Dank für die Fragemöglichkeit. – Erste Frage: Ist Ihnen bekannt, dass über eine Zielvereinbarung sehr wohl weitere Studienplätze hätten geschaffen werden können? Ist das geschehen?

Die zweite Frage, die damit zusammenhängt: Ist Ihnen bekannt, dass über Weihnachten die Universitäten in Nordrhein-Westfalen mit der Aufforderung angeschrieben worden sind, die Ausbildung für sonderpädagogische Lehrer durchzuführen, was allerdings so erbärmlich finanziert wird, dass die Universitäten das in großer Mehrheit als Zumutung zurückgewiesen haben?

Renate Hendricks (SPD): Herr Prof. Sternberg, mir ist bekannt, dass man das über Zielvereinbarungen machen kann. Aber die Universitäten möchten für die Zielvereinbarungen in der Regel immer Geld hinterlegt haben. Wir haben in den Haushalt 2013 Geld eingestellt. Wir wollen die Kapazitäten ausbauen. Auch das wissen Sie, denn der Haushalt ist Ihnen ja vorgestellt worden.

Wir haben darüber hinaus eine Sofortmaßnahme auf den Weg gebracht, die sicherstellt, dass wir Sonderpädagogen möglichst schnell bekommen, die diesen Prozess begleiten. Das heißt, Sie haben es im Grunde genommen verbockt, die Ausbildung rechtzeitig auf den Weg zu bringen – nicht wir.

(Zuruf von Klaus Kaiser [CDU])

Meine Damen und Herren, Frau Pieper hat in einem recht: Das Thema „Inklusion“ ist so wichtig für die gesamte Gesellschaft, weil es nicht nur Auswirkungen auf die Schulen, sondern Auswirkungen auf das gesamte Gesellschaftssystem haben wird. Es ist auch eine Frage dessen, mit welchem Bewusstsein wir Menschen gegenübertreten und in welcher Gesellschaft wir überhaupt leben wollen. Für mich ist es immer wieder faszinierend, dass die kanadische Gesellschaft an diesem Punkt völlig anders aufgestellt ist als unsere Gesellschaft. Solch eine Diskussion wie hier könnte man in Kanada gar nicht führen; die wüssten gar nicht, wovon wir reden.

(Josef Hovenjürgen [CDU]: In Kanada machen Sie Gott sei Dank keine Politik!)

Don Bosco, ein italienischer Geistlicher und Erzieher aus dem 19. Jahrhundert,

(Zuruf von der CDU: Oh! Oberlehrer!)

hat einmal die auf Solidarität, Toleranz und Kooperation ausgerichtete Pädagogik vertreten. Er hat darauf hingewiesen: „Traue den Menschen anspruchsvolle Ziele zu, und sie werden sich bemühen, deiner Erwartung zu entsprechen.“ Das, meine Damen und Herren, wollen wir mit der Inklusion tun. Ich bin sicher, dass wir von den Menschen in Nordrhein-Westfalen mehr erwarten können, als Sie heute in der Diskussion gezeigt haben. – Ich bedanke mich.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Frau Kollegin Hendricks. – Für die FDP-Fraktion spricht nun Herr Kollege Dr. Stamp.

Dr. Joachim Stamp (FDP): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich muss gestehen, dass ich über die Überheblichkeit und den Ton in der Debatte etwas verwundert bin.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Frau Ministerin, dass Sie sich nach der Performance der letzten Tage allen Ernstes mit Mario Götze vergleichen, ist schon ein tolles Ding.

(Zuruf von Ministerin Sylvia Löhrmann)

Ich freue mich, dass die Kettelerschule bei mir in Bonn den Jakob Muth-Preis bekommen hat. Ich sage Ihnen auch, Frau Löhrmann: Ich bin froh, dass Sie wenigstens an dieser Stelle gesagt haben, das sei nicht Ihr Verdienst. In Ihrer Pressemitteilung sieht das ganz anders aus. Es ist die tolle Arbeit eines fantastischen Kollegiums, einer Schulleitung, von externen Partnern, der Zivilgesellschaft, die sich dort eingebracht hat, und im Übrigen – der Kollege Beu sitzt dort – auch der damaligen Ampelkoalition in Bonn, die 2006 in einer schwierigen Haushaltslage den richtigen Schwerpunkt in einem sozial schwierigen Umfeld setzen wollte. Das zeigt, dass Inklusion dann gelingen kann, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Aber dazu muss man den Kommunen auch die Chance geben. Das bemängeln wir. Ich kann nur sagen: Kehren Sie um, dann haben Sie uns an Ihrer Seite. – Danke schön.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die Piratenfraktion hat noch einmal Frau Abgeordnete Pieper um das Wort gebeten, das sie selbstverständlich erhält.

Monika Pieper (PIRATEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Frau Hendricks, ich schätze Sie sehr. Ich bedanke mich außerordentlich für Ihre Belehrungen. Ich bin zwar noch nicht lange hier, aber die Verfahren sind mir durchaus bekannt. Auch wenn ich 20 Jahre in einer Förderschule gearbeitet habe, heißt das nicht, dass ich persönlich sonderpädagogischen Förderbedarf habe. – Danke.

(Beifall von den PIRATEN, der CDU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Frau Kollegin Pieper. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir sind damit am Schluss der Beratung angelangt und kommen zur Abstimmung.

Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Antrags Drucksache 16/1907 einschließlich des Entschließungsantrags Drucksache 16/1956 an den Ausschuss für Schule und Weiterbildung – federführend – sowie an den Ausschuss für Kommunalpolitik. Die abschließende Beratung und Abstimmung soll im federführenden Ausschuss in öffentlicher Sitzung erfolgen. Wer der Überweisungsempfehlung zustimmen möchte, den darf ich um das Handzeichen bitten. – Erhebt sich Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Enthaltungen? – Gibt es auch nicht. Damit ist die Überweisungsempfehlung einstimmig angenommen.

Wir treten ein in Tagesordnungspunkt

4   Berücksichtigung einer Stadtbahntrasse bei den Planungen zum Neubau der Rheinbrücke Leverkusen

Antrag
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/1900

Ich eröffne die Beratung und erteile für die antragstellende Fraktion zunächst Herrn Kollegen Bayer das Wort.

Oliver Bayer (PIRATEN): Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuschauer auf dieser Rheinseite und auf der anderen! Dies ist eine Fortsetzung. Erst am letzten Ple­nartag Mitte Dezember haben wir über die Rheinbrücke Leverkusen, die marode Infrastruktur und die Finanzierung von Sanierungsaufgaben diskutiert. Diese Themen werden uns noch eine Weile begleiten.

Zur verantwortungsvollen Aufgabe, Verkehrsbauwerke zu modernisieren, gehört auch, an die Infrastruktur und Stadtplanung in den nächsten Jahrzehnten zu denken, nicht den Bedarf aus den 60er-Jahren fortzuschreiben, sondern neu zu überlegen. Positiv formuliert: Trotz aller Finanzierungsprobleme ist der Sanierungsstau eine Gelegenheit zur Erneuerung und eine Chance zur Gestaltung. Wer das übersieht, hat in zwei, drei Jahrzehnten neue Probleme. Eine derartige Brücke wird heutzutage für eine Nutzungsdauer von 80 bis 100 Jahren konzipiert. Wenn die A1-Brücke planmäßig 2025 fertiggestellt wird, dann steht sie bis in das 22. Jahrhundert.

Wie sieht unsere Verkehrsplanung bis dahin aus? – Bereits in den 70er-Jahren hatte man einen Ausbau des Kölner Rings gefordert und sich zuerst sechs Spuren, jetzt acht Spuren überlegt. Dem Problem wird damit lediglich mehr Platz zugewiesen. Abgesehen davon, dass der achtstreifige Ausbau bei Leverkusen schwierig wird, der Platz kostbar ist: Wie geht es danach weiter?

Wenn man ein Jahrhundert in die Zukunft plant, kann man auch einmal die Zukunftspläne von vor 100 Jahren beachten. Im Jahre 1898 wurde wenige Meter von hier die Oberkasseler Brücke gebaut. Ich meine nicht die aktuelle Schrägseilbrücke, sondern die alte Bogenbrücke mit steinernem Brückenkopf und bereits der Straßenbahn. Die Folge dieser Investition der Rheinischen Eisenbahn-Gesellschaft waren ein Bauboom in Oberkassel, ein Aufblühen des Stadtteils und mehr als eine Verdoppelung der Einwohnerzahl innerhalb eines Jahrzehnts. Das hatte man so nicht erwartet. Städte entwickeln sich entlang ihrer Verkehrsinfrastruktur. Flussquerungen in der Größenordnung sind Jahrhundertentscheidungen, welche die Gestalt einer Region weit über die Lebensdauer des Bauwerks hinaus beeinflussen. Wie schön, wenn man sich für die Zukunft, die wir nicht kennen, die Möglichkeiten offenhält, die Option anbietet, den Rhein mit verschiedenen Verkehrsmitteln zu überqueren.

(Beifall von den PIRATEN)

Wenn das Geld vorhanden ist, eine Alternativplanung für eine achtspurige Variante zu prüfen, dann muss es auch möglich sein, eine Variante mit leichten Schienenfahrzeugen zu überprüfen. Eine solche Variante würde durchaus Sinn machen, wenn man sich die Auslastung der Rheinbrücke genauer anschaut: Weit verbreitet ist die Zahl von 120.000 Fahrzeugen pro Tag, die die Brücke überqueren.

Der Verkehrsstärkenerhebung 2010 kann man auch entnehmen, dass das Verkehrsaufkommen auf beiden Seiten des Rheins drastisch sinkt. Etwa 20.000 Fahrzeuge fahren vor der Brücke auf und nach der Brücke wieder ab. Sie nutzen mit ihrem Auto also die einzige dort verfügbare Rheinquerung. Vereinfacht: Ein Sechstel des Verkehrs machen Nahverkehrspendler aus.

(Vorsitz: Vizepräsident Daniel Düngel)

Wir haben also zusätzlich zu den vorhandenen ÖPNV-Nutzern einen Bedarf in einer Größenordnung, der den Ausbau einer Stadtbahnlinie durchaus rechtfertigen könnte – wäre da nicht die teure Rheinquerung.

Auf Kölner Seite endet die Stadtbahntrasse in einer unattraktiven Schleife nebst der Brücke, in Leverkusen wartet das nahe Einkaufszentrum auch auf Entlastung vom Parksuchverkehr Auswärtiger.

Die Stadtentwicklung Leverkusens ist in den nächsten Jahrzehnten eng mit der Brücke und der Sanierung der Stelzenbauten bis zum A3-Autobahnkreuz verknüpft. Es gibt ein enges Zeitfenster für die wichtigen städtebaulichen Weichenstellungen. Daher fordert man in Leverkusen über alle Fraktionsgrenzen hinweg einen Tunnel, der jedoch weder eine Stadtbahn noch Fußgänger oder Radfahrer berücksichtigen würde, die bereits heute die Rheinquerung nutzen.

Selbst vorgestern, als auch wir im Schneematsch die Brücke im Zuge einer Ortsbegehung überquerten, kamen uns mehrere Radfahrer entgegen. Der Radverkehr darf beim Neubau natürlich nicht vergessen werden. Fußweg, Radfahrer und Stadtbahn!

Natürlich ist uns klar, dass eine Autobahn selbst dann, wenn sie für den Nahverkehr genutzt wird, eine Bundesfernstraße ist, für die der Bund finanziell verantwortlich ist, und wir bei der Nutzung von Synergien, die eigentlich helfen sollten, weniger Geld auszugeben, auf das Problem der verschiedenen Geldtöpfe treffen. Wenn alle technischen Probleme, angefangen bei der Deponie bis zur Führung der Stadtbahntrasse, gelöst werden können – und davon gehe ich aus –, muss auch dieses Problem lösbar sein. Wir können es uns nicht leisten, alle Ideen, die über eine bloße Autobahn hinausgehen, zu verwerfen. Das stünde einer vernünftigen, vorausschauenden Verkehrs- und Stadtentwicklung fundamental entgegen. Das gilt für die Rheinbrücke Leverkusen, und das gilt für die Modernisierung der Verkehrsinfrastruktur in Nordrhein-Westfalen generell. – Vielen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Daniel Düngel: Vielen Dank, Herr Kollege Bayer. – Für die SPD-Fraktion spricht nun Herr Kollege Tüttenberg.

Achim Tüttenberg (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den letzten Wochen haben sich der Landtag, der Verkehrsausschuss, die Fraktionen, aber auch die Regionalräte und die kommunalen Vertretungen sehr lebhaft, kritisch, durchaus auch selbstkritisch mit der Frage befasst: Wie können wir es in einer modernen Industriegesellschaft schaffen, Mobilität dauerhaft zu gewährleisten? Diese Frage steht auch vor dem Hintergrund der zunehmend schwierigeren finanziellen Eckdaten im Vorfeld der Schuldenbremse.

Dabei geht es um die Setzung von Prioritäten, die sich natürlich über Vorrangigkeiten, aber auch über Nachrangigkeiten definieren. Viele haben Schwierigkeiten durchlebt oder besser gesagt „durchlitten“. Von vielen Dingen, die wünschenswert sind, müssen wir uns zumindest für eine gewisse Zeit verabschieden und stattdessen definieren, was wir innerhalb eines überschaubaren Zeitraums leisten können, was wir tatsächlich realisieren können.

Ich will einige Beispiele nennen – Sie haben gerade ein Schienenprojekt angesprochen, das Sie sich wünschen –, welche Schienenprojekte für uns zwar ganz wichtig sind, von denen wir aber noch nicht wissen, ob wir sie alle in dem Zeitraum, den wir uns wünschen, realisieren können.

Ich nenne den Rhein-Ruhr-Express, eine schnelle Schienenverbindung zwischen dem Rheinland und Westfalen. Da ist die Betuwe-Linie, die den Seehafen Rotterdam an die Rhein-Ruhr-Region anbindet. Es gibt den Eisernen Rhein, bei dem wir bemängeln, dass die Bundesregierung – jedenfalls aus unserer Sicht – nicht genug Gas gibt, um aus dem Hinterhafenbereich von Belgien Güter in den Rhein-Ruhr-Bereich zu bringen. Ich nenne den Ausbau des Bahnknotens Köln als Basis für ganz viele Dinge, die dort in Zukunft nicht mehr funktionieren werden, wenn man nicht die entsprechenden Kapazitäten schafft. Ich könnte viele weitere Beispiele nennen, etwa die Schienenverbindung zwischen Köln und Aachen oder auch die S 13 aus dem Bundesstadtbereich Richtung Flughafen.

Wir haben kurz vor Weihnachten – Sie haben es angesprochen, Herr Bayer – über den Teilaspekt „Straße“ gesprochen und gesagt, dass es insbesondere bei den Tunneln und Brücken einen Sanierungsstau gibt und wir uns massive und schmerzhafte Einschnitte überlegen müssen, wie wir die damit verbundenen Blockaderisiken meistern können.

Wir haben den Eindruck, dass sich in der Piratenfraktion eine wie auch immer zusammengesetzte Gruppe gefunden, Brainstorming veranstaltet und überlegt hat: Welche Ideen können wir in dieser Situation noch realisieren? Können wir sie vielleicht koppeln? Aber ob das Koppeln überhaupt mit Synergieeffekten verbunden ist, wissen wir nicht.

Aus unserer Sicht ist das jedenfalls der falsche Ansatz. So, wie Sie es definiert haben, handelt es sich um ein Stadtbahnprojekt, das die betroffenen Städte, um die es geht, offensichtlich gar nicht wollen. Zumindest propagieren sie es nicht, melden es nicht für die maßgeblichen Programme an.

Auch die örtlichen Piratenfraktionen scheinen dieses Projekt nicht zu propagieren. Jedenfalls geschieht das nicht transparent; auf den Homepages der Piraten in Köln und Leverkusen wird dieses Projekt nicht erwähnt. Auch wird es nicht für sinnvoll gehalten, darüber zu diskutieren. Deswegen empfinden wir auch das als einen falschen Ansatz.

Unsere parlamentarische Fairness gebietet es uns, diesen Antrag heute im Plenum nicht abzulehnen – obwohl wir das in der Sache für richtig hielten –, sondern ihn in den Fachausschuss zu überweisen. Damit geben wir Ihnen die Gelegenheit, zu reflektieren, ob man eine solche Idee quasi von oben herab über die betroffenen Kommunen in die Diskussion hineinzwingen sollte.

Wir sind davon überzeugt ist, dass man sich zunächst um die machbaren Dinge kümmern muss und um die, deren Priorität bereits definiert ist. Vielleicht muss das von unten wachsen, muss man das mit den Betroffenen, den Bürgern, den Kommunen diskutieren. Sie reklamieren doch sonst eigentlich immer für sich, dass solche Diskussionsprozesse aufgebaut werden müssen und stattfinden sollen. Wenn überhaupt, dann müsste man das auch auf diesem Gebiet so machen.

Deswegen gehen wir mit einem sehr, sehr kritischen Ansatz an dieses Projekt heran und möchten hier die Gelegenheit nutzen, um zu sagen: Wir müssen versuchen, uns auf das Machbare zu konzentrieren. Wir müssen unsere zeitlichen und politischen Kapazitäten konzentrieren. Nicht Kontinuität, sondern Konzentration ist angesagt. Deswegen halten wir es nicht für zielführend, zu überlegen, welche Wünsche es sonst noch gibt. Das wäre auch die falsche Botschaft ins Land hinein. – Schönen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Daniel Düngel: Vielen Dank, Herr Abgeordneter. – Nächster Redner ist nun der Kollege Rehbaum für die CDU-Fraktion.

Henning Rehbaum*) (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Gelegentlich sorgen die Aktivitäten der Piratenfraktion ja für Verwunderung im Landtag und bei den Bürgern in Nordrhein-Westfalen.

Dies gilt auch für parlamentarische Initiativen. Da hört man immer wieder die Forderung nach einem „ÖPNV für lau“,

(Lachen von Marc Olejak [PIRATEN])

bei der der Nahverkehr und die Arbeit der Menschen am Steuer, in den Werkstätten und in den Verwaltungen der Bus- und Bahnbetriebe offensichtlich verramscht werden soll.

So gesehen sind die Positionen der CDU-Fraktion und der Piratenfraktion in diesem Punkt meilenweit auseinander.

Bei dem uns vorliegenden Antrag sieht es allerdings anders aus.

(Zuruf von den PIRATEN: Hoi!)

Die Leverkusener Brücke steht stellvertretend für den Sanierungsstau der Verkehrsinfrastruktur in Nordrhein-Westfalen und

(Zuruf von der SPD: Schwarz-Gelb hat nur wenig getan!)

die Vernachlässigung der Verkehrsnetze in unserem Land. Das Land muss die Planungen für einen Neubau vorantreiben und abschließen.

Diese Dinge haben wir bereits plenar diskutiert – ebenso die Frage, warum der Landesregierung der tatsächliche Zustand der Brücke erst Ende 2012 aufgefallen ist, obwohl die Fokussierung auf die Brücken schon 2009 erfolgt ist.

Die nun für schwere Lkw gesperrte Leverkusener Brücke stellt ein Nadelöhr im rheinischen Straßennetz dar. Es ist gut, dass sich alle Parteien – bis hin zu den Grünen – für die Beseitigung dieses Engpasses im Straßennetz einsetzen. Ich wäre allerdings dankbar, wenn SPD und Grüne mit derselben Inbrunst für die Beseitigung von Straßenengpässen im ländlichen Raum kämpfen würden.

(Achim Tüttenberg [SPD]: Tun wir ja!)

Um den Umstieg möglichst vieler Bürger auf Bus und Bahn attraktiv zu machen, bedarf es eines zuverlässigen und attraktiven Nahverkehrsangebots in zumutbarer Reichweite zum Wohn- und Arbeitsort. Es bedarf aber auch einer leistungsfähigen Infrastruktur, das heißt Schienen, Bahnhöfe, Straßen, Busspuren, Haltestellen und Sicherheitssysteme.

Wer sich der Sache ohne ideologische Brille nähert, wird feststellen, dass die Erhaltung des Straßennetzes, die Beseitigung von Engpässen und gegebenenfalls auch die Erstellung von ausgesuchten Umgehungsstraßen eine zwingende Voraussetzung für leistungsfähigen Linienbusverkehr sind. Was nützt das schönste Schnellbussystem, wenn die Busse im Stau stecken bleiben?

Auch im Stadtbahnverkehr müssen Engpässe und Sackgassen im Schienennetz beseitigt und interkommunale Linien möglich gemacht werden. Pendlerströme lassen sich nicht durch Stadtgrenzen, Straßenbahnendstationen oder Wasserläufe aufhalten.

Tausende Pendler nutzen täglich die Leverkusener Brücke in beide Richtungen. Pendler, die auf den Schienenverkehr umsteigen wollen, haben hierzu derzeit keine Möglichkeit. Die Straßenbahnlinie 12 endet auf der linken Rheinseite.

Die vom Land – wie bereits angesprochen – jetzt zu leistende Planung für den Neubau der Autobahnbrücke sollte den von der Piratenfraktion eingebrachten Aspekt aufgreifen und prüfen. Eine Durchbindung hinüber auf die rechte Rheinseite könnte interessante Perspektiven für das rheinische Nahverkehrsnetz und die hiesigen Pendler eröffnen.

Der erforderliche Neubau der Leverkusener Brücke bietet die grundsätzlichen Voraussetzungen, um das Netz für den Schienenpersonennahverkehr auch an diesem Rheinabschnitt zu vervollständigen. Dabei müssen das Ob und das Wie unter der Maßgabe größtmöglicher Wirtschaftlichkeit in Zeiten knapper Kassen zusammen mit den Verkehrsbetrieben und den Verkehrsverbünden ernsthaft geprüft werden. Möglicherweise genügt es, zunächst keine Gleise auf der Brücke zu verlegen, sondern lediglich eine Trasse freizuhalten.

Wir erwarten vom Minister spätestens zur Diskussion im Fachausschuss einen detaillierten Bericht, aus dem zum Beispiel hervorgeht, ob an dieser Stelle Bedarf für eine Schienentrasse über den Rhein besteht, welcher Mehraufwand für die Planung, welche Mehrkosten für den Bau einer solchen Brücke entstehen und ob andere Maßnahmen bei einem solchen Projekt zurückstehen müssen. Weiterhin sollte – wie der Kollege Bayer andeutete – bei der Konzeption der Brücke geprüft werden, ob und wie den Bedürfnissen des Fahrrad- und E-Bike-Verkehrs Rechnung getragen werden kann.

Von den Aussagen des Ministers wird die Bewertung des Sachverhalts durch die CDU-Landtags­fraktion wesentlich abhängen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU)

Vizepräsident Daniel Düngel: Vielen Dank, Herr Rehbaum. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun der Kollege Beu.

Rolf Beu (GRÜNE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Grundsatz, zu überprüfen, ob alle Rheinbrücken – wenn sie sowieso umgebaut werden müssen – geeignet sind, andere Verkehrsträger mit zu berücksichtigen, ist eigentlich richtig. Trotzdem: In Zeiten knapper Kassen muss man sich immer fragen, ob dort genau diese Ziel- und Quellverkehre angemessen berücksichtigt werden.

E-Bikes-, Rad- und Fußgängerquerungen sind über alle Rheinbrücken vorzusehen. Ich glaube, dazu gibt es keine großen Diskussionen. Wenn man schon heute über die große Seine-Brücke in Höhe von Le Havre als Fußgänger gehen oder als Radfahrer fahren kann, dann muss dies zumindest auch bei allen Rheinbrücken möglich sein.

Etwas anders verhält es sich natürlich bei der Freihaltung von Trassen für die Schieneninfrastruktur, weil diese ungleich teurer würde. Allein die Trassenvorhaltung umfasst schon eine Änderung der gesamten Struktur und der Haltbarkeit – nicht mit Blick auf die Zeit, sondern auf die Tonnagetragfähigkeit der Brücke. Denn natürlich bringen Eisenbahn- oder Stadtbahnverkehre eine Gewichtsbelastung mit sich, die eine andere statische Wertigkeit erfordert als der normale Pkw- und Lkw-Verkehr.

Wir sagen also grundsätzlich Ja und stimmen für die Überweisung dieses Antrags an den Fachausschuss. Trotzdem können wir eine gewisse Skepsis schon heute nicht verhehlen.

In der Vergangenheit gab es wiederholt Überlegungen für eine Linienbusverbindung über den Rhein unter Nutzung der Leverkusener Autobahnbrücke. Die Machbarkeit wurde unseres Wissens durch die betroffenen Verkehrsunternehmen und die ÖPNV-Aufgabenträger Stadt Leverkusen und Stadt Köln geprüft. Eine direkte ÖPNV-Verbindung zwischen Leverkusen und dem Kölner Stadtteil Chorweiler gab es noch nie – auch nicht während der Landesgartenschau 2005, die zusätzliche Nachfragepotenziale beinhaltete. Wir gehen daher davon aus, dass eine Realisierung bisher an der geringen Nachfrage und fehlender Wirtschaftlichkeit scheiterte. Wie gerade angesprochen wurde, wird dies das Ministerium in der Fachausschussberatung entsprechend berichten.

Eine Stadtbahnverbindung zum Beispiel zwischen der Stadtbahnlinie 12 in Merkenich und dem Bahnhof Leverkusen-Mitte sollte aus Kostengründen meines Erachtens langfristig nur dann in Betracht gezogen werden, wenn bei Einrichtung eines Busverkehrs mit diesem keine nachfrage- bzw. bedarfsgerechten Angebote sichergestellt werden könnten.

Denn, Herr Rehbaum, natürlich ist klar: Wir stehen in Anbetracht der Finanzmittel in permanenter Konkurrenz zu anderen Strecken und zu anderen Leistungen. Es ist natürlich schwierig, einfach auf Vorrat zu bauen und zu planen, wenn uns dann woanders die Mittel im Land fehlen würden und hier die Nachfragepotenziale noch nicht gegeben sind.

Schließlich wären bisherige Prüfergebnisse, Nachfragepotenziale für eine machbare Trasse, langfristige Planung oder Finanzierung eines vorsorglichen Baus von Infrastruktur zunächst auch mit den betroffenen Gebietskörperschaften, also primär den Städten Köln und Leverkusen, zu debattieren, weil diese die ÖPNV-Aufgabenträger wären, die eine entsprechende Verkehrsleistung zu finanzieren hätten.

Man stellt sich natürlich jetzt die Frage, wo es ansonsten eine zusätzliche Rheinquerung für schienengebundene Verkehre geben kann. Für uns sind Möglichkeiten wie in Duisburg-Rheinhausen, wie in Düsseldorf an der Messe oder auch wie zwischen Bonn und Niederkassel für die bessere Schienenerschließung des Köln/Bonner-Flughafens an die linke Rheinseite eher prioritär als diese Maßnahme, die bisher weder von Leverkusen noch von Köln gefordert wurde.

Man könnte natürlich auch darüber nachdenken, die Brücke nicht für den Stadtbahnverkehr, sondern für den Schienengüterverkehr oder für den Werksverkehr zu nutzen. Aber wir sehen auch hier weder eine ausreichende Nachfrage noch eine Bypasswirkung für die Umgehung der Bestandsstrecken bzw. zur Entlastung im Hinblick auf das im internationalen Schienengüterverkehr prognostizierte Verkehrswachstum.

In diesem Zusammenhang ist auf das Maßnahmenpaket „Knoten Köln“ zu verweisen, welches abgestimmt mit der gesamten Region mittlerweile für die entsprechenden Förderprogramme auf der Bundesebene angemeldet wurde. Insofern sind zunächst die Maßnahmen prioritär voranzutreiben, die zu einer wesentlichen Kapazitätssteigerung des Schienenverkehrs führen. Hierzu bedarf es allerdings einer zügigen Bereitstellung der entsprechenden Planungsmittel durch den Bund. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsident Daniel Düngel: Vielen Dank, Herr Kollege Beu. – Für die FDP-Fraktion hören wir nun den Kollegen Rasche.

Christof Rasche (FDP): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit Mitte Dezember beschäftigt uns die Rheinbrücke in Leverkusen hier im Landtag aber auch weit darüber hinaus. Das wichtigste Ziel ist, sie schnellstmöglich wieder für den Lkw-Verkehr befahrbar zu machen. Der Bund hat dafür 1 Million € zur Verfügung gestellt. Das ist gut.

Die Idee, zwei Straßenbahngleise zwischen Leverkusen und Köln hinzuzusetzen, ist nicht neu. Sie kam, glaube ich, aus dem Oberbergischen kurz vor Weihnachten. Seitdem wird dieser Vorschlag in den verschiedenen Gremien der Städte Leverkusen und Köln, im VRS und im Regionalrat beraten. Man bewertet dort einen möglichen Bedarf, die voraussichtlichen Kosten und darüber hinaus auch, wer die tragen kann.

Das, was uns bisher zur Verfügung gestellt wurde, besagt, dass die Bewertung eher negativ ist, was sowohl den Bedarf betrifft als auch die enormen Kosten. Aber, meine Damen und Herren, das endgültige Ergebnis liegt noch nicht vor – weder von den Städten noch vom VRS, noch vom Regionalrat. Das sollten wir abwarten.

Die Piraten haben dieses Thema jetzt in dieses Hohe Haus gebracht. Das ist in Ordnung. Hoffentlich liegen die Bewertungen bis zur Sitzung des Verkehrsausschusses vor. Dann haben wir eine Grundlage, auf der wir nicht nur beraten, sondern auch entscheiden können. Das müssen wir abwarten. Der Überweisung stimmen wir natürlich zu. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der FDP)

Vizepräsident Daniel Düngel: Das ging schnell. Vielen Dank, Herr Rasche. – Für die Landesregierung hat nun Herr Minister Groschek das Wort.

Michael Groschek, Minister für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten! Prinzipiell finde ich es gut, dass alle Fraktionen gesagt haben: Ja, wir müssen das Spartendenken, ?handeln und -planen in der Verkehrspolitik überwinden und eher in Lösung von Mobilitätsproblemen denken. Diese müssen wir praktisch angehen, wenn es denn sinnvoll und möglich ist.

Sinnvoll und möglich scheint das an diesem Punkt nicht zu sein. Wir werden darüber ja noch ausführlicher im Ausschuss diskutieren. Ich glaube, dass diese Brücke deutlich machen wird, dass nicht alles, was wünschenswert scheint, auch praktisch machbar und sinnvoll ist.

Wir haben drei Gründe, warum wir da skeptisch sind.

Der erste Grund ist, dass der vermeintlich zu unterstellende Kostenvorteil wahrscheinlich gar nicht gegeben ist, dass möglicherweise noch nicht mal ein hauchdünner Kostenvorteil da ist. Vielmehr wäre eine Realisierung eher mit Mehrkosten verbunden. Das liegt an der ortstypischen Topografie und an den Bedürfnissen, entsprechende Lasten auf diese dann neue Brücke zu bringen.

Ein ganz praktischer Hinderungsgrund aus jetziger Sicht ist – auch das können wir im Ausschuss vertiefen – das verständliche Motiv des Bundes – das ist keine Schuldzuweisung –, der sagt: Unter dem Gesichtspunkt effizienten Erhalts wollen wir einen gesonderten Baukörper für die Autobahnbrücke. – Das hieße, wir müssten so oder so ein zweites, komplett selbstständiges Brückenbauwerk errichten, und das an einer topografisch sehr schwierigen Stelle, sodass – verglichen mit benachbarten Standorten – dieser Brückenbaustandort für Stadt- oder sonstige Bahnnutzungen wahrscheinlich teurer wäre. Aber das ist eine vorläufige Einschätzung, die noch nicht durch eine detaillierte Kostenplanung konkretisiert werden konnte.

Der zweite Punkt ist auch schon angesprochen worden. Weder die Bedarfsanmeldung noch die Bedarfsprüfung liegen bis jetzt vor. Ich glaube, wir sollten uns noch mal daran erinnern, welche formalisierten Schritte gegangen werden müssten, bevor man eine solche Brücke mit einer positiven Entscheidung auf den Weg geben könnte. Wir können das noch gemeinsam im Ausschuss erörtern. Jedenfalls ist in den jetzigen ÖPNV-Bedarfsplanungen weder vom Aufgabenträger, vom Vorhabenträger, noch vom Land eine solche Maßnahme bislang auch nur als Planungsperspektive angemeldet oder skizziert worden.

Auch der dritte Punkt wurde schon angesprochen. Wir dürfen beim Neubau der Autobahnquerung keine Zeit vergeuden. Wir müssen sehen, dass wir so zielstrebig wie möglich den Neubau realisiert bekommen, weil niemand eine Garantie abgeben kann, wie lange diese Brücke nach erfolgter Reparatur für den kompletten Verkehr real verfügbar bleibt. Deshalb müssen wir uns beeilen, den Neubau so schnell wie möglich zu errichten. Das ist ein sehr komplexes, sehr kompliziertes Bauvorhaben: Sondermülldeponie, Rheinquerung mit großer Spannweite, sehr komplizierte Infrastrukturanbindung der Straßen.

Deshalb appelliere ich, darüber in aller Ruhe im Ausschuss zu beraten und immer im Hinterkopf zu haben, dass wir diese Rheinquerung für die Straßenverkehre brauchen. Wenn darauf zusätzlich Verkehre untergebracht werden können, ohne dieses Ziel zu gefährden – herzlich gerne, wenn auch klar ist, wer welche Kosten trägt und wer welche Betriebe organisiert und finanziert. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Daniel Düngel: Vielen Dank, Herr Minister Groschek. – Wir sind damit am Schluss der Beratung. Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen mehr vor.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Antrags der Fraktion der Piraten Drucksache 16/1900 an den Ausschuss für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr. Die abschließende Beratung und Abstimmung soll dort in öffentlicher Sitzung erfolgen. Ich frage in die Runde, wer dieser Überweisungsempfehlung nicht folgen möchte. – Das ist niemand. Enthält sich jemand? – Nein. Dann ist diese Überweisungsempfehlung entsprechend angenommen.

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt

5   Die Lebensqualität von schwerstkranken Kindern und ihren Familien verbessern – pädiatrische Palliativ- und Hospizversorgung in Nordrhein-Westfalen unterstützen und bedarfsgerecht weiterentwickeln!

Antrag
der Fraktion der FDP
Drucksache 16/1620

Ich eröffne die Beratung. Für die antragstellende Fraktion hat Frau Kollegin Schneider das Wort. Bitte sehr.

Susanne Schneider (FDP): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Bundesweit gibt es 23.000 Kinder und Jugendliche, deren Lebenserwartung aufgrund einer unheilbaren Erkrankung begrenzt ist. Dies stellt die betroffenen Familien vor eine ungeheure Herausforderung. Um ihre Situation zu verbessern, ist eine angemessene palliative Pflege und palliativmedizinische Behandlung notwendig.

In diesem Bereich hat NRW mit einer 2007 gestarteten Landesinitiative Rahmenbedingungen geschaffen, damit Kinder und Jugendliche in ihrem vertrauten familiären Umfeld eine ganzheitliche Versorgung erhalten können. Dazu gehört auch die psychosoziale Betreuung der gesamten Familie.

Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die spezialisierte ambulante Palliativversorgung, die darauf zielt, die Selbstbestimmung und die Lebensqualität von schwerstkranken Menschen zu unterstützen und ihnen bis zu ihrem Tode ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Den besonderen Belangen von Kindern und Jugendlichen ist hierbei unbedingt Rechnung zu tragen.

Auch die Hospizarbeit hat für schwerstkranke Kinder und Jugendliche eigene Ansätze entwickelt. Kinder und deren Familien benötigen von der Diagnose an oftmals über viele Jahre hinweg eine intensive Unterstützung. Dies liegt unter anderem daran, dass bei Kindern häufig Gen-Defekte, Stoffwechselerkrankungen oder schwerste Mehrfachbehinderungen vorliegen und nicht wie bei Erwachsenen, die in ein Hospiz kommen, eine Krebserkrankung. Der Krankheitsverlauf kann sich bei Kindern sehr unterschiedlich entwickeln, sodass auf stabile Phasen auch immer wieder lebensbedrohliche Krisen folgen können.

Die Eltern und Geschwister dieser Kinder sind während dieser Zeit zum Teil ganz erheblichen Belastungen ausgesetzt. Während die ambulanten Hospizdienste ihr Angebot auf den Bedarf der Kinder und ihrer Familien daheim ausrichten, dienen die stationären Hospize als gemeinsamer Rückzugsort.

Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, jeder von Ihnen, der Kinder hat, weiß, dass schon ein „normal“ erkranktes Kind deutlich mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung erhält als ein gesundes Kind. Die gesunden Geschwister kommen dann erst an zweiter Stelle. Bei Kindern mit lebensbegrenzenden Erkrankungen ist das oft über Jahre der Fall.

Ein Kinderhospiz ist vor diesem Hintergrund nicht nur ein Ort des Sterbens, sondern es stellt sich der Aufgabe, die erkrankten Kinder und Jugendlichen und deren Familien vom Zeitpunkt der Diagnose an zu begleiten und über den Tod des Kindes hinaus Beistand zu leisten und Hilfe zu geben. Auch Eltern und Geschwister werden hier liebevoll betreut.

Hospize finanzieren sich neben Zuschüssen seitens der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung zu einem großen Teil aus Spenden. Um die bedarfsorientierte Versorgung in den Hospizen durch eine zusätzliche Vergütung über die gesetzliche Krankenversicherung sicherzustellen, wurden 2010 die Rahmenvereinbarungen nach § 39a SGB V über Art und Umfang sowie Sicherung der Qualität der stationären Hospizversorgung neu gefasst. Dort ist vorgesehen, dass den besonderen Bedarfen von Kindern und Jugendlichen zu entsprechen ist.

Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, genau hier bestehen nach Informationen der FDP-Fraktion Umsetzungsprobleme. So gibt es gerade in NRW, aber auch im ganzen Bundesgebiet offenbar einige Kostenträger, die diese Rahmenvereinbarung sehr eng auslegen und sich gegen eine Vergütung auf dieser Grundlage aussprechen – es sei denn, das betroffene Kind befindet sich in einem krisenhaften Zustand oder das Sterben steht unmittelbar bevor. Alle anderen Leistungen müssen alternativ über die Kurzzeitpflege nach dem SGB XI abgerechnet werden. Wir sind der Auffassung, dass dies nicht der Intention der Rahmenvereinbarung entspricht.

Aus diesem Grund fordern wir die Landesregierung mit diesem Antrag auf, sich dafür einzusetzen, dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen sowie deren Familien in unterschiedlichen Erkrankungsstadien einen Zuschuss zur voll- und teilstationären Versorgung im Sinne der Rahmenvereinbarung erhalten. Wichtig ist es, dass diese Regelung möglichst einheitlich umgesetzt wird.

Das gilt auch für die Umsetzung und Weiterentwicklung der spezialisierten ambulanten pädiatrischen Palliativversorgung in Nordrhein-Westfalen.

Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, die betroffenen Familien und Mitarbeiter der Hospize haben so viele Sorgen – ich würde ihnen gerne die Sorge um die Finanzierung nehmen.

Abschließend möchte ich im Namen der FDP-Landtagsfraktion allen danken, die in der Hospizarbeit eine unglaublich wertvolle Arbeit leisten. Besonderen Respekt verdienen hier auch die zahlreichen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der FDP)

Vizepräsident Daniel Düngel: Herzlichen Dank, Frau Kollegin Schneider. – Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Dr. Adelmann.

Dr. Roland Adelmann (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die palliative Versorgung von Kindern, das heißt die Sterbebegleitung von Kindern, ist eine große Herausforderung.

Wer von Ihnen schon mal am Bett eines sterbenden Kindes stand, der weiß, dass man dort um das Leben des Kindes kämpft, manchmal nächtelang, manchmal ein ganzes Team wochenlang, alles nur, um das kleine Leben zu retten. Oft ist das Kind genauso alt wie das Kind, das Sie zu Hause haben, genauso blond, genauso dunkelhaarig oder genauso klein.

Dann wird es schlimm, und zwar deshalb, weil das auch Momente sind, in denen Sie verstehen, wie die Eltern fühlen, wo Sie ganz und gar mit ihnen fühlen. Das ist auch der Zeitpunkt, an dem Sie verstehen, wie viel Kraft eine Sterbebegleitung kostet.

Diese Kraft wird in unserem Land jeden Tag von engagierten Menschen aufgebracht. Das Engagement dieser Mitmenschen geht weit über ein normales Engagement hinaus. Im täglichen Umgang mit todkranken Kindern bringt das ganze Team eine erhebliche Kraft auf, um das Geschehen als starke Schulter nicht nur zu begleiten, sondern auch selber verarbeiten zu können, was man hautnah erlebt.

Dabei gibt es, wie schon meine Vorrednerin sagte, einen großen Unterschied zwischen der Sterbebegleitung von Kindern und Jugendlichen und der von Erwachsenen. Sowohl die Erlebniswelt als auch der Wissenshintergrund eines Kindes sind vollkommen anders als bei einer lebenserfahrenen Person, die auf ein vielschichtiges Leben zurückblicken kann. Die Zeit, das Kommende zu akzeptieren, dauert bei einem Kind mindestens genauso lang wie bei einem erwachsenen Menschen. Die Begleitung braucht nicht nur eine kindgerechte Strategie, sondern auch und gerade ein Konzept für die Eltern und für die Geschwister.

Um die anstrengende Zeit der Begleitung, diese Schulter, darstellen zu können, muss sie frei von unnötigen Ablenkungen für die helfende Person sein. Sie muss auch frei von der Sorge sein, ob das helfende Angebot auch bis zum Ende zur Verfügung gestellt werden kann. Eine Finanzierung, die sich hauptsächlich aus Spenden rekrutiert, kann diese notwendige Sicherheit nicht geben. Der heutige Antrag der FDP wird Anlass sein, landesweit weiter an einem klaren und vernünftigen Konzept für die Finanzierung der Sterbebegleitung zu arbeiten. Die SPD begrüßt diese Forderung, da sie den Weg, den die Landesregierung bisher eingeschlagen hat, und das Vorgehen bekräftigt.

Der Prozess des Sterbens dauert bei einigen Kindern mehrere Jahre. Es kann durchaus vorkommen, dass ein Kind in dieser Zeit mehrfach einen Aufenthalt in einem Hospiz in Anspruch nimmt. Das ist nicht nur sinnvoll, um eine Entlastung der anspruchsvollen häuslichen Situation herbeizuführen, um einfach mal Luft zu holen, sondern das ist auch absolut sinnvoll, um für das Kind den Abschied vom eigenen Leben und für die Eltern den Abschied vom Leben des eigenen Kindes einleiten zu können. Dieser Aufenthalt schafft oft erst die notwendige Voraussetzung, um sich unter professioneller Begleitung und Hilfe mit dem Thema des Sterbens und des Abschiednehmens auseinanderzusetzen. Auch hier lohnt es sich, die finanziellen Begleitumstände dieser leider oft als „Urlaube“ eingestuften Aufenthalte mit entsprechenden finanziellen Einbußen neu zu strukturieren und bundesweit eine klare einheitliche Regelung zu schaffen.

Das genaue Vorgehen, um ein einheitliches Kostenerstattungsprinzip bzw. eine klare Struktur zu erreichen, werden wir gerne im federführenden Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales sowie im Ausschuss für Familie, Kinder und Jugend besprechen. Lassen Sie uns weiter gemeinsam an einer Lösung arbeiten, die für unsere Kinder und Jugendlichen sinnvoll ist. – Danke schön.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Daniel Düngel: Vielen Dank, Herr Abgeordneter. – Für die CDU-Fraktion spricht Frau Kollegin Doppmeier.

Ursula Doppmeier (CDU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin der FDP sehr dankbar, dass wir heute ein so wichtiges und sensibles Thema erörtern. Wir schenken so den Belangen aller Betroffenen, den Eltern und ihren Kindern, öffentliche Aufmerksamkeit. Das ist gut so. Hier wird eine Vielzahl von Erwartungen an uns herangetragen. Wir sollten uns alle unserer Verantwortung bewusst sein und den Erwartungen der Betroffenen partei- und fraktionsübergreifend gerecht werden.

Das Schicksal einer unheilbaren Erkrankung trifft jeden hart; aber am härtesten ist es sicher, wenn Kinder betroffen sind. Da ist es gut zu wissen, dass wir in Deutschland und vor allem auch in Nordrhein-Westfalen verschiedene Betreuungsangebote haben, die die betroffenen Menschen bei all ihren Sorgen und Nöten unterstützen und auffangen. Denn allein ist niemand einer solchen Belastung gewachsen.

Für die jungen Patienten ist bei einer schicksalhaften Diagnose besonders wichtig, dass sie als das behandelt werden, was sie sind: Kinder. Das ist bei den ambulanten Kinderhospizdiensten und in den stationären Kinderhospizen möglich. Wichtig ist aber die Arbeit eines Kinderhospizes nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Familien, die sich oftmals in einer Extremsituation befinden. Es gibt kaum eine größere und emotionalere Belastung für Eltern und Geschwister, als ein sterbenskrankes Kind zu begleiten.

Dieser Herausforderung müssen wir – Politik, Verbände und Krankenkassen – uns gemeinsam stellen und in erster Linie im Sinne aller Betroffenen handeln. Wir müssen versuchen, die psychische, seelische und nervliche Last für Eltern und Geschwister zu mindern. Genau hier setzt der Antrag der FDP an. Wir müssen die Lebensqualität von schwerkranken Kindern und deren Familien verbessern.

Das schaffen wir nicht, indem sich Politik und vor allen Dingen die Krankenkassen aus der finanziellen Verantwortung verabschieden und den Eltern schwerstkranker Kinder weitere finanzielle Sorgen und Nöte in den bereits vollen Rucksack packen. Wir müssen durch eine verantwortungsvolle und sensible Finanzpolitik dafür sorgen, dass sich Eltern für die Pflege und Betreuung ihrer Kinder nicht finanziell übernehmen. Es darf nicht sein, dass Eltern Hypotheken auf ihr Eigenheim aufnehmen müssen, um eine Pflegekraft, eine notwendige Operation oder andere lebensnotwendige Maßnahmen zu bezahlen, weil sich einige Kassen dezent zurückhalten oder sogar weigern. Wir dürfen in Deutschland keine amerikanischen Verhältnisse bekommen.

(Beifall von der CDU)

Ich appelliere an die Krankenkassen, Geld in die Verbesserung der Lebensqualität schwerkranker Kinder und ihrer Eltern zu investieren. Bitte machen sie nicht die Eltern zum Spielball zwischen SGB V und SGB XI! Wir alle müssen die Familien und vor allem die Geschwisterkinder im Blick haben. Während Eltern vielfach Tag und Nacht damit verbringen, ihr krankes Kind zu umsorgen und zu pflegen – oft bis an die Grenze der eigenen Belastungsfähigkeit und bis zur totalen Erschöpfung –, erhalten Geschwisterkinder in dieser Zeit oft nicht die notwendige Zuwendung und Aufmerksamkeit, die sie eigentlich bräuchten.

Gerade durch ambulante Kinderhospizdienste finden neben den Eltern auch die Geschwister der schwerkranken Kinder Verständnis, Fürsorge, Trost und Unterstützung. Wir dürfen keine Betreuungsform mangels Finanzierbarkeit zurücklassen; denn jede Form der Betreuung, ob ambulant oder stationär, ist für uns ein Signal der Mitmenschlichkeit und bedeutet einen Gewinn an Lebensfreude und Kraft für die Betroffenen. Lebensfreude und Kraft – das können die Geschwister von ihren Eltern aufgrund deren emotionaler Überlastung manchmal nicht mehr bekommen.

Darum muss unsere gemeinsame Botschaft lauten: nicht Be-, sondern Entlastung der Betroffenen und ein Handeln im Sinne dieser Betroffenen. Betroffene Familien, verbunden durch das Schicksal einer schwerwiegenden medizinischen Diagnose für eines oder manchmal auch mehrere ihrer Kinder, gilt es in dieser ungewöhnlich schwierigen Lebenssituation mit aller Kraft zu unterstützen.

Deshalb unterstützen wir den Antrag der FDP. Ich hoffe, dass wir hier zu einem gemeinsamen Antrag aller Fraktionen des Hohen Hauses kommen werden, um wirklich im Sinne der Betroffenen zu handeln. – Ich danke Ihnen.

(Beifall von der CDU)

Vizepräsident Daniel Düngel: Vielen Dank, Frau Abgeordnete. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Herr Kollege Ünal.

Arif Ünal (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Verbesserung der ambulanten Palliativversorgung ist seit vielen Jahren ein wichtiger gesundheitspolitischer Schwerpunkt des Landes. Ich darf daran erinnern, dass der Landtag im Mai 2009 einen von allen damals im Landtag vertretenen Fraktionen unterstützten Antrag zur Hospiz- und Palliativversorgung einstimmig beschlossen hat. Mittlerweile ist in NRW eine beispielhafte Infrastruktur in der Hospiz- und Palliativversorgung entstanden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Kinder sterben, stellt das für die Familien sowie für die begleitenden Personen eine besondere Herausforderung dar. Die Verarbeitung dieses traumatischen Erlebnisses kann lange dauern. Dabei spielen neben den professionellen Mitarbeitern der Hospizarbeit die ehrenamtlichen Betreuer eine sehr große Rolle. Man muss auch die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wirklich würdigen. Sie leisten eine sehr schwere Arbeit in diesem Zusammenhang.

Meine Damen und Herren, in NRW haben wir durch die fraktionsübergreifende Initiative wirklich Rahmenbedingungen für eine ganzheitliche palliative Gesundheitsversorgung von Kindern und Jugendlichen in ihrer häuslichen, familiären Umgebung geschaffen, die wir begrüßen. Für rund 3.600 Kinder und Jugendliche konnte ein fast flächendeckendes Angebot zur ambulanten Palliativversorgung aufgebaut werden.

In NRW befinden sich vier Kinder- und Jugendhospize. Also befindet sich fast die Hälfte – wir haben bundesweit nur neun Kinder- und Jugendhospize – in NRW. Ein Schwerpunkt liegt aber sicherlich in der ambulanten Kinderhospizarbeit. Neben den 26 Kinderhospizdiensten und den 26 Kinderpalliativpflegediensten sind in NRW insgesamt 300 ambulante Hospizdienste und über 550 ambulante Palliativpflegedienste tätig.

Die FDP spricht in ihrem Antrag also ein Thema an, das in NRW verankert ist, und sie beschreibt auch ausführlich, was die Landesregierung bereits tut. Wir unterstützen die Absicht der Landesregierung, die Weiterentwicklung der Hospiz- und Palliativversorgung zu fördern. Wir stimmen der Überweisung zu und freuen uns auf die Diskussion im Fachausschuss. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsident Daniel Düngel: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Ünal. – Für die Piratenfraktion spricht nun der Kollege Lamla.

Lukas Lamla (PIRATEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Es gibt Situationen, in denen schon alles gesagt wurde, nur noch nicht von jedem. Deswegen möchte ich das hier gerne abkürzen.

Auch ich bin für den Antrag der FDP dankbar; denn soweit ich sehe, gibt es im SGB einen Nachbesserungsbedarf. Das sollten wir als Auftrag für den Ausschuss mitnehmen, dort das Ganze überprüfen, nachbessern und das Thema dann wieder ins Plenum bringen, um, wie schon in der Vergangenheit, einen fraktionsübergreifenden Beschluss zu fassen, um diese Situation zu verbessern. – Vielen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Daniel Düngel: Vielen Dank, Herr Kollege Lamla. – Für die Landesregierung erteile ich nun Frau Ministerin Steffens das Wort.

Barbara Steffens, Ministerin für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde, dass die heutige Debatte zeigt und noch einmal bestätigt, wie wichtig es ist, dass Themen wie Sterbebegleitung oder die Versorgung in der letzten Lebensphase jenseits des politischen Streites, nämlich im Konsens zwischen den Fraktionen und allen, die politische Verantwortung tragen, egal ob in der Regierung oder in der Opposition, gemeinsam diskutiert werden und dass man auch gemeinsam Entscheidungen dazu trifft.

Wenn wir uns die Versorgungssituation in Nordrhein-Westfalen angucken, stellen wir fest, dass es in der Vergangenheit immer so war, dass wir in diesen Bereichen an einem Strang gezogen haben. Es war in Nordrhein-Westfalen immer ein ganz wichtiges, zentrales gesundheitspolitisches Thema, das allen gleichermaßen am Herzen lag und auch noch liegt.

Gerade wenn wir uns anschauen, wie die ganzheitliche Versorgung von Kindern und Jugendlichen und auch die psychosoziale Betreuung der Angehörigen in Nordrhein-Westfalen funktioniert, erkennen wir, dass dieser gemeinsame und wirklich kontinuierliche Weg ohne Brüche einer ist, durch den sich die Situation in Nordrhein-Westfalen – im Unterschied zu vielen anderen Regionen – wirklich hervorragend entwickelt hat.

Der FDP-Antrag beschreibt sehr zutreffend die gute Versorgungssituation in Nordrhein-Westfalen, und er beschreibt auch sehr zutreffend, wie wichtig und bedeutend es ist, dass wir auch hier eine nachhaltige Weiterentwicklung immer wieder gemeinsam diskutieren.

Wir wissen – auch das ist eben in den Diskussionen deutlich geworden –, dass Kinder und Jugendliche sowohl in der Hospiz- wie auch in der Palliativversorgung eine andere Form der Begleitung als Erwachsene brauchen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, als wir damals, als das erste Jugendhospiz in Nordrhein-Westfalen mit der Stiftung Wohlfahrtspflege an den Start gegangen ist, gemeinsam in dieses Kinder- und Jugendhospiz gefahren sind, um uns vor Ort die Situation anzusehen und mit den ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen gemeinsam über die Strukturen zu diskutieren und auch über die Unterschiede, was Kinder und Jugendliche, was die Eltern, was die Angehörigen, was die Geschwister brauchen. Ich glaube, dass wir in Nordrhein-Westfalen mit der vorhandenen Versorgungsstruktur auf einem guten, letztendlich auf einem sehr guten Weg sind.

Wir haben in Nordrhein-Westfalen von bundesweit neun vier Kinderhospize: in Olpe, in Bielefeld, in Gelsenkirchen und in Düsseldorf. Daran sieht man, wie hervorragend die Situation in Nordrhein-Westfalen ist. Wie gesagt, wir haben hier seit 2009 das erste Jugendhospiz in Olpe deutschlandweit als Vorbild.

Klar ist aber auch, dass diese Bereiche wie spezialärztliche bzw. spezialisierte ambulante Palliativversorgung gerade bezogen auf Kinder und Jugendliche noch eine andere Bedeutung und eine andere Dimension haben. Wir haben hier in Nordrhein-Westfalen unter Moderation des Landes drei Teams im Rheinland, zwei Teams in Westfalen/Lippe und einen Untervertrag zwischen der Uni-Klinik Münster und den Von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel in Vorbereitung. Wir haben im Grunde genommen also auch in diesem Bereich eine fast flächendeckende Versorgung in Nordrhein-Westfalen. Trotzdem ist es gut, dass wir die Diskussion führen.

Ein Punkt, der im Antrag der FDP eine Rolle spielt, ist die Frage der Finanzierung. Dabei müssen wir zwei Dinge im Blick haben. Zum einen: Die Hospizbewegung ist eine ehrenamtliche Bewegung, die, wenn wir uns das anschauen, von vielen Ehrenamtlern in Nordrhein-Westfalen getragen wird und deren Idee und Grundgedanken eng mit der Ehrenamtlichkeit verbunden sind. Das sollen und dürfen wir an der Stelle nicht infrage stellen, weil es für die Hospizarbeit mit den in Nordrhein-Westfalen rund 8.000 ehrenamtlichen Helfern und Helferinnen ein auch für sie wichtiger Bereich ist. Von dieser Stelle aus ganz herzlichen Dank an all diejenigen, die diese Arbeit, diese Begleitung von Schwerstkranken, von sterbenden Menschen ehrenamtlich übernehmen!

(Allgemeiner Beifall)

Trotzdem muss die Finanzierung sichergestellt, muss die Finanzierung klar sein. Dabei ist es so, dass die Finanzierung bundeseinheitlich geregelt wird, dass die Rahmenvereinbarungen und die Einzelverträge zwischen den Krankenkassen und den Kinderhospizen ausgehandelt und abgeschlossen werden und das Land im Grunde genommen auf diese Vertragsgestaltung keinen Einfluss hat.

Uns sind auch bisher die erwähnten Finanzierungsprobleme nicht bekannt. In diesem Sinne sollten wir dann im Ausschuss die Diskussion gemeinsam mit den Kassen führen. Wir können auch dort den Dialog suchen, weil klar ist, dass es eine ausreichende Finanzierung geben muss für diejenigen, die eine solche Struktur für die Menschen in dieser schweren Lebensphase aufrechterhalten. Und auch da werden wir gemeinsam den Konsens in diesem Land und auch in diesem Parlament aufrechterhalten. – Danke.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Daniel Düngel: Vielen Dank, Frau Ministerin Steffens. – Der Form halber teile ich Ihnen mit, dass die Redezeit um 31 Sekunden überzogen wurde. Nichtsdestotrotz liegen mir keine weiteren Wortmeldungen vor, und wir sind am Schluss der Beratung zu diesem Tagesordnungspunkt.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Antrages Drucksache 16/1620 an den Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales – federführend – sowie an den Ausschuss für Familie, Kinder und Jugend. Die abschließende Beratung und Abstimmung soll im federführenden Ausschuss in öffentlicher Sitzung erfolgen. Kann jemand dieser Überweisungsempfehlung nicht folgen? Oder möchte sich jemand enthalten? – Das ist nicht der Fall. Die Überweisungsempfehlung ist damit entsprechend angenommen.

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt

6   Halbjahresbericht des Petitionsausschusses

Gemäß § 103 unserer Geschäftsordnung soll der Petitionsausschuss mindestens jährlich dem Landtag mündlich berichten. Entsprechend der bisher geübten Praxis erteile ich nun der Vorsitzenden des Petitionsausschusses, Frau Klöpper, zu einem Halbjahresbericht das Wort. Bitte sehr.

Rita Klöpper (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren auf den Besuchertribünen! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Handbuch des Landtags findet man ziemlich am Anfang unser Grundgesetz, die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland.

Das Grundgesetz legt im Abschnitt „Grundrechte“ in den Artikeln 1 bis 19 fest, welche Rechte jeder Mensch und speziell jeder Staatsbürger hat. Auch heute noch wird zu wichtigen Anlässen dieses Gesetz in Buchform weitergegeben. Das heißt: Man müsste eigentlich davon ausgehen, dass die gesammelte Auflistung der Grundrechte und somit auch der Artikel 17 in vielen, vielen Haushalten in gedruckter Form vorhanden und damit bekannt ist. Artikel 17 Grundgesetz lautet:

„Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden.“

Hier steht es schwarz auf weiß. Und trotzdem: Viele Menschen in unserem Land können mit dem sperrigen Begriff „Petitionen“ nichts anfangen. Sie wissen nicht, welche Möglichkeiten der Hilfestellung sie haben, wenn sie sich durch Verwaltungseinrichtungen ungerecht behandelt fühlen oder sich im Behördendschungel einfach verirrt haben. Diese sollten alle den Petitionsausschuss anrufen.

Diese direkte Verbindung zwischen Bürgerinnen und Bürgern und uns als Volksvertretern ist ungeheuer wichtig. Für die Petenten und Petentinnen kann – je nach Fall – der Ausgang der Petition von existenzieller Bedeutung sein. Und für uns als Parlament, weil wir hier hautnah erfahren, welche Sorgen und Nöte die Menschen in unserem Land bewegen, hat das auch eine Bedeutung. Das ist eine Konstellation, die wir in dieser Form selten haben.

In guter parlamentarischer Gepflogenheit erstatte ich daher heute dem Plenum Bericht über die Arbeit des Petitionsausschusses im letzten Jahr.

Der Petitionsausschuss blickt wie das gesamte Landesparlament auf ein besonderes Jahr zurück. Die Auflösung des Landtags im März 2012 hat auch für unsere Arbeit Fragen aufgeworfen, mit denen wir in der Vergangenheit nie beschäftigt waren. Nun kennt die Bearbeitung von Petitionen generell keine Unterbrechung und keine Pause. Der Ausschuss tagt ja durchgängig auch in der parlamentsfreien Zeit. Deshalb gibt es bei regulären Wechseln der Legislaturperioden natürlich keinen Bruch. Die eingereichten Petitionen bestehen fort und werden dann weiter bearbeitet, anders als es für die sonstige Arbeit des Parlamentes gilt.

Aber eine parlamentslose Zeit durch Auflösung des Landtags wie im letzten Jahr war auch für uns etwas Neues. In dieser Zeit existierte kein Petitionsausschuss, wie wir ihn kennen. Der Ständige Ausschuss, bei dem ich mich wirklich bedanken muss, musste die Aufgaben des Petitionsausschusses übernehmen. Aber dadurch kam es auch in dieser Zeit nicht zum Stillstand der Arbeit, sondern selbst dann war die Bürgernähe jederzeit gewährleistet.

Wegen der außergewöhnlichen Ereignisse verbinde ich natürlich heute zwei Berichte miteinander. Ich berichte Ihnen abschließend über die Arbeit des Petitionsausschusses in der 15. Wahlperiode und über die Arbeit des ersten Halbjahres der 16. Wahlperiode.

Zunächst sind da einige Zahlen zu nennen, die den Umfang unserer Arbeit dokumentieren.

In der 15. Wahlperiode – zwei Jahre – haben den Petitionsausschuss des Landtags 8.572 Eingaben erreicht. Die Schwerpunkte der Eingaben haben sich im Vergleich zur 14. Periode etwas verschoben. Mit 22 % der Petitionen war der Bereich der sozialen Angelegenheiten am stärksten vertreten. Viele Bürgerinnen und Bürger schilderten uns ihre Probleme aus den Bereichen Arbeitslosen- und Rentenversicherung, Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen, Jugendhilfe, Opferentschädigung, Leistungen aus der Krankenversicherung und vieles andere.

Rund 14 % der Eingaben betrafen Fälle aus den Bereichen Bauen, Wohnen, Verkehr und Umwelt, 8 % das öffentliche Dienstrecht. Weitere Schwerpunkte lagen im Bereich Schule und Hochschule, Justizvollzug und Ausländerrecht mit jeweils 6 bzw. 7 % aller Eingaben.

Die Erfolgsquote des Petitionsausschusses ist dabei unverändert hoch. Von den rund 6.000 abgeschlossenen Petitionen in dieser Zeit konnten wir 28 % der Fälle für die Bürgerinnen und Bürger mit einem positiven Ergebnis abschließen. Bei 42 % konnten wir keine Verbesserungen erreichen, und 30 % haben sich auf andere Weise erledigt.

In über 1.100 Petitionen hat der Ausschuss in dieser Zeit ein Erörterungsverfahren nach Art. 41a der Landesverfassung durchgeführt. Als Randbemerkung: Wir sind eines von den wenigen Bundesländern, die diesen besonderen Passus in ihrer Landesverfassung haben. Speziell wenn es zu diesen gemeinsamen Gesprächsterminen kommt, haben wir eine noch höhere Erfolgsquote aufzuweisen. 50 % aller Fälle sind abgeschlossen. Bei 50 % der Eingaben konnten wir Verbesserungen erreichen, bei 30 % leider keine, und 20 % erledigten sich auch so.

Aber bei allen diesen Terminen wird ganz, ganz klar, dass die Petenten für die Vertrauensbasis und das Gefühl, nicht ohnmächtig zu sein, sondern mit uns an einem Tisch zu sitzen, unheimlich dankbar sind. Für uns im Ausschuss ist das eine Bestätigung unserer Arbeit.

Die Tendenz setzte sich in der 16. Wahlperiode unverändert fort. Seit Beginn der Legislatur am 31.05.2012 haben den Petitionsausschuss rund 2.500 Eingaben erreicht. Genauso viele Petitionen sind auch durch Beschlüsse abgeschlossen worden, annähernd 400 Eingaben wieder in diesem besonderen Verfahren nach Art. 41a der Landesverfassung.

Auch hier bleiben wir unseren Erfolgsquoten treu und konnten wirklich 27 % aller Eingaben zu einem positiven Ausgang verhelfen. In den 41a-Verfahren waren es sogar 50 %.

Zahlreiche Petitionen mit über den Einzelfall hinausgehender Bedeutung haben wir als Beratungsgrundlage an die Fachausschüsse weitergegeben. Dadurch stellen wir sicher, dass die Erkenntnisse, die wir durch die Bearbeitung der Petitionen erhalten, nicht einfach so verpuffen, sondern in unsere Gesetzgebungstätigkeit einfließen.

An dieser Stelle möchte ich mich dann auch wirklich ganz herzlich bedanken bei allen Kolleginnen und Kollegen in den Fachausschüssen, die diese Hinweise aus der Bearbeitung der Petitionsakten aufnehmen und nutzen, um bürgernahe und umsetzbare Gesetze für unser Land zu beschließen. Bitte, bitte arbeiten Sie weiter mit der nötigen Ernsthaftigkeit an diesem Ziel. Nehmen Sie es ernst! Ich denke, wir sind hier alle gemeinsam in der Pflicht.

Beispielhaft möchte ich Ihnen nun über einige Fälle berichten, die entweder exemplarisch für eine Vielzahl von Eingaben stehen oder die uns sehr berührt haben, weil sie eine besonders existenzielle Bedeutung für die Petenten hatten. Sie werden daran sehen, wie vielfältig unsere Arbeit ist. Jeder Fall ist anders, und jeder Eingabe nehmen wir uns sorgfältig an.

Besonders bedeutsam war für eine Bürgerin die Unterstützung durch den Ausschuss in ihrer Rentenangelegenheit. Die Witwe wandte sich an den Ausschuss, weil der Rentenversicherungsträger ihren Antrag auf Bewilligung von Witwenversorgung mit der Begründung abgelehnt hat, ihr verstorbener Ehemann habe nur 12 Jahre in Deutschland versicherungspflichtig gearbeitet.

Der Frau war diese Entscheidung völlig unverständlich, hatte ihr Mann doch sein Leben lang gearbeitet. Die Familie hatte allerdings bis zur Wiedervereinigung in der ehemaligen DDR gelebt. Dort war der verstorbene Ehemann tätig. Unterlagen waren beim Rentenversicherungsträger jedoch unauffindbar, sodass die Frau glaubte, 20 wertvolle Arbeitsjahre ihres Ehemannes seien für ihre Rente verloren. – Die Aufbewahrungsfrist für Lohnunterlagen ehemaliger DDR-Betriebe – das muss man wissen – endete im Jahr 2011. Somit war Eile geboten.

(Vorsitz: Präsidentin Carina Gödecke)

Der Petitionsausschuss veranlasste zunächst, dass alle Unterlagen vor der Vernichtung geschützt wurden, bis der Verbleib des Rentenbuchs abschließend geklärt war. Durch weitere Recherchen fanden sich die verloren geglaubten Unterlagen wieder ein.

Die Petentin konnte nun die von ihr zu Recht vorgetragenen Arbeitsjahre nachweisen und geltend machen und erhielt daraufhin eine Nachzahlung von 12.000 €.

In der 15. Wahlperiode meldete sich beim Petitionsausschuss eine große Zahl gehörloser Eltern hörender Kinder – eine besonders schwierige Situation. Sie forderten eine gesetzliche Regelung, nach der hörbehinderte Menschen mit hörenden Kindern einen Anspruch auf Übernahme der Kosten für das Gebärdensprachdolmetschen bei Zusammenkünften mit Erzieherinnen und Erziehern in Kindertagesstätten und Schulen haben.

Der Petitionsausschuss lud daraufhin die betroffenen Eltern sowie die zuständigen Ministerien zu einem Erörterungstermin an einem Tisch ein. Die Kommunikation erfolgte auch an diesem Termin mittels Gebärdensprachdolmetschern. Ich darf bemerken: Diese Situation war auch für den Petitionsausschuss ein absolutes Neuland und für alle Parteien sehr anstrengend.

Die Probleme der Eltern wurden sehr schnell sichtbar. Da die Alltagssprache der Familie die Gebärdensprache ist, benötigen die Kinder – das ist nachvollziehbar – Förderung in der Lautsprache. Wir reden von Inklusion, und wir reden von früher Unterstützung. Um dies bei diesen Kindern zu gewährleisten, müssen die Defizite rechtzeitig erkannt werden, weil die Familien auf die Einschätzung der Kindertagesstätte und später der Schule angewiesen sind.

Die missliche Situation ist aber die, dass sie selbst die sprachlichen Defizite der Kinder nicht hören und erkennen können. Insofern benötigen die Eltern regelmäßig Informationen über den Sprachstand ihrer Kinder, die hörende Eltern sozusagen zwischendurch und im Vorbeigehen mitbekommen. Bei gehörlosen Eltern ist aber gerade das nicht der Fall.

Insgesamt bestand großes Einvernehmen, dass die geltende Kommunikationshilfeverordnung zu kurz greift, die Eltern keine verlässlichen Regelungen haben und dass es zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention noch großen Handlungsbedarf gibt.

Soweit unsere Landesregierung in ihrem Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechts­konvention eine Änderung des Behindertengleichstellungsgesetzes bzw. der Kommunikationshilfeverordnung ankündigt, bittet der Petitionsausschuss, die aus den Petitionsverfahren gewonnenen Erkenntnisse in die Änderungsüberlegungen einzubeziehen.

Zudem – das ist selbstverständlich – wurden auch hier unsere Fachausschüsse einbezogen, und der Petitionsausschuss wird die weitere Entwicklung verfolgen, weil es ein solch brisantes Thema ist.

Die Arbeit des Petitionsausschusses wird zunehmend internationaler. Immer öfter erreichen uns Fälle, die vor den Landesgrenzen nicht Halt machen und die Regelungen und das Recht der europäischen Nachbarn berühren. Aus diesem Grund pflegen wir den Beratungskontakt zum Europäischen Bürgerbeauftragten in Brüssel, aber auch zu den Petitionsausschüssen des Bundes und der anderen Länder.

Ein immer wiederkehrendes Problem ist dabei die Anerkennung von beruflichen Abschlüssen.

So wandte sich eine italienische Staatsangehörige an den Petitionsausschuss, um in Deutschland als Lebensmittelkontrolleurin arbeiten zu können. Sie hatte in Italien eine fünfjährige Ausbildung als Sachverständige im Bereich Chemie und Industrie abgeschlossen, 16 Jahre in ihrem Beruf gearbeitet und war zuletzt durch eine Zusatzqualifizierung als Lebensmittelkontrolleurin tätig. Sie hatte sogar ein italienisches Fachbuch zu Hygieneverordnungen veröffentlicht.

Nachdem sie im Jahr 2007 zu ihrer Mutter nach Deutschland gezogen war, bat sie um Unterstützung, um eine Ausbildung als staatliche Lebensmittelkontrolleurin beginnen zu können. Sie erhielt nur Absagen, da die nach der Berufsausbildungsordnung vorgeschriebene Ausbildung in Italien nicht angerechnet werden sollte. Tatsächlich arbeitete die Petentin weit unter ihrem Ausbildungsniveau als Beschäftigte in einer Lebensmittelkette.

Im Rahmen des Petitionsverfahrens wurden die in Italien absolvierten Zeiten erneut geprüft. Dabei wurde festgestellt, dass Teile in der Ausbildung und der Berufstätigkeit der Petentin anzuerkennen waren. Nun kann sie sich freuen. Denn sie kann sich bei einem Kreis oder einer kreisfreien Stadt um einen Ausbildungsplatz bewerben und damit entsprechend ihrer Qualifikation als Fachkraft auf dem nordrhein-westfälischen Arbeitsmarkt tätig werden.

Wir kommen zum Baurecht. Hier prallen in den meisten Fällen die Interessen des einzelnen Bürgers mit den oft übergeordneten Interessen des Gemeinwohls zusammen. Vielfach glauben Petenten, es könne doch nicht so schlimm sein, zum Beispiel die Bebauungsgrenze geringfügig zu verändern oder eine kleine Hütte mitten im Wald zu errichten. Das könne doch niemanden stören.

Die Bescheide der Behörden, die die Bauordnung, Flächennutzungspläne und Bebauungspläne zitieren, sind für sie nicht verständlich und führen nur zu Verwirrung.

Hier nehmen die Abgeordneten des Petitionsausschusses häufig ihre Rolle als Mediatoren wahr. In Erörterungsgesprächen mit allen Beteiligten werden Kompromisse gesucht, die das Ziel haben, Verständnis für das jeweilige Handeln zu wecken, um in Zukunft auch bei Ablehnung der Petition wieder vertrauensvoll miteinander leben zu können.

Auch ganz unterschiedliche Fälle aus dem Ausländerrecht beschäftigen uns immer wieder.

Mit seinem Brief an den Petitionsausschuss bat ein junger Mann aus dem Libanon um Hilfe für seine Aufenthaltserlaubnis in der Bundesrepublik. Er wurde 1991 in Essen geboren und verbrachte sein gesamtes Leben in Nordrhein-Westfalen. Bei einem Schulpraktikum lernte er den Beruf des Rechtsanwalts kennen und hatte seitdem nur einen Wunsch: Jura zu studieren. Er erwarb seinen Hauptschulabschluss, schaffte den Wechsel ins Gymnasium und machte dort im letzten Jahr Abitur. Nun hatte er einen Studienplatz an einer Universität in Ostdeutschland in Aussicht. Weil aber seine Eltern vor seiner Geburt unter falschem Namen und mit falscher Identität hier eingereist waren, besaß der junge Mann keine gültigen Papiere. Sein Verbleib in Deutschland war also noch ungeklärt, und er durfte NRW nicht verlassen.

Hier konnte der Ausschuss helfen: Aufgrund seiner hohen Integrationsleistung, denn er hatte trotz seiner Jugend und trotz schwieriger familiärer Verhältnisse gute schulische Erfolge, wurde ihm zunächst eine befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt und ein Ausweisersatz ausgestellt. Auch wurde ihm die Erwerbstätigkeit ermöglicht. Wenn es ihm jetzt noch gelingt, mit dieser Erwerbstätigkeit oder einem Stipendium seinen Lebensunterhalt zu sichern, kann er nach Ostdeutschland umziehen und dort sein Jurastudium aufnehmen.

(Beifall von der CDU, der SPD, den GRÜNEN und den PIRATEN)

Um eine Petition an den Landtag richten zu können, muss man weder volljährig sein noch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Der Ausschuss freut sich besonders, wenn ihn Eingaben von Kindern und Jugendlichen erreichen, denn wer sich mit einer Beschwerde an sein Landesparlament wendet, hat sich mit unserer Demokratie und unserem Regierungssystem auseinandergesetzt.

Dazu ein Fall aus dem Bereich Schule: Der Abiturstufe eines Gymnasiums wurde eine Woche vor Übergabe der Abiturzeugnisse die schriftliche Berechnung der Abiturnote ausgehändigt. Einige Tage später erhielten die Schüler dann einen Anruf der Schule. Es wurde mitgeteilt, es habe einen Computerfehler gegeben und die Noten müssten neu berechnet werden. Das führte bei einigen Schülerinnen und Schülern zu einer schlechteren Abiturnote.

Für eine Schülerin war das ein Grund zu einer Beschwerde an den Petitionsausschuss. Sie kritisierte, es habe weder eine Entschuldigung noch ein Gesprächsangebot vonseiten der Schule gegeben.

Der Fall wurde überprüft. Die Schule erklärte sich, allerdings in einer formaljuristischen Betrachtungsweise. Für die Petentin, die junge Abiturientin, war jedoch viel wichtiger, dass sich die Schule endlich ausdrücklich für den Fehler entschuldigte. Außerdem wurden alle erforderlichen Vorkehrungen getroffen, um solche Fehler für die Zukunft auszuschließen. Ein wirklich guter Erfolg!

Ein anderes Thema, das aktuell an Bedeutung gewinnt, ist der Bereich Rundfunk und Fernsehen.

Eine Frau hatte sich hilfesuchend an den Petitionsausschuss gewandt, da die GEZ ihren Antrag auf Befreiung von den Rundfunkgebühren ohne Abwägung ihrer besonderen Situation abgelehnt hat. Sie hatte die Gebührenbefreiung beantragt, da sie nur ein geringes Einkommen erhielt. Ihr Sohn leistete ihr Unterhalt in Höhe der Grundsicherung. Staatliche Unterstützung bekam sie nicht. Hätte sie dieses Einkommen nicht von ihrem Sohn, sondern unmittelbar vom Staat erhalten, wäre sie sofort von den Rundfunkgebühren befreit worden. Die GEZ hatte den Antrag jedoch mit der Begründung abgelehnt, dass sie eben keine Grundsicherung, sondern Unterhalt in gleicher Höhe erhalte.

Im Petitionsverfahren wurde dieses überprüft, und der WDR hat das Vorliegen eines Härtefalls anerkannt und endlich die beantragte Befreiung erteilt.

Seit dem 1. Januar 2013 gibt es nun eine neue Rechtslage. Derzeit gehen bei uns täglich Beschwerden zum neuen Rundfunkstaatsvertrag ein. Wir werden alle diese Fälle sorgfältig prüfen. Auch hier wird sich der Petitionsausschuss als Stimmungsmesser erweisen und erkennen können, ob die neue Regelung strukturelle Ungerechtigkeiten ausweist.

Nun noch ein skurriler Fall: Ein Petent benötigte für sein berufliches Fortkommen eine Bescheinigung über seine frühere Verwendung im öffentlichen Dienst. Seit Jahren versuchte er vergeblich, bei seiner letzten Dienststelle Einblick in seine Personalakte zu bekommen. Auf seine Anfrage bei der Dienststelle erhielt er als Antwort, dass dies nicht möglich sei, da sich seine Akte mit Hunderten anderer Personalakten in Umzugskartons ungeordnet auf einem Dachboden der ehemaligen Dienststelle befände.

Unglaublich! Nachdem er den Petitionsausschuss in dieser Angelegenheit um Hilfe bat, hat die Dienststelle Maßnahmen ergriffen, durch die dem Petenten dann doch die erbetene Bescheinigung ausgehändigt werden konnte.

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, an der Anzahl und der Vielfalt der geschilderten Fälle sehen Sie, wie umfangreich, aber auch erfüllend die Arbeit des Ausschusses ist.

Die Aufklärung über die Petitionsarbeit liegt uns am Herzen. Daher führen wir konsequent unsere Öffentlichkeitsarbeit fort. Mit zwei externen Bürgersprechstunden im Kreis Paderborn und im Kreis Bergisch Gladbach waren wir als Petitionsausschuss im vergangenen Jahr auch in den Regionen unseres Landes präsent. Dort treffen wir jedes Mal ca. 50 Menschen, die – durch die Presse informiert – lange Wege aus der Region auf sich nehmen, um sich beraten zu lassen.

Darunter war auch – das lässt mich ein wenig schmunzeln, war aber sehr ernst – ein Kfz-Mechaniker, der sich selbstständig gemacht hatte und nun 60 km weit gefahren war, um uns einen Wäschekorb mit Behördenpapieren mitzubringen, bei denen er nicht mehr durchblickte. Der Ausschuss hat sich seiner Angelegenheit angenommen.

Beim letzten NRW-Tag in Detmold konnten wir an unserem Informationsstand wieder viele Menschen mit aufklärenden Gesprächen und Informationsmaterial versorgen.

Auch hat der Ausschuss zu Beginn dieses Jahres wieder die in regelmäßigen Abständen geplanten Bürgersprechstunden in der Villa Horion aufgenommen.

Über weitere Aktionen werden wir Sie rechtzeitig informieren.

Sehr geehrte Damen und Herren, die Intensität, mit der die Bürgerinnen und Bürger uns ihre Anliegen vortragen, ruft uns immer wieder in Erinnerung, wie wichtig diese Arbeit ist.

Es ist für unser Parlament von unschätzbarem Wert, dass wir mit dem Petitionsausschuss eine neutrale Stelle haben, bei der Bürgerinnen und Bürger unabhängig von ihrem Alter, ihrer Nationalität, ihrer Ausbildung und ihrem Einkommen mit eigenen Worten, so wie sie es vermögen, ihre Anliegen vortragen können.

Sie können kostenfrei ihre Eingaben an den Petitionsausschuss richten, haben das Recht, gehört zu werden, und müssen in der Folge keinerlei Benachteiligungen befürchten.

Dass viele Menschen das bereits tun – aber eben noch nicht alle –, zeigt uns, dass es jenseits aller Politikverdrossenheit und Parteienschelte irgendwo ein Grundvertrauen der Mitbürger in die Arbeit des Parlaments gibt.

Verehrte Damen und Herren, 25 Abgeordnete im Petitionsausschuss und 20 Mitarbeiter im Referat sind in dieser Legislaturperiode sehr schnell zusammengewachsen, haben Freude an ihrer Arbeit, die sie auch zeigen, und bilden fraktionsübergreifend ohne politisches Kalkül ein gutes Team.

(Allgemeiner Beifall)

– Für diesen Applaus bedanke ich mich, weil das wirklich eine Besonderheit ist.

Die Ausschussmitglieder tragen gemeinsam die Erfolge der Petitionsbearbeitung, aber auch die nicht zu vermeidenden abschlägigen Entscheidungen. Trotz der hohen Zahl der Eingaben sind sich alle stets bewusst, wie wichtig jede einzelne Begegnung zwischen Parlament und Bürgern ist. Sie werden verstehen, dass ich als Vorsitzende des Ausschusses darauf sehr stolz bin.

Für diese gute Zusammenarbeit möchte ich mich ganz herzlich bei allen im Ausschuss bedanken. Aber auch Ihnen, meine Damen und Herren, unseren Parlamentskolleginnen und ?kollegen, möchte ich Dank sagen. Ich möchte Dank sagen für das bisher erbrachte Vertrauen und für Ihre in vielen Fällen tatkräftige Unterstützung.

Wir werden unsere Arbeit im Namen des ganzen Parlaments gerne weiter fortsetzen und Ihnen darüber zu gegebener Zeit wieder berichten. – Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Allgemeiner Beifall)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank für diesen überaus interessanten Einblick in die Arbeit des Petitionsausschusses, Frau Kollegin Klöpper. Sie haben sehr eindrucksvoll die umfangreiche und vielfältige Arbeit, die dort geleistet wird, dargestellt.

Der Dank des Präsidiums gilt aber nicht nur Ihnen, sondern auch den Mitgliedern des Petitionsausschusses sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des zuständigen Landtagsreferates. Wir alle wissen – Sie haben die Fälle geschildert –, dass Sie sehr hilfreich für die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes arbeiten.

Ich darf mich ausnahmsweise einmal an die Zuschauerinnen und Zuschauer auf der Tribüne wenden. Erzählen Sie das bitte weiter. Tragen Sie die Botschaft ins Land, dass der Petitionsausschuss für Sie da ist – für Ihre Anliegen, für Ihre Anregungen. Er ist immer für Sie da, wenn Sie sich ungerecht behandelt fühlen.

Für diejenigen, denen wir helfen konnten, haben wir, so glaube ich, ein ganzes Stück Gutes geleistet und das Zutrauen und das Vertrauen in die Politik ein Stück weit zurückerobert. Dafür geht unser Dank an den Petitionsausschuss.

(Allgemeiner Beifall)

Wir haben damit den Bericht zur Kenntnis genommen.

Als nächsten Tagesordnungspunkt rufe ich auf:

7   Jedes Krankenhaus muss Vergewaltigungsopfer medizinisch versorgen. Religiöse Grundsätze dürfen dabei keine Rolle mehr spielen!

Eilantrag
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/1953

Entschließungsantrag
der Fraktion der SPD und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 16/1966 – Neudruck

Entschließungsantrag
der Fraktion der CDU
Drucksache 16/1967

Die Fraktion der Piraten hat diesen Eilantrag mit Schreiben vom 21. Januar 2013 fristgerecht eingebracht.

Der Entschließungsantrag der CDU ist wahrscheinlich noch nicht bei Ihnen angekommen, wird aber im Laufe der Debatte verteilt werden. Wir haben ihn gerade im Sekretariat erhalten.

(Zurufe von den PIRATEN: Wie sollen wir denn darauf eingehen?)

Falls er nicht verteilt werden kann, greifen die entsprechenden Regelungen in der Geschäftsordnung. Dann werde ich ihn vorlesen, damit er hier auch behandelt und entsprechend beschieden werden kann.

Nach diesen Vorbemerkungen eröffne ich die Beratungen und erteile für die antragstellende Fraktion Herrn Kollegen Lamla das Wort.

Lukas Lamla (PIRATEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Eine vergewaltigte Frau sucht in ihrer Not und Verzweiflung einen ärztlichen Notdienst auf. Solche Einrichtungen dienen für gewöhnlich der Behandlung von leichten Erkrankungen außerhalb der Öffnungszeiten von Arztpraxen. Die dort Dienst leistende Ärztin erkennt die Lage sofort und handelt richtig. Die Ärztin will keine Zeit verlieren; denn sie weiß: Eine gynäkologische Untersuchung, eine Spurensicherung und eine seelische Betreuung ihrer Patientin sind jetzt dringend geboten – Maßnahmen, die sie selbst nicht erbringen kann.

Sie ruft das nächstgelegene Krankenhaus an, um die Patientin zügig dorthin zu überweisen. Doch sie wird abgewiesen. Die Ärztin ruft ein weiteres Krankenhaus an und bittet um die Übernahme ihrer Patientin. Doch sie wird wieder abgewiesen.

Ich dachte bisher, dass die Krankenhäuser ein Ort der Hilfe sind, ein Ort, an dem immer geholfen wird, wenn es jemandem nicht gut geht.

Diese beiden Krankenhäuser haben etwas gemeinsam. Es sind katholische Krankenhäuser. Bei katholischen Krankenhäusern muss sich eine Betroffene von sexualisierter Gewalt unter Umständen von so einer einfachen Erwartung verabschieden. Gleich zwei katholische Krankenhäuser in Köln sollen laut den Medienberichten einem mutmaßlichen Vergewaltigungsopfer eine voll umfängliche Versorgung verwehrt haben.

Dieser Fall scheint nur die Spitze des Eisbergs zu sein. In den Medien tauchen in den letzten Tagen und Wochen immer mehr Berichte über Fälle auf, in denen betroffene Frauen oder Angehörige von ähnlichen Erlebnissen erzählen. Ich frage mich, in wie vielen Krankenhäusern Vergewaltigungsopfern außerdem noch Hilfe verwehrt wurde.

Ein katholisches Krankenhaus, welches Steuergelder aus dem Landeshaushalt bekommt, hat eine Behandlungspflicht allen hilfsbedürftigen Menschen gegenüber – unabhängig von der Herkunft, von der Hautfarbe oder von dem Glauben.

Meine Damen und Herren, das, was hier passiert ist, nennt man schlicht und ergreifend unterlassene Hilfeleistung.

(Beifall von den PIRATEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Noch deutlicher wird das Fehlverhalten, wenn man bedenkt, dass die Betroffenen Opfer von K.-o.-Tropfen gewesen sind. Kommt es hier zu einer Verschleppung der Blutuntersuchung, können diese K.-o.-Tropfen nicht mehr nachgewiesen werden. Eine Strafverfolgung wird so aktiv erschwert.

Meine Damen, meine Herren, in den letzten Tagen ist bei uns in NRW ziemlich viel kaputtgegangen. Ich spreche hier vom Vertrauen der Bürger in die Krankenhäuser und in unser Gesundheitssystem. Die eigentlich gute Notfallversorgung in NRW hat einen massiven Imageschaden erlitten.

Das Vertrauen in alle Krankenhäuser muss wieder hergestellt werden. In einem solchen Fall sind wir alle fraktionsübergreifend gefragt, daran mitzuwirken. Ich wende mich ganz besonders an Sie, Frau Ministerin: Bitte tragen Sie zur Aufklärung aller Fälle bei! Bitte sorgen Sie dafür, dass zukünftig keinem Opfer von Vergewaltigung Hilfe ganz oder teilweise verwehrt wird.

Dabei darf es keine Rolle spielen, ob es ein katholisches Krankenhaus ist oder nicht. Eine medizinische Versorgung für Betroffene von sexualisierter Gewalt muss in allen Krankenhäusern in NRW einheitlich gewährleistet sein. Religiöse Glaubenssätze dürfen eine Aufnahme und Behandlung nicht verhindern.

(Beifall von den PIRATEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Erlauben Sie mir an dieser Stelle noch eine kleine Anmerkung: Bereits gestern hieß es in der Presse aus den Reihen der SPD und der Grünen, man wolle einen eigenen Entschließungsantrag zum gleichen Thema stellen. Der Antrag der Piratenfraktion sei – so Zitat – zu technisch formuliert und ginge nicht weit genug.

Nun haben Sie in den letzten Stunden zwei oder drei Entschließungsanträge ausgeschwitzt. Schon beim ersten Blick auf die ersten Forderungen offenbart sich: Sie gehen überhaupt nicht weit genug. Denn Sie reduzieren Ihre Forderung auf diese zwei Vorfälle aus Köln, wo hingegen der Piraten-Antrag erst einmal die Landesregierung auffordert, alle Fälle zu erfassen und sie dann aufzuklären.

(Zuruf von den PIRATEN: Hört, hört!)

Mit diesem Verhalten zeigen Sie, dass es Ihnen nicht um den Inhalt geht. Es geht hier nicht um eine Aufklärung der Geschehnisse und die Wiederherstellung von Vertrauen, es geht hier um ein parteitaktisches Gehabe nach dem Motto: Alles, was nicht von uns ist, lehnen wir ab.

(Beifall von den PIRATEN)

Das Schlimme daran ist: Dies geschieht leider auf dem Rücken der Betroffenen. Ich bitte Sie: Bitte lösen Sie sich von einem solchen Verhalten! Hören Sie auf damit! Die Piratenfraktion wird Ihrem Antrag, dem Antrag der Grünen und der SPD, zustimmen, um mit einem guten Beispiel voranzugehen, denn für Parteigeplänkel ist dieses Thema viel zu wichtig. – Vielen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Lamla. – Für die SPD-Fraktion spricht Frau Kollegin Jansen.

Daniela Jansen (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuhörerinnen! Achte nicht bloß auf das, was andere tun, sondern auf das, was sie unterlassen! – Diese altdeutsche Weisheit gilt auch für das empörende Verhalten der katholischen Krankenhäuser in Köln im Fall der mutmaßlich vergewaltigten jungen Frau.

Unterlassene Hilfeleistung im streng juristischen Sinn mag das zwar nicht sein; es entspricht jedoch in keinem Fall einem christlichen Ethikverständnis. Das hat auch Kardinal Meisner gestern eingeräumt.

Zum Fall: Da erwacht eine junge Frau im Park auf einer Bank. Sie ist verwirrt, erinnert sich nicht mehr an das Ende der vergangenen Nacht. In ihrer Not tut sie das einzig Richtige und wendet sich an eine Ärztin, die sie notärztlich untersucht und sie an ein Krankenhaus überweisen will, um die entsprechenden gynäkologischen Untersuchungen zu veranlassen.

Beide danach kontaktierten Krankenhäuser verweigern die Aufnahme mit dem Hinweis darauf, dass mit einer solchen Untersuchung auch eine mögliche Beratung zur „Pille danach“ verbunden sei. Diese jedoch zu verschreiben und abzugeben, ist katholischen Krankenhäusern untersagt.

Meine Damen und Herren, in dieser Situation wird die junge Frau zum zweiten Mal zum Opfer. Wir sind uns hier in diesem Haus vermutlich alle einig, dass einem Menschen, der hilflos zum Opfer eines Verbrechens geworden ist, jede Hilfe zuteilwerden muss, die er oder sie benötigt.

Bei aller Empörung über die bekannt gewordenen Einzelfälle ist zum einen sicher zu überlegen, ob die Zulassung oder Vergabe einer gynäkologischen Notfallbetreuung für katholische Krankenhäuser akzeptabel ist. Zum anderen müssen wir uns als Politikerinnen und Politiker die Frage stellen, warum es bislang keine einheitlichen gesetzlichen Vorgaben gibt, wie in einem solchen Fall eine Spurensicherung vorzunehmen ist.

Unabhängig vom Geschlecht werden immer wieder Fälle bekannt, in denen Menschen Opfer von sogenannten K.-o.-Tropfen oder anderen Betäubungsmitteln werden. Herr Kollege Lamla hat schon darauf hingewiesen: In diesen Fällen ist eine schnelle Spurensicherung vonnöten, denn manche Substanzen sind teilweise nur sechs bis zwölf Stunden nachweisbar. Eine Verzögerung, wie im Kölner Fall geschehen, führt im schlimmstenfalls sogar dazu, dass der Täter oder die Täterin unbehelligt davonkommen.

Wir gehen daher mit unserem Entschließungsantrag sogar noch einen Schritt weiter und fordern, dass es auch die Möglichkeit einer anonymen Spurensicherung geben muss.

Das Opfer einer Vergiftung mit K.-o.-Tropfen und der oftmals damit einhergehenden sexuellen Gewalt muss die Möglichkeit haben, Spuren sichern zu lassen – unabhängig von einer Anzeige bei der Polizei. Denn bislang besteht die Regelung, dass nur im Falle einer Anzeige die Kosten für eine Spurensicherung übernommen werden. Dem oftmals traumatisierten Opfer muss aber eine Karenzzeit gegeben werden, in der es sich entscheiden kann, ob es eine Anzeige vornimmt oder nicht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Antrag der Piratenpartei geht uns daher in der Sache nicht weit genug. Es geht nämlich nicht nur darum, eine umfassende medizinische Versorgung für Betroffene von sexueller Gewalt zu sichern und die Fälle aufzuklären. Diese Versorgung erfolgt in aller Regel auch in katholischen Krankenhäusern, um das klar zu sagen.

Wir bitten Sie daher um Zustimmung zu unserem Antrag, der die Landesregierung dazu auffordert, sich auf Bundesebene für die Klärung der Frage einzusetzen, ob die „Pille danach“ zur Erstversorgung von Vergewaltigungsopfern gehört.

Die Vorfälle in Köln müssen zudem rückhaltlos aufgeklärt werden. Das sind wir den Opfern von Betäubungsmitteln und sexueller Gewalt, unabhängig vom Geschlecht, schuldig. – Ich danke Ihnen.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin Jansen. – Für die CDU-Fraktion spricht Frau Kollegin van Dinther.

Regina van Dinther (CDU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute ein bedrückendes Thema. Die Frage steht im Raum, ob vergewaltigten Frauen in unserem Land alle Hilfe gegeben wird, die sie in ihrer verzweifelten Situation benötigen. In diesem Haus kann es dazu nur Klartext geben: Vergewaltigung ist ein schweres Verbrechen. Vergewaltigungsopfer müssen sicher sein können, dass ihnen sofort alle medizinische, psychologische und, wenn gewollt, seelsorgerische Hilfe zur Verfügung steht.

(Beifall von der CDU)

Die Fürsorge garantierende und die Entscheidungsfreiheit respektierende Begleitung des Opfers sind aus unserer Sicht wichtige Faktoren nach einem solchen traumatischen Vorfall. Die Krankenhäuser in unserem Land leisten diese Hilfe. Auch in den Häusern in Trägerschaft der Cellitinnen in Köln sind solche Grundsätze von dem klinischen Ethikkomitee als Handreichung an die behandelnden Ärzte formuliert. Leider ist das Papier, Anfang November 2012 formuliert, im Falle des Opfers im Dezember 2012 anscheinend nicht angewendet worden. Beide Kliniken, der Träger und Erzbischof Kardinal Meisner haben sich öffentlich für den Vorfall entschuldigt.

(Beifall von der CDU)

In beiden Häusern ist die Aufnahme und Versorgung von Vergewaltigungsopfern eigentlich gewährleistet; ebenso wird dort die anonyme Spurensicherung nach Sexualstraftaten, ASS, vorgenommen. Auch wenn es den Vorgang nicht ungeschehen macht, so ist es doch gut, dass uns heute die Entschuldigungen vorliegen und wir somit nun sowohl die Aufklärung des Fehlers als auch Maßnahmen erwarten können, die sicherstellen, dass so etwas nie wieder passiert.

Meine Damen und Herren, ich habe seit 1990 schon häufig hier gestanden, wenn wir in der Politik Gesetze gemacht haben, bei denen die Gewissensentscheidung schwer zu treffen war. Immer wenn Leben gegen Leben steht, ob es um Sterbehilfe oder auch um den Schutz des ungeborenen Lebens geht, gibt es nicht die eine klare Wahrheit. Ärzte und Betroffene erwarten deshalb zu Recht von der Politik, dass wir dann eindeutig formulieren und sie nicht am Ende der Kette den Schwarzen Peter der schweren Entscheidung haben. Daher haben wir vor Jahren den § 218 parteiübergreifend so geregelt, dass die Verantwortung und das Selbstbestimmungsrecht der Frau in den Mittelpunkt gestellt werden und der Staat Beratung und Hilfe garantiert. Wir wussten und wissen, dass damit christliche und kirchliche Grundsätze im Widerspruch stehen können.

Kirche muss immer der Anwalt der Schwachen sein, derer, die sich nicht selber wehren können. Kirche muss der Anwalt der Kranken, der Sterbenden und der Ungeborenen sein. Daher wird die sogenannte Pille danach in katholischen Häusern nicht ausgegeben, sehr wohl aber beratend auf diese Möglichkeit hingewiesen.

Kirche ist gleichzeitig Träger vieler Einrichtungen, die in liebevoller Fürsorge Menschen in Notlagen aufnehmen, ihnen helfen, sie begleiten und unterstützen. In Beratungseinrichtungen, beim Sozialdienst katholischer Frauen, in Häusern für von Gewalt betroffenen Frauen oder alleinerziehende Mütter, in Krankenhäusern, Pflegeheimen wird Stunde um Stunde, Jahr für Jahr Nächstenliebe und Zuwendung zu Menschen praktiziert. Diese Arbeit wollen viele von denen, die jetzt ziemlich laut unterwegs sind, erst gar nicht leisten.

(Beifall von der CDU)

Meine Damen und Herren, daher sage ich heute sehr klar: Wir müssen unmissverständlich auf der Seite der Opfer stehen, dürfen aber wegen eines Fehlers nicht so diskutieren, wie es an einigen Stellen passiert. Kirche unter Generalverdacht zu stellen, heißt, die Menschen, die tagtäglich aufopfernd auf der Seite der Schwachen arbeiten, mit Vorwürfen zu überziehen, die zwar Vorurteile bedienen, aber nicht der Realität entsprechen.

(Vereinzelt Beifall von der CDU)

Sollte Denunziantentum – dafür gibt es klare Hinweise in der öffentlichen Berichterstattung – ein Grund für die fehlerhafte Entscheidung der Ärztinnen sein, dann muss auch dies klar untersucht, benannt und alles getan werden, damit es in Zukunft nicht mehr zu solchen Fehlern kommen kann.

(Beifall von der CDU)

Wir im politischen Bereich – da appelliere ich an alle Handelnden in der Regierung und an all diejenigen, die Aufsicht führen – sollten den Fall vernünftig und abgewogen angehen, die Dinge mit dem Ziel bearbeiten, den Opfern zu helfen und ihnen nicht noch mehr Schaden zuzufügen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin van Dinther. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat Frau Kollegin Paul das Wort.

Josefine Paul (GRÜNE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine junge Frau geht am Wochenende aus, sie möchte sich amüsieren, sie möchte Spaß haben. Leider findet sich diese junge Frau am nächsten Tag auf einer Parkbank wieder – ohne jede Erinnerung daran, was geschehen sein könnte. Allein die Tatsache, sich an einem Ort wiederzufinden, von dem man nicht weiß, wie man dorthin gelangt ist, ist schrecklich. Noch viel schrecklicher aber muss die Erkenntnis sein, dass man auch keine Erinnerung daran hat, was passiert sein könnte, und der Verdacht aufkeimt, man könnte vielleicht Opfer einer Vergewaltigung geworden sein. Leider ist das kein Einzelfall. Immer wieder werden Frauen mit sogenannten K.-o.-Tropfen betäubt und im Anschluss Opfer von Vergewaltigungen.

In den letzten Tagen wurde bekannt, dass zwei katholische Krankenhäuser in Köln eine junge Frau abgewiesen haben, die Opfer einer Vergewaltigung geworden ist. Begründet wurde die Ablehnung einer vollumfänglichen Behandlung damit, dass im Rahmen eines Beratungsgesprächs auch auf die „Pille danach“ hingewiesen werden müsse und dies im Widerspruch zu den moralischen Leitlinien des Krankenhausträgers stünde.

Mittlerweile – das ist gut und richtig so – haben sich die Kliniken und Klinikträger öffentlich bei der jungen Frau entschuldigt und erklärt, dass keine vergewaltigte Frau in Krankenhäusern abgewiesen werde. Der Träger räumte aber auch ein – das gilt es natürlich noch weiter aufzuklären –, dass die im November 2012 erstellte „Ethische Stellungnahme zur Notfallkontrazeption bei Patientinnen, die vermutlich Opfer eines Sexualdelikts geworden sind“, die den Ärztinnen und Ärzten Sicherheit bei ethischen Fragestellungen geben soll, wohl noch nicht alle Bereiche durchdrungen hätte. Aus meiner Sicht wäre es richtig gewesen, darauf zu achten, dass die Ärztinnen und Ärzte dort von Beginn an Handlungssicherheit bekommen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Diese Stellungnahme stellt Fürsorge und Autonomie als zentrale Aspekte in den Mittelpunkt ihres Handlungsleitfadens. Dazu gehört auch, dass Frauen durch Beratung in die Lage versetzt werden müssen, selbst zu entscheiden, ob sie die „Pille danach“ wollen.

Der Träger ist nun aufgefordert, dem eigenen Anspruch, der mit dem Anspruch an Autonomie formuliert wird, tatsächlich gerecht zu werden. Entscheidet sich eine Frau dafür, muss sie zumindest kompetent und unbürokratisch weitervermittelt werden, wenn es immer noch gegen die moraltheologischen Grundsätze verstößt, einer Frau in einer solchen Notlage auch in einem katholischen Krankenhaus die „Pille danach“ zu verschreiben.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Doch im konkreten Fall ging es nicht einmal mehr um die Frage der Notfallkontrazeption. Die Notfallärztin hatte nämlich der jungen Frau bereits die „Pille danach“ verschrieben. Das Krankenhaus sollte lediglich eine Untersuchung zur Beweissicherung durchführen. Warum dies nicht geschehen ist und die Frau abgewiesen wurde, gilt es selbstverständlich zu klären. Das Gesundheitsministerium hat unmittelbar nach Bekanntwerden des Vorfalls mit der Klärung des Sachverhalts begonnen. Das eingeleitete Prüfverfahren kann zu diesem Zeitpunkt aber aufgrund der Notwendigkeit, den Sachverhalt umfassend zu prüfen und zu beleuchten, noch nicht abgeschlossen sein.

Meine Damen und Herren, wir sollten nicht vergessen: Im Mittelpunkt dieser Geschichte steht eine Frau, die sich in einer absoluten Krisensituation befunden hat. Oberste Priorität müssen in solchen Fällen der Opferschutz und die umfängliche medizinische sowie psychologische Betreuung der Frauen haben.

(Beifall von den GRÜNEN)

Keinesfalls dürfen religiöse Erwägungen über das Wohl des Opfers oder über die Möglichkeit der Strafverfolgung gestellt werden. Daran sollten wir uns auch in dieser Debatte erinnern.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Zentral ist in diesem Zusammenhang auch die flächendeckende Ermöglichung der gerichtsverwertbaren Beweissicherung, auch auf dem Wege der anonymen Spurensicherung. Denn oftmals ist das Erlebte für die Frauen so traumatisierend, dass sie die Entscheidung darüber, ob sie Anzeige erstatten wollen, eben erst später treffen können. Für Frauen muss es verlässliche Verfahrenswege geben, auf denen sie Hilfe und Unterstützung finden. Es ist Frauen, die Opfer einer Vergewaltigung geworden sind, schlicht nicht zuzumuten, zum Spielball unterschiedlicher Moralvorstellungen zu werden. Eine umfassende Versorgung sowie vollständige Beratung inklusive der Aufklärung über die „Pille danach“ müssen unabhängig von moraltheologischen Erwägungen überall in NRW gewährleistet sein.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Herr Lamla, noch einen kurzen Satz zu Ihrer letzten Einlassung, wir hätten das alles nur aus Parteitaktiererei gemacht, weil wir sonst Ihrem Antrag hätten zustimmen können: Großen Teilen Ihres Antrags kann ich auch zustimmen und bin Ihnen dankbar für Ihre Initiative. Nichtsdestotrotz müssen wir doch feststellen, dass wir uns zwar in der Sache sind, aber Ihr Vorwurf, wir handelten aus parteitaktischer Erwägung heraus, dem Thema und den Frauen an der Stelle nicht gerecht wird.

(Beifall von der SPD)

Wenn Sie nämlich unseren Antrag lesen und unseren Beschlusspunkten folgen, werden Sie erkennen, dass wir für einen umfassenden Opferschutz und umfassenden Schutz der Frauen an dieser Stelle eintreten. Ich finde, dass das an der Stelle keine Parteitaktiererei, sondern eine sachgerechte Herangehensweise an diese Thematik ist. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin Paul. – Für die FDP-Fraktion spricht Frau Kollegin Schneider.

Susanne Schneider (FDP): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Sicher gehört eine Vergewaltigung zum Schlimmsten, was einer Frau widerfahren kann. Der heute schon mehrfach geschilderte Fall der jungen Frau aus Köln macht mich zutiefst betroffen und traurig. Es darf nicht sein, dass Opfern von Straftaten aus welchen Gründen auch immer in unserem Land eine Behandlung verweigert wird. Gleichwohl muss es erlaubt sein, zu differenzieren.

Ich akzeptiere den Standpunkt katholischer Krankenhäuser, die „Pille danach“ aufgrund einer ethischen Position nicht zu verschreiben. Es ist auch nicht Aufgabe von Politik, zu entscheiden und vorzugeben, welche Kontrazeptiva einzelne Krankenhausträger vorzuhalten und/oder zu verordnen haben. In keinem Fall akzeptabel ist allerdings die Abweisung einer mutmaßlich vergewaltigten Frau, die in einem Krankenhaus Rat und Hilfe sucht, der es schlecht geht, die medizinisch und vor allen Dingen psychisch betreut werden muss, in einer Klinik, deren Aufgabe neben der medizinischen Versorgung auch die Gewährleistung einer raschen Spurensicherung ist. Denn nur damit kann sichergestellt werden, dass Beweise in einem Gerichtsverfahren auch entsprechend verwertet werden können.

Dies alles ist hier nicht geschehen. Die Kliniken berichten von einem bedauerlichen Kommunikationsfehler.

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die beiden betroffenen Kliniken haben die Patientin um Entschuldigung gebeten. Auch Kardinal Meisner entschuldigte sich gestern öffentlich. Das ist ein erster, wichtiger Schritt.

Die FDP-Fraktion hier im Landtag spricht sich aber klar dagegen aus, die katholische Kirche unter den Verdacht zu stellen, Opfern von Vergewaltigungen generell die Behandlung zu verweigern.

(Beifall von der FDP)

Auch die Staatsanwaltschaft hat bereits entschieden, nicht gegen die betroffenen Kliniken zu ermitteln, da kein Fall unterlassener Hilfeleistung und auch nicht von Strafvereitelung durch Unterlassung vorliege.

Frau Ministerin Steffens ist nun gefordert, das Gespräch mit den betreffenden Kliniken zu suchen und für umfassende Aufklärung zu sorgen. Es gibt in diesem Fall durchaus noch offene Fragen. So muss beispielsweise auch die Frage erlaubt sein, warum sich die Notärztin nach der telefonischen Abweisung durch eine katholische Klinik nicht an eines der vielen Kölner Krankenhäuser wandte, sondern wieder bei einer katholischen Klinik anfragte, die ebenfalls von der Cellitinnen-Stiftung getragen wird.

(Christian Lindner [FDP]: Richtig!)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Gesundheitsministerium ist nun in der Pflicht, die Krankenhäuser in Nordrhein-Westfalen anzuweisen, ihre Verhaltensleitlinien sowie die Organisations- und Kommunikationsstrukturen zu überprüfen. Das größte Krankenhaus in meinem Heimatkreis – ebenfalls in katholischer Trägerschaft – hat eine solche Überprüfung bereits angekündigt. Vor allem aber muss dafür gesorgt werden, dass sich ein solcher Fall nicht wiederholen kann. Das Schlimmste, was passieren könnte, wäre, dass sich vergewaltigte Frauen nicht mehr trauten, Angst hätten, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die Menschen in Nordrhein-Westfalen müssen die Gewissheit haben, dass sie in allen Krankenhäusern – egal in welcher Trägerschaft – sofort und ausreichend betreut werden.

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der vorliegende Antrag der Piratenfraktion ist der FDP-Landtagsfraktion in Teilen zu vage formuliert. In anderen Teilen greift er zu weit.

Wir haben uns daher nach reiflicher Überlegung entschlossen, uns bei der beantragten Abstimmung zu enthalten. – Ich danke Ihnen.

(Beifall von der FDP und Josef Hovenjürgen [CDU])

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin Schneider. – Für die Landesregierung spricht Frau Ministerin Steffens.

Barbara Steffens, Ministerin für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Fall, der Anlass für die heutige Diskussion gibt, ist skandalös. Ich glaube, das ist unumstritten.

Bisher ist nur einiges über den Fall bekannt. Unumstritten ist auch, dass dieser Fall lückenlos aufgeklärt werden muss. Bekannt ist bisher, dass eine junge Frau am 15. Dezember mit K.-o.-Tropfen betäubt und vergewaltigt worden ist. Erst am Folgetag war sie in der Lage, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Die erste Anlaufstelle war eine ärztliche Notfallpraxis. Die Polizei ist informiert worden. Sie hat den Vorfall protokolliert. Die Notärztin hat sich bei zwei katholischen Krankenhäusern desselben Trägers um eine gynäkologische Untersuchung zur Spurensicherung bemüht. Die telefonische Ablehnung ist mit der Begründung geschehen, die „Pille danach“ müsse auch Bestandteil der Behandlung sein.

Dies war bei dem Fall eigentlich gar nicht mehr notwendig, denn die Frau hatte das Rezept für die „Pille danach“ schon. Sie war bereits von der Notärztin verordnet worden. Im Grunde genommen ging es um die Spurensicherung und die Erstversorgung dieser jungen Frau.

Es ist inakzeptabel und vor dem Hintergrund des Versorgungsauftrags der Krankenhäuser in Nordrhein-Westfalen nicht hinnehmbar, dass diese Versorgung einer Patientin in Nordrhein-Westfalen verwehrt worden ist – unabhängig davon, wer Träger eines Krankenhauses ist. Das ist klar; das muss man nicht neu regeln. Das ist Bestandteil der gesetzlichen Grundlage.

Für diesen Vorfall hat sich Kardinal Meisner öffentlich entschuldigt. Aber es reicht nicht, sich im Einzelfall nach hinten zu entschuldigen. Klar ist: Wir müssen sicherstellen, dass sich ein solcher Fall in Nordrhein-Westfalen nicht wiederholen wird. Wir müssen klarstellen, wo es weitere Risiken dafür gibt.

Bisher ist dem Krankenhausträger nach allem, was uns vorliegt, kein Organisationsverschulden nachzuweisen. Klar ist, dass jetzt aber von allen Krankenhäusern – auch denjenigen in konfessioneller Trägerschaft – noch einmal deutlich klargestellt werden soll, dass keiner Frau diese Versorgung verwehrt werden wird. Wir führen Gespräche in diese Richtung auch mit den Verantwortlichen. Ich glaube, dass es richtig ist, sich auch nach vorn zu orientieren.

Aber wenn wir von dem aufzuklärenden Fall, aus dem Konsequenzen zu ziehen sind, einen Schritt weiter gehen, wissen wir: Es kann eine Situation geben, in der der jetzige Fall nicht so einfach lösbar wäre, nämlich der Fall, dass eine Frau nicht ambulant versorgt werden müsste, sondern als vergewaltigtes schwer verletztes Notfallopfer stationär aufgenommen würde.

Dann haben wir mit dem Vorgehen, das von der FDP-Fraktion vorhin als akzeptabel beschrieben worden ist, ein Problem. Wenn nämlich das katholische Krankenhaus der vergewaltigten schwer verletzten Frau, die stationär aufgenommen ist, die „Pille danach“ versagt. Hierfür brauchen wir eine gemeinsame Lösung mit den Krankenhausträgern. Hierbei muss klar sein, dass es entweder Kooperationen mit konfessionslosen Ärztinnen und Ärzten oder die Möglichkeit gibt, dass die Frau selbstbestimmt in dieser Krisen- und Notsituation entscheiden kann, wie sie damit umgeht.

(Christian Lindner [FDP]: Zustimmung!)

Daher werden wir uns damit intensiv und auch auf Bundesebene beschäftigen müssen, inwieweit und über welchen Weg das rechtlich und organisatorisch mit den Ärzten und Ärztinnen sicherzustellen ist. Klar ist, dass das eine Leben nicht gegen das andere Leben ausgespielt werden darf und dass es wichtig ist, dass eine Frau, die vergewaltigt worden ist, jede Hilfe zur Stabilisierung in dieser Lebenslage bekommt. Wenn es für sie zu ihrer persönlichen Stabilisierung wichtig ist zu wissen, dass sie vom Täter nicht schwanger werden kann, muss der Frau diese Hilfe gewährt werden.

(Beifall von den GRÜNEN, Ilka von Boeselager [CDU] und Christian Lindner [FDP] – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Dies ist aus meiner Sicht kein typisches Problem von Nordrhein-Westfalen, sondern ein grundsätzliches Problem, das wir überall haben, wo es konfessionelle Krankenhausträger gibt, die sich einer Lösung verweigern würden.

(Unruhe)

Also halte ich es für notwendig, dass die Diskussion nicht nur in Nordrhein-Westfalen geführt wird, sondern dass wir sie gemeinsam auch mit dem Bundesgesundheitsminister, der Bundesärztekammer und den entsprechenden Krankenhausgesellschaften führen und dass wir im Interesse aller Frauen, die in Zukunft in solche Lebenslagen und Situationen kommen, eine umfassende Lösung haben.

Es gilt, den konkreten Fall aufzuklären und zu prüfen, ob Konsequenzen daraus gezogen werden müssen. Nach vorn müssen wir die Lösung für alle Frauen sicherstellen. Diesen Weg sollten wir gemeinsam gehen.

(Fortgesetzt Unruhe)

Letzter Punkt: Wir haben im letzten Jahr von Nordrhein-Westfalen aus eine Initiative ergriffen, um auf Bundesebene in der Frauen- und Gesundheitsministerkonferenz die Verschreibungspflicht der „Pille danach“ aufzuheben, wie es in anderen europäischen Ländern zum Teil der Fall ist. Denn dann haben die Frauen einen anderen Zugang zu diesem Medikament. Leider haben wir dazu keine Zustimmung von den übrigen Ländern erfahren. Aber ich wünsche mir, dass wir von hier aus Unterstützung haben, um diese Initiative erneut und dann erfolgreich bundesweit durchzusetzen.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Ministerin Steffens. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Geräuschpegel ist sehr hoch. Ich habe großes Verständnis dafür, denn man konnte vom Präsidium aus beobachten, dass man darum ringt, wie man gleich abstimmen wird. Aber das darf nicht dazu führen, dass geschätzt 150 Kolleginnen und Kollegen so laut sind, dass es dieser Debatte abträglich ist. Das kann man nicht mehr akzeptieren.

(Beifall von Dirk Schatz [PIRATEN])

Ich werde in ähnlichen Situationen künftig intervenieren. Ein zu hoher Geräuschpegel stört zwar immer, aber es gibt Debatten, bei denen es sich mit Blick auf den Inhalt verbietet, so etwas durchgehen zu lassen. Das Maß war jetzt überschritten.

(Beifall von den PIRATEN – Vereinzelt Beifall von der SPD, der CDU und den GRÜNEN)

Nichtsdestotrotz kommen wir zur Abstimmung, weil die Debatte beendet ist und keine weiteren Wortmeldungen vorliegen.

Wir haben insgesamt drei Anträge vorliegen. Da ist einmal der diesem Tagesordnungspunkt zugrunde liegende Eilantrag der Fraktion der Piraten mit dem Titel „Jedes Krankenhaus muss Vergewaltigungsopfer medizinisch versorgen. Religiöse Grundsätze dürfen dabei keine Rolle spielen!“ Dann gibt es in der Fassung des Neudrucks den Entschließungsantrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Hilfe für Vergewaltigungsopfer darf nicht von der religiösen Ausrichtung des Klinikträgers abhängen“. Der zweite Entschließungsantrag und dritte Abstimmungsantrag kommt von der Fraktion der CDU mit dem Titel „Vergewaltigungsopfer haben Anspruch auf umfassende Hilfe“.

Wir kommen zuerst zur Abstimmung über den Eilantrag der Fraktion der Piraten Drucksache 16/1953. Wer diesem Eilantrag seine Zustimmung geben möchte, den bitte ich um das Handzeichen. – Das sind die Piraten. Gegenstimmen? – Das sind Gegenstimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU.

(Beifall)

Stimmenthaltungen? – Die FDP. Dann ist mit dem festgestellten Abstimmungsergebnis der Eilantrag der Piraten abgelehnt.

Ich komme damit zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen Drucksache 16/1966 – Neudruck. Wer dem seine Zustimmung geben möchte, den bitte ich um das Handzeichen. – Das sind SPD, Bündnis 90/Die Grünen und die Piraten. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Wer enthält sich? – CDU und FDP. Damit ist der Entschließungsantrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit dem festgestellten Abstimmungsergebnis angenommen.

Ich komme zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU Drucksache 16/1967. Wer stimmt diesem Entschließungsantrag zu? – Das sind CDU und Teile der FDP.

(Beifall von den PIRATEN)

Wer stimmt dagegen? – Niemand. Wer enthält sich? – SPD, Bündnis 90/Die Grünen, wiederum Teile der FDP und die Piraten. Damit ist der Entschließungsantrag der Fraktion der CDU mit dem festgestellten Abstimmungsergebnis angenommen.

Wir sind damit am Ende von Tagesordnungspunkt 7.

Ich rufe auf Tagesordnungspunkt

8   Fragestunde

Drucksache 16/1640

In der genannten Drucksache liegen Ihnen die Mündlichen Anfragen 9 und 10 vor.

Ich rufe die

Mündliche Anfrage 9

der Abgeordneten Monika Pieper von der Fraktion der Piraten auf:

Was veranlasste den Rückzug des Referentenentwurfs zum Gesetz zur Umsetzung der VN-Behindertenkonvention (9. Schulrechtsän­derungsgesetz)?

Kurz vor Weihnachten wurde bekannt, dass Ministerin Löhrmann den Referentenentwurf zum 9. Schulrechtsänderungsgesetz zur Umsetzung der VN-Behindertenrechtskonvention in den Schulen zurückgezogen hat. Vorangegangen war eine Protestwelle von Eltern, Lehrern und Kommunen. Im Anhörungsverfahren wurden massive Einwände gegen den Entwurf formuliert. Diese Kritik in der Auseinandersetzung um die Umsetzung der Inklusion machte den Rückzug des Entwurfs unausweichlich. Ministerin Löhrmann erklärte daraufhin, sie wolle so viel Streit wie möglich im Vorfeld des Gesetzgebungsverfahrens abräumen.

Ich frage nun Frau Ministerin Löhrmann: Was sind die strittigen Punkte in dieser Auseinandersetzung?

(Unruhe)

Sobald sich der Geräuschpegel gelegt hat, kann Frau Ministerin Löhrmann mit ihrer Antwort beginnen. Aber lassen Sie sich Zeit, bis die nötige Ruhe eingekehrt ist. Die Kolleginnen und Kollegen verlassen relativ laut den Raum. Deshalb warten wir auch mit der Antwort, bis man Sie auch hören kann.

Sylvia Löhrmann, Ministerin für Schule und Weiterbildung: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Kollegin Pieper, obwohl ich in Ihrer Fragestellung die eine oder andere Sachdarstellung nicht teile, bin ich Ihnen ausdrücklich sehr dankbar für Ihre Anfrage, weil Sie mir ermöglicht, Ihnen den Stand des Gesetzgebungsverfahrens noch einmal zu erläutern, wie wir das auch schon heute Mittag zum Teil gehört haben.

Erstens. Die Landesregierung hat den Referentenentwurf eines Ersten Gesetzes zur Umsetzung der VN-Behindertenrechtskonvention nicht zurückgezogen. Ein Referentenentwurf – das hat die Kollegin Hendricks heute Morgen schon gesagt – ist immer so angelegt, dass die Überlegungen der Regierung in diesem Referentenentwurf in die Verbände gegeben werden. Die Rückmeldungen werden anschließend ausgewertet. Daraus wird dann ein Gesetzentwurf der Landesregierung zur Zuleitung an das Parlament.

Zweitens. Bereits im Juli/August 2012 erfolgte die Ressortabstimmung dieses Referentenentwurfs. Im Kabinett wurde im September die Freigabe zu dieser Verbändebeteiligung gefasst. Einen Tag später, am 19. September 2012, wurde den Verbänden der Referentenentwurf zugeleitet.

Vor gut elf Wochen, am 2. November, endete die Verbändebeteiligung. Dabei gehen bis zum heutigen Tag immer noch Stellungnahmen zu diesem Referentenentwurf ein, weil sich so viele Menschen mit diesem Thema auseinandersetzen und uns noch Zuschriften zuleiten. Wir sind aber im Grunde nur verpflichtet, die Stellungnahmen auszuwerten, die bis zum 2. November eingegangen sind.

Die Gespräche mit den kommunalen Spitzenverbänden nach dem Konnexitätsausführungsgesetz endeten erst vor vier Wochen am 19. Dezember 2012, und zwar aufgrund der schriftlichen Absage der kommunalen Spitzenverbände, mit der Landesregierung eine Arbeitsgruppe zu bilden, um sich über Kostenstrukturen zu verständigen und möglicherweise zu einer Annäherung zu kommen. Dieses Warten hat das Gesetzgebungsverfahren leider verzögert.

Die Landesregierung wird – das ist heute Morgen in der Plenarsitzung schon deutlich geworden und dargestellt worden – ihren Gesetzentwurf regierungsintern erneut abstimmen und dann dem Landtag zuleiten. Danach ist der Landtag am Zug, der ja gesetzliche Regelungen beschließt und damit auch faktisch über Rechtsansprüche und andere Bestandteile des Gesetzes entscheidet.

Wichtig ist, dass das Gesetz rechtzeitig vor der nächsten Anmeldephase für die Grundschulen – das ist der November 2013 – und für die weiterführenden Schulen – das ist der Februar 2014 – in Kraft tritt. Das ist zumindest erklärtes Ziel der Landesregierung. Das hat die Ministerpräsidentin letzte Woche auch sehr deutlich gemacht.

Ich werde dem Ausschuss für Schule und Weiterbildung die Voten der Verbände zur Verfügung stellen, sodass sich die Mitglieder des Schulausschusses ein eigenes Urteil über das Verbändeecho bilden können. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Ministerin. – Wir haben die erste Nachfrage von Frau Pieper. Bitte schön.

Monika Pieper (PIRATEN): Vielen Dank, Frau Ministerin Löhrmann. Ich hatte gefragt: Was sind die strittigen Punkte in dieser Auseinandersetzung? Ich möchte jetzt gerne wissen, ob unter anderem der Fortbestand der Förderschulen ein Konfliktpunkt in dieser ganzen Diskussion ist.

Sylvia Löhrmann, Ministerin für Schule und Weiterbildung: Frau Kollegin Pieper, die Frage der Auswirkungen des Elternwahlrechts wird in den Stellungnahmen zum Thema gemacht. Das gilt auch für die Frage, welche Auswirkungen das auf die Förderschulen hat. Außerdem haben wir ja – das gilt eigentlich für alle Schulformen – bestimmte Schulmindestgrößen. Dazu nehmen die Verbände unterschiedlich Stellung. Das ist also ein Thema.

Es gibt – das wissen wir – in den Behindertenverbänden die Auffassung, dass man bestimmte Förderschulschwerpunkte von Landesseite aus möglicherweise stärker gesetzlich auslaufend stellen sollte. Das würde aber dem erklärten Willen des Parlaments sowohl in der Beschlussfassung vom Dezember 2010 als auch in der vom Juli 2012 widersprechen.

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Ministerin. – Herr Witzel möchte Ihnen gerne eine Frage stellen.

Ralf Witzel (FDP): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Ministerin Löhrmann, Sie haben in letzter Zeit immer deutlich gemacht, dass man bei vollzogener Inklusion natürlich ein anders qualifiziertes Personal benötigt. Diese Herausforderungen werden sich für viele Lehrer im Unterrichtsalltag bislang nicht gestellt haben. Deshalb, Frau Ministerin, möchte ich Sie fragen: Welche verbindlichen Vorgaben wollen Sie im Zuge der Umsetzung der Inklusion für das multiprofessionelle Personal umsetzen? Was ist da vorgesehen?

(Vorsitz: Vizepräsident Eckhard Uhlenberg)

Sylvia Löhrmann, Ministerin für Schule und Weiterbildung: Sehr geehrter Herr Witzel, die Landesregierung wird einen Gesetzentwurf vorlegen, der die verschiedenen Fragestellungen berücksichtigt, nämlich welche Auswirkungen der Gesetzentwurf auf die öffentlichen Haushalte, auf die kommunalen Haushalte, auf die Privathaushalte und auf die Wirtschaft hat. Insofern greife ich hier der landesregierungsinternen Meinungsbildung, die nach Auswertung in meinem Ministerium gerade einsetzt, nicht vor.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Frau Ministerin. – Als Nächster hat sich Herr Kollege Abruszat gemeldet. Bitte schön.

Kai Abruszat (FDP): Vielen Dank, Herrn Präsident. – Frau Ministerin, ich habe ebenfalls eine Zusatzfrage und möchte gerne wissen, welche Beschränkung der Klassengröße Sie für Klassen an allgemeinen Schulen, in denen Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf unterrichtet werden, festzulegen gedenken.

Sylvia Löhrmann, Ministerin für Schule und Weiterbildung: Sehr verehrter Herr Kollege Abruszat, wir haben – das ist üblich – einen Meinungsbildungsprozess innerhalb der Landesregierung. Wenn die Landesregierung diesen Meinungsbildungsprozess abgeschlossen hat, wird sie den Gesetzentwurf der Landesregierung dem Landtag zuleiten.

Dass die Landesregierung – dem greife ich jetzt nicht vor; das ist auch durch die Fragestellung der Kollegin Pieper gedeckt, denn sie fragt nur nach der Benennung von Streitpunkten und nicht nach der jetzt schon zu präsentierenden Lösung – hier eine Verbesserung gegenüber dem Status quo vorhat, das können Sie dem Haushaltsentwurf der Landesregierung für das Haushaltsjahr 2013 entnehmen. Im Einzelplan meines Hauses sind nämlich erstmals Stellen vorgesehen für Klassengrößen in Schulen der Sekundarstufe I, die sich dem Auftrag „Inklusion“ stellen.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Frau Ministerin. – Als Nächste hat sich Frau Kollegin Schmitz von der FDP-Fraktion gemeldet.

Ingola Schmitz (FDP): Sehr geehrte Frau Ministerin, inwieweit planen Sie, Qualitätsstandards für die Umsetzung der Inklusion an allgemeinen Schulen zu definieren und verbindlich zu machen?

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Frau Ministerin, bitte schön.

Sylvia Löhrmann, Ministerin für Schule und Weiterbildung: Sehr geehrte Kollegin Schmitz, ich werde mich jetzt häufig wiederholen müssen, weil Sie offenbar alle danach fragen – das können Sie auch tun –, was genau die Landesregierung vorlegt. Dieser Beratungsprozess dauert an. Das ist auch normal. Deswegen kann ich Ihnen zu diesem Zeitpunkt auf diese Frage keine Antwort geben.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Danke schön, Frau Ministerin. – Nun hat sich Frau Abgeordnete Pieper von den Piraten gemeldet.

Monika Pieper (PIRATEN): Ich habe noch eine Nachfrage. Es ist bekannt, dass es ein Problem mit den Kommunen in der Frage gibt, ob das Konnexitätsprinzip hier gilt oder nicht. Sehen Sie da schon Licht am Horizont? Ist abzusehen, dass eine Einigung erzielt werden kann?

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Frau Ministerin, bitte schön.

Sylvia Löhrmann, Ministerin für Schule und Weiterbildung: Frau Kollegin Pieper, ich habe eben in der Plenardebatte deutlich gemacht, dass wir intensivste Gespräche auf unterschiedlichen Ebenen mit den kommunalen Spitzenverbänden geführt haben – auch ich persönlich –, dass wir ein Verfahren mit den kommunalen Spitzenverbänden unter Beteiligung des Ministeriums für Arbeit, Integration und Soziales, des Innenministeriums, des Finanzministeriums und der Staatskanzlei eingeleitet haben, dass diese Gespräche bisher jedoch nicht zu einer Annäherung der Positionen geführt haben.

Die Kommunen haben, weil man nicht im Streit bleiben wollte und wir vom Grundsatz her ja ein gutes Miteinander mit den Kommunen haben, dann vorgeschlagen, ob nicht eine Arbeitsgruppe aus kommunalen Spitzenverbänden und Vertretern der Landesregierung gebildet werden soll zu Fragen der Schülerfahrtkosten, der Räumlichkeiten, der Lehr- und Lernmittel und dem schulischen Assistenzpersonal.

Das Kabinett hat im November, nachdem dieser Vorschlag im Raum stand, entschieden, dass es dazu bereit ist, obwohl das zu einer Verzögerung führen würde. Die Kommunen haben dann aber kurz vor Weihnachten einen Rückzieher gemacht und gesagt, sie wollten diese Arbeitsgruppe nicht. Das ist der letzte Stand.

Gleichwohl habe ich in der Debatte eben deutlich gemacht, dass die Tür zu Gesprächen immer offensteht, wir uns Gesprächen selbstverständlich nicht verweigern. Diese Situation darf aber nicht dazu führen, dass wir nicht am Gesetz weiterarbeiten können, denn andere Interessen, nicht zuletzt die der Behindertenverbände und die der Eltern von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die auf dieses Gesetz warten, dürfen nicht hintangestellt werden.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Frau Ministerin. – Der Abgeordnete Witzel hat sich zu einer Zusatzfrage gemeldet.

Ralf Witzel (FDP): Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich habe noch eine zweite Nachfrage an Frau Ministerin Löhrmann, weil ich es für legitim halte, dass das Parlament bei einem der zentralen Regierungsvorhaben in ihrem Politikbereich bei Auskünften nicht nur an der Oberfläche bleiben, sondern im Detail nachfragen möchte.

Auch mich interessieren Ausstattungsstandards. Kollege Abruszat hatte Sie ja eben schon zu Klassengrößen befragt. Ich habe eine etwas andere Fragestellung. Meine Frage lautet: Welche Höchstzahl für Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf gedenken Sie in einer Klasse einer allgemeinen Schule festzulegen, damit die aus Ihrer Sicht notwendige Unterrichtsqualität gegeben ist?

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Bitte schön, Frau Ministerin.

Sylvia Löhrmann, Ministerin für Schule und Weiterbildung: Sehr geehrter Herr Witzel, das ist ein erweiterter Versuch, jetzt eine Festlegung herbeizuführen, die noch nicht vollzogen ist. Insofern fällt das unter die Kategorie der Fragen, zu denen der Meinungsbildungsprozess innerhalb der Landesregierung noch nicht abgeschlossen ist.

Ich kann Sie aber ermuntern, Folgendes zu tun: Vielleicht sehen Sie sich einmal Schulen an, die schon inklusiv arbeiten, wie die heute ausgezeichnete Kettelerschule oder wie eine mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnete Grundschule in Ratingen. Dort findet gelebte Praxis mit den derzeitigen Rahmenbedingungen statt.

Gerade für die Grundschule legt diese Landesregierung erstmals zusätzliche Stellen fest. Von vielen Schulen wird mir signalisiert, dass es ihnen wichtig ist, flexible Budgets zu bekommen, und es nicht zwingend darum geht, von oben die Klassengröße genau festzulegen, weil manche Schulen lieber zwei Lehrkräfte in einer etwas größeren Gruppe einsetzen möchten, ohne dabei die Flexibilität zu verlieren, in einer anderen, vielleicht kleineren Gruppe nur eine Lehrkraft einzusetzen. Also: Flexiblere Angebote sind erwünscht. All das wird die Landesregierung abwägen und berücksichtigen, bevor sie dem Parlament einen Gesetzentwurf zuleitet.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Frau Ministerin. – Nun hat sich Frau Abgeordnete Gebauer von der FDP-Fraktion gemeldet.

Yvonne Gebauer (FDP): Herzlichen Dank. – Sehr geehrte Frau Ministerin, ich nehme Bezug auf die Kompetenzzentren, in denen im Rahmen der sonderpädagogischen Förderung hervorragende Präventionsarbeit geleistet wird. Der Begriff „Prävention“ taucht aber im bisherigen Referentenentwurf nicht auf. Könnten Sie in diesem Zusammenhang erläutern, warum die Kompetenzzentren so zeitnah abgeschafft werden sollen, wenn der Begriff „Prävention“ in den jetzigen gesetzlichen Planungen offensichtlich gar nicht genannt wird?

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Bitte schön, Frau Ministerin.

Sylvia Löhrmann, Ministerin für Schule und Weiterbildung: Frau Gebauer, Sie sprechen einen Bereich an, der in der Tat noch mal erhöhte Aufmerksamkeit erfahren wird, weil der Schulversuch, den die Vorgängerregierung zu den Kompetenzzentren durchgeführt hat, begrenzt ist und ein Auslaufen festgestellt ist. Es gäbe auch viel dazu zu sagen, unter welchen Bedingungen und warum es diesen Schulversuch gegeben hat und warum er immer wieder ausgeweitet worden ist, obwohl es damals keine genaue Vorstellung dafür gab. Aber darum geht es mir gar nicht.

Wir werden überlegen müssen, wie wir die unterschiedlichen Zielsetzungen, die mit den Kompetenzzentren verbunden waren, und wie wir die daraus entstandene Ausgestaltung – sie war ja nicht einheitlich, das ist auch Sinn eines Schulversuchs – mit ihren verschiedenen Akzenten in schulrechtliche Regelungen überführen. Das Werning-Gutachten, das wir zur Auswertung des Schulversuchs erarbeitet und veröffentlich haben, gibt uns dazu wertvolle Hinweise.

Die Zielsetzung der Landesregierung dabei ist, die Kultur des Behaltens, die einige Kompetenzzentren entwickelt haben, und auch die gegebenen Vernetzungsmöglichkeiten möglichst in den Gesetzentwurf zu überführen.

Es ist nicht Ziel der Landesregierung und auch nicht Auftrag der UN-Behindertenrechtskonvention, Strukturen zu erhalten, die in der klassischen Mentalität verbleiben, dass Kinder mit speziellem Bedarf nicht in einer allgemeinen Schule lernen.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank. – Frau Abgeordnete Birkhahn von der CDU-Fraktion hat sich zu einer Frage gemeldet.

Astrid Birkhahn (CDU): Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Ministerin, bei der Festlegung der Eingangsklassen teilen die Kommunen die angemeldeten Schülerinnen und Schüler zu. Wie ist der Stand der Überlegungen, die Inklusion bei der Festlegung dieser Eingangsklassen zu berücksichtigen? Wird es da einen Korridor geben? Wird es einen anderen Teiler geben? Wie kann man dieser besonderen Situation Rechnung tragen?

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Frau Ministerin, bitte.

Sylvia Löhrmann, Ministerin für Schule und Weiterbildung: Frau Kollegin Birkhahn, auch dazu wird die Landesregierung innerhalb der Ressortabstimmung prüfen, ob sie bei der Festlegung im jetzigen Referentenentwurf bleibt, erstmals eine Deckelung der Lerngruppen von Kindern mit sonderpädagogischen Förderbedarf vorzusehen, oder ob sie daran Korrekturen vornimmt.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Frau Ministerin. – Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Damit ist die Mündliche Anfrage 9 beantwortet.

Ich rufe die

Mündliche Anfrage 10

der Frau Abgeordneten Yvonne Gebauer von der FDP-Fraktion auf:

Wie will die Schulministerin die vielfältigen ungeklärten Aspekte einer qualitativen Umsetzung der Inklusion im weiteren Vorgehen ausgestalten?

Mit dem von der rot-grünen Mehrheit im Landtag beschlossenen Antrag „Zusammen lernen – zusammenwachsen, Eckpunkte für den Weg zur inklusiven Schule in NRW“ wurde die Landesregierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die „Umsetzung eines grundsätzlichen Rechtsanspruchs auf Unterricht in der allgemeinen Schule auch für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf – beginnend mit den Klassen 1 und 5 ab dem Schuljahr 2013/14“ beinhalten sollte. Dies deckte sich auch mit Ankündigungen von Vertretern der Koalitionsfraktionen. Im September 2012 wurde ein vom Kabinett beschlossener Referentenentwurf des Ministeriums für Schule und Weiterbildung zur Inklusion „Erstes Gesetz zur Umsetzung der VN-Behinderten­rechtskonvention in den Schulen (9. Schulrechts­änderungsgesetz)“ offiziell vorgestellt. In der Folge wurde eine Vielzahl von Aspekten des Entwurfs von Eltern und Lehrerverbänden, von kommunalen Spitzenverbänden, Oppositionsfraktionen im Landtag und von – oftmals auch sozialdemokratischen und grünen – Kommunalpoliti­kern massiv kritisiert. Unmittelbar vor Weihnachten hat die Schulministerin verdeutlicht, dass ein grundsätzlicher Rechtsanspruch nicht zum Schuljahr 2013/2014 in Kraft treten werde. Die Ministerin erklärte in einer Pressemitteilung am 21. Dezember 2012: „Bei dieser Generationenaufgabe geht die Landesregierung sorgfältig vor und bindet alle Beteiligten in den Prozess ein. Das Verfahren ist dialogisch angelegt.“

Der Eindruck eines dialogischen und sorgfältigen Vorgehens scheint jedoch nicht sehr weit verbreitet zu sein. Die Erklärungen der Ministerin, wonach die Inklusion nicht konnexitätsrelevant sei, wird von Kommunalvertretern und Lehrerverbänden scharf kritisiert. Die Ministerin hingegen erklärte, dass die Kommunen „erst mal den Nachweis erbringen (müssten), dass tatsächlich Mehrkosten entstehen.“ Neben ungeklärten Fragen der Kostenübernahme hat das bisherige Vorgehen der Ministerin eine Vielzahl weiterer Fragen offengelassen, deren Klärung für eine qualitative Umsetzung der Inklusion unerlässlich ist. Es besteht eine große Rechtsunsicherheit, klare Ressourcenplanungen liegen nicht vor. Unzureichend sind auch notwendige Vorgaben zur räumlichen Ausstattung oder zur Sachmittelausstattung. Auch zur Größe der Lerngruppen und der Zahl der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in diesen Lerngruppen liegen keine expliziten Vorgaben vor. Aspekte der Schülerfahrkosten, der Integrationshelfer oder multiprofessioneller Unterstützung sind umstritten. Wie die notwendige Anzahl an Sonderpädagogen sichergestellt werden kann, ist trotz der von Rot-Grün eingeleiteten Weiterbildung nicht absehbar. Der geplante Aufwuchs an Fortbildungsmitteln wird nicht ausreichen.

Gleichzeitig haben der Referentenentwurf sowie der Entwurf einer Verordnung verdeutlicht, dass Rot-Grün offenkundig nicht nur willens ist, die Kompetenzzentren zeitnah abzuschaffen, sondern ebenfalls zeitnah eine massive Schließungswelle von Förderschulen erzwingen will. Die Erklärung, wonach Eltern zukünftig Förderschulen werden wählen können, wird für viele Förderschwerpunkte wohnortnah nicht mehr gelten. Bereits heute zeigen darüber hinaus Rückmeldungen aus Kommunen, dass die Schulverwaltung offenbar bereits auf Schließungen von Förderschulen hinwirkt. Wie gleichzeitig die Schwerpunktschulen eine wachsende Zahl von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf unterrichten, erziehen und fördern sollen, ist ebenfalls nicht hinreichend geklärt. Welche Strukturen bei einem grundsätzlichen Rechtsanspruch vor Ort verbindlich vorhanden zu sein haben, welche zumutbaren Entfernungen gelten, wie ein vertretbarer Aufwand definiert wird und welche personellen und sächlichen Voraussetzungen verbindlich sein sollen, ist für Eltern, Schulen und Kommunen von entscheidender Bedeutung.

Offenkundig kann allein die Verschiebung der Einführung eines grundsätzlichen Rechtsanspruches die Vielzahl ungeklärter qualitativer und organisatorischer Fragen nicht beheben.

Daher muss die Ministerin Auskunft erteilen, wie sie die vielfältigen genannten Problemfelder im weiteren Vorgehen klären bzw. beheben will.

Wie will die Schulministerin die vielfältigen ungeklärten Aspekte einer qualitativen Umsetzung der Inklusion im weiteren Vorgehen ausgestalten?

Ich bitte Frau Ministerin um Beantwortung.

Sylvia Löhrmann, Ministerin für Schule und Weiterbildung: Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Gebauer, auch Ihnen danke ich für Ihre Frage, obwohl man jetzt schon feststellen kann: „Alle guten Dinge sind drei“; denn nicht nur die Überschriften weisen ähnliche Szenarien auf, sondern das betrifft auch den Inhalt. Aber ich erläutere Ihnen gerne zum dritten Mal den Weg zur inklusiven Schule, den wir in Nordrhein-West­falen gehen wollen.

Die Landesregierung wird, wie heute Morgen dargelegt und eben noch einmal bekräftigt, ihren Gesetzentwurf jetzt regierungsintern abstimmen – die sogenannte Ressortabstimmung. Dieser Prozess ist eingeleitet. Die Regierung wird dann ihre Meinungsbildung abschließen, einen Kabinettsbeschluss fassen und diesen dem Landtag übermitteln. Er wird alle Aspekte berücksichtigen, die in der Mündlichen Anfrage angesprochen sind, sie noch mal abwägen – natürlich auch zur Finanzierung und zu den Auswirkungen auf die kommunalen Haushalte.

Nach der Verabschiedung des Gesetzes durch den Landtag werden wir es zügig umsetzen – ich selbst, soweit mein Haus dafür zuständig ist. Es müssen die heutige Ausbildungsordnung für die sonderpädagogische Förderung überarbeitet und ein neues System der Stellenzuweisung etabliert werden. Daran wird der Landtag im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben natürlich immer beteiligt.

Ich möchte Ihre Anfrage zum Anlass nehmen, heute noch mal zu betonen, dass die Verabschiedung des Gesetzes überhaupt nicht die Geburtsstunde der Inklusion in Nordrhein-Westfalen ist. Wir sind schon ein großes Stück auf dem Weg zur inklusiven Schule gegangen. Die aktuellen Zahlen habe ich gestern vorgestellt, und sie sind auch in der Debatte heute Vormittag angesprochen worden. An dieser Stelle möchte ich daher nur noch mal sechs Maßnahmen der Landesregierung aus den letzten Wochen betonen:

Erstens. Wir haben einen Inklusionsfonds eingerichtet. 53 Stellen entfallen auf die Inklusionskoordination, jeweils eine Stelle pro Schulamt. Das war von der Landesregierung ausdrücklich so gedacht, und das funktioniert auch. Das wird jetzt, weil die Stellen noch nicht so lange da sind, an der Schnittstelle der staatlich-kommunalen Verantwortungsgemeinschaft weiter wachsen, damit die Kommunen bei der Erarbeitung ihrer Inklusionspläne unterstützt werden.

Zweitens. Wir intensivieren die Fortbildung für die Kompetenzteams durch die Universitäten Köln und Oldenburg, wo Moderatorinnen und Moderatoren ausgebildet und qualifiziert werden, damit sie den Schulen für die Fortbildung zur Verfügung stehen.

Drittens. Wir haben eine Qualifizierungsmaßnahme zur Erweiterung des Lehramts für die sonderpädagogische Förderung im Rahmen des 8. Schulrechts­änderungsgesetzes geschaffen. Unsere Adressaten sind bereits ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer – insgesamt 2.500 –, die sich mit dieser Maßnahme weiterqualifizieren können und dann die Befähigung für das Lehramt für Sonderpädagogik zusätzlich berufsbegleitend erwerben, um einen Mangel auszugleichen, nämlich den Mangel an Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen.

Dieser Mangel – das will ich noch mal ausdrücklich sagen – ist nicht durch die Inklusion entstanden, sondern besteht grundsätzlich, weil es auch an den Förderschulen einen Bedarf an Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen gibt. Das will ich ausdrücklich sagen: Meines Wissens hat kein Bundesland eine vergleichbare Maßnahme ergriffen wie wir hier in Nordrhein-Westfalen.

Viertens. Wir haben zusätzliche Haushaltsmittel in den Haushaltsentwurf 2013 eingestellt, um die vorhandenen Studienkapazitäten für das sonderpädagogische Lehramt auszuweiten. Ziel ist der Ausbau von 500 zusätzlichen Studienplätzen. Diese Haushaltsmittel sind im Etat der Kollegin Schulze etatisiert. Für dieses Jahr sind das 4,6 Millionen €. Und auch das ist eine nennenswerte Hausnummer, weil wir – ich glaube, die Kollegin Hendricks hat es heute Morgen ausgeführt – aufgrund der Gesetzgebung der Vorgängerregierung keine Möglichkeit des unmittelbaren Zugriffs auf die Universitäten haben, also nicht sagen können: „Ihr bildet jetzt, bitte schön, mehr Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen aus“; denn die Universitäten würden uns dann sagen: Wenn wir das tun sollen, dürfen wir für andere Lehrämter nicht mehr ausbilden. – Das wollen wir natürlich nicht. Insofern müssen wir hier zusätzliches Geld in die Hand nehmen.

Fünftens. Wir haben die Stellen für integrative Lerngruppen von 2011 bis 2012 ausgebaut. Auch im Haushaltsentwurf 2013 ist ein Stellenausbau vorgesehen. Wir haben die Zahl der Stellen für integrative Lerngruppen bereits im ersten Regierungsjahr mehr als verdoppelt. Es ist ein deutliches Signal, dass die Landesregierung in ihrer Verantwortung für das gemeinsame Lernen hier einen Investitionsschwerpunkt setzt.

Sechstens. Die Mindestgrößen von Förderschulen werden nach § 82 Abs. 10 Schulgesetz vom Ministerium durch Rechtsverordnung geregelt. Diesem Auftrag werde ich im Interesse des geordneten Schulbetriebs mit einer Neufassung nachkommen. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Frau Ministerin. – Frau Abgeordnete Gebauer stellt die erste Frage.

Yvonne Gebauer (FDP): Herzlichen Dank, Frau Ministerin Löhrmann, für Ihre Ausführungen. Frau Ministerin, Ihre Planungen sehen vor, dass Schwerpunktschulen neben den Schwerpunkten Lernen, Sprachen sowie emotionale und soziale Entwicklung mindestens einen weiteren Förderschwerpunkt umfassen. Sonderpädagogen – das wissen Sie – haben unterschiedliche fachliche Schwerpunkte.

Meine Frage ist: Wie wird zum Beispiel für ein Kind im Bereich Hören die bestmögliche Förderung gewährleistet, wenn unter den Sonderpädagogen der Schule keine Lehrkraft mit den entsprechenden fachspezifischen Kenntnissen vorhanden ist?

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Frau Ministerin, bitte schön.

Sylvia Löhrmann, Ministerin für Schule und Weiterbildung: Sehr geehrte Frau Kollegin Gebauer, ich empfehle auch in diesem Fall, sich die gelebte Praxis inklusiv arbeitender Schulen in Nordrhein-Westfalen anzuschauen.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank. – Es gibt eine Frage des Herrn Abgeordneten Witzel. Bitte schön.

Ralf Witzel (FDP): Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Ministerin, ich möchte Ihnen gern eine Nachfrage zu unseren – in den letzten Wochen offensichtlich unterschiedlichen – Auffassungen zu dem Thema „Konnexität“ stellen.

Sie haben ja immer – auch hier im Parlament – erklärt, dass aus Ihrer fachlichen Sicht die Umsetzung der Inklusion nicht konnexitätsrelevant ist. In diesem Sinne ist auch Ihr Gesetzesvorhaben angekündigt. Nach meinem Kenntnisstand ist der Referentenentwurf in Ihrem Haus verfasst worden. Deshalb meine Frage an Sie: War das das Ergebnis einer ergebnisoffenen rechtlichen Prüfung oder hat es vonseiten der Hausleitung an die Verfasser die Aufforderung gegeben, einen Referentenentwurf so zu verfassen, der aus Ihrer Sicht nicht konnexitätsrelevant ist?

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Bitte schön, Frau Ministerin.

Sylvia Löhrmann, Ministerin für Schule und Weiterbildung: Sehr geehrter Herr Witzel, die Landesregierung agiert einheitlich, und der Referentenentwurf ist von der Landesregierung insgesamt im Kabinett beschlossen worden und in die Verbändeanhörung gegangen. Ihre Unterstellung, wir hätten dort in irgendeiner Weise eine politisch motivierte Setzung vorgenommen, trifft nicht zu. Wir haben vielmehr sachlich und rechtlich das abgewogen, was uns bekannt ist. Ich habe eben zu der ersten Frage von Frau Kollegin Pieper die Sachverhalte benannt.

Wir haben uns als Regierung auch bundesweit umgeschaut. Im Bayerischen Landtag ist ja auch schon ein Gesetz zur Umsetzung der UN-Behinderten­rechts­konvention beschlossen worden. Dort regiert, wie Sie wissen, eine Koalition aus CSU und FDP. Da Bayern auch ein Flächenland ist, ist eine gewisse Vergleichbarkeit gegeben. Die dortige Landesregierung ist zu dem Ergebnis gekommen, dass es keine Konnexitätsrelevanz gibt. Das hat uns darin bekräftigt, dass wir damit möglicherweise nicht falsch liegen. Gleichwohl will ich auch hier noch einmal ausdrücklich betonen, dass die Landesregierung diese sensible Frage noch einmal intensiv prüfen wird, bevor das Kabinett den Gesetzentwurf beschließt und dem Landtag zuleitet.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Danke schön, Frau Ministerin. – Nun hat das Wort Frau Abgeordnete Schmitz von der FDP-Fraktion.

Ingola Schmitz (FDP): Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrte Frau Ministerin, meine Frage bezieht sich auf ein interessantes Interview, das Sie vor wenigen Tagen der „Westdeutschen Zeitung“ gegeben haben. Danach haben Sie gesagt, dass Sie eine Arbeitsgruppe zur Kosten-Nutzen-Analyse hätten bilden wollen. Ihr Ausdruck „Nutzen“ im Zusammenhang mit der sonderpädagogischen Förderung überrascht. Können Sie bitte einmal definieren, wann aus Ihrer Sicht ein Nutzen bei einer sonderpädagogischen Förderung nicht mehr gegeben ist?

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Bitte schön, Frau Ministerin.

Sylvia Löhrmann, Ministerin für Schule und Weiterbildung: Sehr geehrte Frau Schmitz, diese Frage könnte fast von mir bestellt sein. Denn die Frage, die sich stellt – und die müssen wir uns bei der Konnexitätsfrage vornehmen –, lautet ja: Entsteht – und nur darum geht es – durch die Schulgesetzgebung, durch die Gesetzgebung des Landes, eine neue Aufgabe,

(Ralf Witzel [FDP]: Das ist die Frage!)

oder wird eine bestehende Aufgabe so wesentlich erweitert,

(Ralf Witzel [FDP]: Genau!)

dass das Land gegenüber den Kommunen ausgleichspflichtig wird?

(Ralf Witzel [FDP]: Das ist die Frage!)

– Das ist die Frage, genau, da sind wir uns schon mal einig. Das ist ja wunderbar. – Dann ist es legitim, wenn sich der Gesetzgeber und die Regierung fragen, wo möglicherweise Mehrkosten oder wo möglicherweise Entlastungssituationen entstehen; denn nur aus der Summe dieses Ganzen entstünde der Mehrbedarf, der ausgleichspflichtig wäre.

(Ralf Witzel [FDP]: Auch richtig!)

– Auch richtig! Ich bin entzückt, dass wir beide das noch erleben, Herr Witzel. Ich bin gespannt, wann wir die Kurve kriegen – Sie oder ich.

(Heiterkeit)

Wir wissen ja, dass aufgrund des zurückgehenden Bedarfs an Förderschulen weniger Schulgebäude an dieser Stelle gebraucht werden und dass dafür mehr Kinder in allgemeinen Schulen sind. Da wir aber aufgrund der Demografie auch in den allgemeinen Schulen zurückgehende Schülerzahlen haben, können wir davon ausgehen, dass die Kommunen landesweit hinreichend Gebäude haben, die sie nutzen können. Dann entsteht – möglicherweise – Gebäudesubstanz, die die Kommune anderweitig nutzen kann. Sie hat da also einen Nutzen. Und der wäre zu verrechnen.

Da das alles nicht nur graue Theorie ist, wie Geheimrat Goethe gesagt hat, sondern ganz praktisch, nenne ich ein Beispiel aus dem Rhein-Kreis Neuss. Dort werden Förderschulen zusammengelegt und Trägerschaften geändert. Dadurch könnten die freiwerdenden Schulgebäude anderweitig genutzt und zum Beispiel in einem dieser Gebäude eine Kita eingerichtet werden. Das hat die Gemeinde 1 Million € gekostet. Diese Kita neu zu bauen hätte die Gemeinde 2 Millionen € gekostet. Das ist belegt, dieses Beispiel kennen wir. Aufgrund dessen sehen wir, dass an bestimmten Stellen Nutzen für die Kommune entsteht. Das hat in keiner Weise etwas mit der Bewertung des gemeinsamen Lernens von Kindern und Jugendlichen mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf zu tun.

Die Aussage, die Anforderung, die Beschreibung, es handele sich um eine neue Aufgabe, ist aus meiner Sicht dadurch widerlegt, dass wir seit 30 Jahren gemeinsames Lernen von Kindern und Jugendlichen mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf in Schulen unseres Landes haben. Wir haben heute Mittag in der Diskussion festgestellt, dass die Geburtsstunde an einer Schule in Bonn war und wir preisgekrönte Schulen in Bonn und anderswo in unserem Land haben. Man kann also mitnichten von einer neuen Aufgabe sprechen.

Man kann auch an den Inklusionsquoten in Nordrhein-Westfalen landauf, landab feststellen, dass viele Städte und Gemeinden inklusives Lernen schon heute praktizieren. Das reicht von der kreisfreien Stadt Gelsenkirchen mit einer Inklusionsquote von 8,2 % bis hin zur kreisfreien Stadt Bonn mit einer Inklusionsquote von 37,4 %. Insofern kann man schlechterdings von einem neuen Weg sprechen und davon, was neu gemacht werden müsste. Der Kreis Höxter hat eine Inklusionsquote von 16,2 % und der Kreis Unna – der ist landesweit Spitzenreiter – hat eine Inklusionsquote von 37,6 %. Das zeigt: Die Kommunen und die Schulen haben sich dieser Aufgabe ja schon bisher lange gestellt.

Eines ist noch interessant. Das will ich bei der Gelegenheit auch sagen. Sie kennen ja diese wunderbare Karte.

(Ministerin Sylvia Löhrmann zeigt die Karte.)

Das sind die neuen Schulen, die in Nordrhein-Westfalen aufgrund des Schulkonsenses entstanden sind. 28 von 42 dieser Sekundarschulen, also zwei Drittel, haben in den Anträgen, die der Schulträger mit dem Wunsch der Genehmigung einer Schule an das Land richtet, eine integrative Lerngruppe mit beantragt. 16 von 20 neuen Gesamtschulen – das sind sogar vier Fünftel – haben Anträge gestellt mit integrativen Lerngruppen.

Das heißt, hier kann man schlechterdings von neuen Aufgaben sprechen, die das Land den Kommunen sozusagen zwangsweise vorgibt, sondern hier ist die Inklusion auf einem intensiven Weg.

Ich bin Ihnen wirklich ausdrücklich dankbar, Frau Schmitz, für diese Frage, wodurch ich das dem Parlament so ausführlich darlegen konnte.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Frau Ministerin. – Es gibt eine Frage der Frau Abgeordneten Pieper von der Fraktion der Piraten.

Monika Pieper (PIRATEN): Sehr geehrte Frau Ministerin, gestern war aus der Presse zu erfahren, dass der Rechtsanspruch auf einen Platz unter bestimmten Bedingungen in einzelnen Kommunen eventuell ausgesetzt würde. Ich hätte gerne die Kriterien gewusst, nach denen so etwas vorkommen kann.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Bitte schön, Frau Ministerin.

Sylvia Löhrmann, Ministerin für Schule und Weiterbildung: Sehr geehrte Frau Pieper, das ist ein sogenannter Vorbehalt – ich habe das ja heute in der Plenardebatte auch schon zitiert –, der meines Wissens in allen Schulgesetzen des Landes Nordrhein-Westfalen enthalten war, auch in dem Schulgesetz von 2006, worin ebenfalls der Elternwunsch auf gemeinsames Lernen betont worden ist, es aber gleichwohl einen Vorbehalt gibt: Sächliche und personelle Voraussetzungen müssen gegeben sein.

Das Personelle, was die Lehrerstellen angeht, ist in der Verantwortung des Landes. Die sächlichen Voraussetzungen liegen nach jetziger Aufteilung, an der die Landesregierung nichts ändern möchte, bei der Kommune. Es ist aber beweispflichtig vonseiten der Kommune oder der Schulaufsicht, wenn sie dem Anspruch, dem Elternwunsch, nicht entsprechen will. Es muss ganz stark begründet werden. Das ist ja schon jetzt durch den Erlass eingetreten.

Jetzt konstruiere ich einmal ein Beispiel. Angenommen, ein Kind, das im Rollstuhl sitzt, möchte ein Gymnasium als allgemeine Schule besuchen, und das Gymnasium hat noch keine Mobilitätshemmnisse ausgeräumt. Dann müsste die Schulaufsicht versuchen, möglicherweise ein anderes Gymnasium zu finden, das wohnortnah ist und diese sächlichen Voraussetzungen erfüllt.

Um hier die Wünsche und dann das Recht der Eltern und die Rahmenbedingungen der Kommune möglichst in Einklang zu bringen, gibt es diesen sogenannten Haushalts- oder Realisierungsvorbehalt, der aber im Gesetzgebungsverfahren nichts Ungewöhnliches ist, sondern der in der Regel so vorgenommen wird, um einen Schutz zu schaffen für das Land oder aber für die betroffene Kommune. Aber das dürfte ein absoluter Ausnahmefall sein.

Deswegen haben wir unser Gesetz ja „Erstes Gesetz zur Umsetzung der UN-Behindertenrechts­konvention“ genannt, weil wir wissen: Wir müssen einen Prozess gestalten. Wir können nicht alles von heute auf morgen machen. Deswegen gibt es hier keinen absoluten Rechtsanspruch.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Frau Ministerin. – Nun hat sich Frau Kollegin Schneider von der FDP-Fraktion gemeldet.

Susanne Schneider (FDP): Herr Präsident, vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Ministerin, uns erreichen Rückmeldungen, dass in einigen Bezirksregierungen Förderschulen, die jahrelang mit Ausnahmegenehmigungen gelaufen sind, plötzlich eine zeitnahe Schließung angekündigt wird. Halten Sie das für richtig?

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Bitte schön, Frau Ministerin, zur Beantwortung.

Sylvia Löhrmann, Ministerin für Schule und Weiterbildung: Sehr geehrte Frau Kollegin, ich halte es für richtig, dass sich die Landesregierung an Recht und Gesetz hält.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Danke schön. – Nun hat sich Frau Kollegin Freimuth gemeldet.

Angela Freimuth (FDP): Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Ministerin, Sie haben vorhin zum Thema „Konnexität“ einige Bemerkungen gemacht, die ich jetzt einfach einmal so stehen lasse, weil Sie ja auch gesagt haben, Sie würden diese noch prüfen.

Ich habe aber dennoch eine Nachfrage zum Thema Konnexität. Sie haben jüngst in einem Interview mit der „Westdeutschen Zeitung“ erklärt, die Kommunen müssten erst einmal den Nachweis erbringen, dass tatsächlich Mehrkosten entstehen.

Hier habe ich eine Nachfrage zu Ihrem Verständnis von Art. 78 der Landesverfassung. Ich verzichte jetzt darauf, den zu zitieren. Da geht es um die Frage, wie Gemeinden und Gemeindeverbände Aufgaben übertragen bekommen. Soll ich den Text von Art. 78 Abs. 3 doch vorlesen? – Okay:

„Das Land kann die Gemeinden oder Gemeindeverbände durch Gesetz oder Rechtsverordnung zur Übernahme und Durchführung bestimmter öffentlicher Aufgaben verpflichten, wenn dabei gleichzeitig Bestimmungen über die Deckung der Kosten getroffen werden. Führt die Übertragung neuer oder die Veränderung bestehender und übertragbarer Aufgaben zu einer wesentlichen Belastung der davon betroffenen Gemeinden oder Gemeindeverbände, ist dafür durch Gesetz oder Rechtsverordnung aufgrund einer Kostenfolgeabschätzung ein entsprechender finanzieller Ausgleich für die entstehenden notwendigen, durchschnittlichen Aufwendungen zu schaffen.“

Meine Frage zielt jetzt darauf: Inwieweit interpretieren Sie aus diesen Vorgaben der Verfassung, dass die kommunalen Spitzenverbände Ihnen zunächst beweisen müssen, dass tatsächliche Mehrkosten entstehen, bevor Sie Ihrerseits als Landesregierung eine Kostenfolgeabschätzung machen müssen?

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Bitte schön, Frau Ministerin.

Sylvia Löhrmann, Ministerin für Schule und Weiterbildung: Sehr geehrte Frau Kollegin Freimuth, Sie fallen jetzt etwas hinter den eben gefundenen Konsens mit Herrn Witzel zurück. Das ist natürlich tragisch. Aber ich habe ja eben genau das, was Sie jetzt noch einmal ausführlich zitiert haben, sinngemäß benannt. Da die Landesregierung der Auffassung ist, dass diese Folgekosten für die Kommunen weder aufgrund einer neuen Aufgabe – Stichwort: 30-jährige Tradition des gemeinsamen Lernens – noch durch eine Ausweitung entstehen, müssen wir natürlich keine detaillierte Kostenfolgeabschätzung vornehmen.

Die Gespräche, die wir gleichwohl mit den Kommunen geführt haben, sollten ja dazu dienen, dass wir einmal eine Annäherung und eine Angleichung vornehmen können. Aber diesen Beweis sind leider die Kommunen schuldig geblieben. Sie haben sich zu unserem großen Bedauern dann ja auch einer Arbeitsgruppe entzogen, um das vielleicht genauer herauszufinden.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Zu einer zweiten Frage hat sich der Abgeordnete Witzel gemeldet.

Ralf Witzel (FDP): Vielen Dank, Herr Präsident. Ich habe in der Tat noch eine letzte Frage in dieser Fragestunde. – Frau Ministerin Löhrmann, Sie haben in der Vergangenheit im Prozess der Inklusion immer mit Ihrem Begriff des dialogischen Vorgehens mit unterschiedlichen Akteuren geworben. Das gilt ja nicht nur für die gerade angesprochenen Fragen der Kommunen, mit denen Sachverhalte zu klären sind, sondern Sie haben das in Ihren Äußerungen auch immer auf den Sachverstand und die Fachverbände bezogen.

Wenn wir mit Fachverbänden sprechen, dann legen uns diese das anders dar. Sie sagen uns, dass sie zwar formal nach ihrer Meinung gefragt, ihre fachlichen Anregungen von Ihnen aber nicht adäquat aufgenommen würden. Deshalb frage ich Sie: Mit welchen Verbänden haben Sie hier in welcher Weise in den letzten Wochen korrespondiert, und wie qualifizieren Sie die Art der wechselseitigen Zusammenarbeit?

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Bitte schön, Frau Ministerin.

Sylvia Löhrmann, Ministerin für Schule und Weiterbildung: Sehr geehrter Herr Witzel, diesbezüglich fühle ich mich nun wirklich auf der sicheren Seite, dass wir über das notwendige vorgegebene Maß hinaus intensivste Gespräche mit den unterschiedlichsten Akteuren geführt haben.

Ich nenne zunächst den Gesprächskreis „Inklusion“, den ich von der Kollegin Sommer übernommen und fortgeführt habe. Allerdings trug dieser damals den Titel – deshalb habe ich mich so über die Presseerklärung von Herrn Kaiser gewundert – „Gesprächskreis zur Weiterentwicklung der sonderpädagogischen Förderung“. Wir haben daraus den „Gesprächskreis zur Umsetzung der Inklusion in Nordrhein-Westfalen“ gemacht. Wir haben diesem Gesprächskreis also eine neue Wendung gegeben.

In diesem Gesprächskreis, der seitdem drei- oder sogar viermal mit großer Teilnehmerzahl getagt hat und zu dem jeweils auch die bildungspolitischen Sprecherinnen und Sprecher der Fraktionen eingeladen worden sind, ist mehrfach ausführlichst diskutiert worden. Dabei handelt es sich um eine Gruppe von annähernd 100 Personen, die sich dort austauschen, und dies ist natürlich kein Kreis, in dem gesagt wird: Das übernehmen wir, und das übernehmen wir nicht. – Vielmehr ist es so, dass die Landesregierung anschließend den Meinungsbildungsprozess fortführen muss.

Ich persönlich habe mit den kommunalen Spitzenverbänden mehrfach gesprochen. Ich habe mit den Behindertenverbänden mehrfach gesprochen. Ich habe mit den Eltern- und den Lehrerverbänden persönlich darüber gesprochen. Ich habe mit den Hauptpersonalräten darüber gesprochen. Die Projektgruppe Inklusion, die dieses Vorhaben zusammen mit der Abteilung 2, also der Rechtsabteilung meines Hauses, in meinem Haus federführend begleitet, hat meines Wissens noch viel intensivere Gespräche mit allen Fachverbänden darüber geführt.

Das Besondere an diesem Gesetzgebungsverfahren ist, dass unterschiedliche Interessenverbände unterschiedliche Dinge von uns fordern. Deswegen ist es so schwierig, ein Gesetz zu machen – das haben wir aber vor, und wir sind uns auch sicher, dass wir das hinbekommen –, das größtmögliche Unterstützung aus diesen Verbänden erfährt. Vielleicht wird es von keinem Verband zu 100 % unterstützt, aber sicherlich werden viele sagen: Aha, das ist richtig angelegt. Es berücksichtigt die Interessen der Behinderten und die Interessen der Eltern von Kindern mit Handicap, berücksichtigt aber auch die mögliche Schwierigkeit der Kommunen, das alles direkt umzusetzen mit diesem Finanzierungsvorbehalt, der ja auch kritisiert werden kann; es investiert an verschiedenen Stellen sehr deutlich, qualifiziert das Personal, bildet Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen aus – bezogen also auf alle Module, die zu diesem anspruchsvollen, aber sehr lohnenswerten Gesetzesvorhaben gehören.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Danke schön. – Zu einer Frage hat sich Frau Abgeordnete Gebauer gemeldet.

Yvonne Gebauer (FDP): Frau Ministerin, Sie haben laut Pressemeldung bei der öffentlichen Präsentation des Referentenentwurfs erklärt, dass 70 % der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Bereichen Lernen, Sprache, soziale und emotionale Entwicklung gefördert werden und dass aus Ihrer Sicht in diesen Bereichen keine zusätzlichen Kosten für die Kommunen entstehen würden. Sie haben darüber hinaus erklärt, dass bei den übrigen 30 % die Investitionen nicht immer zwingend notwendig seien. Würden Sie in diesem Zusammenhang bitte erläutern, wie Sie zu diesen 30 % kommen?

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Bitte schön, Frau Ministerin.

Sylvia Löhrmann, Ministerin für Schule und Weiterbildung: Frau Kollegin Gebauer, der entscheidende Punkt ist, dass wir bei den Förderschwerpunkten geistige Behinderung, motorische Einschränkung und Sinnesstörungen und  ?beein­träch­tigungen weiterhin vorsehen, dass der sonderpädagogische Förderbedarf wie bisher für das einzelne Kind individualisiert dazukommt. In diesem Bereich erfolgt keine Veränderung.

Der entscheidende Punkt ist doch, dass dieses zusätzliche Budget für die Kinder unabhängig davon entsteht, ob sie in der Förderschule lernen oder ob sie in der allgemeinen Schule lernen. Insofern ist es aus meiner Sicht doch nachvollziehbar, dass es nicht mehr wird. Schließlich sind die Kinder nur einmal da. Entweder sind sie in der allgemeinen Schule, oder sie sind in der Förderschule. Der Anspruch auf Förderung steht ihnen individuell zu, und dieser wird unabhängig vom Förderort erfüllt. Es gibt insofern eine Zusatzinvestition des Landes, weil wir sagen: Wenn die Kinder in der allgemeinen Schule sind, werden sie dort erstmals mitgezählt und fließen in den Grundstellenbedarf der Berechnung der Lehrerstellen ein, und allein das löst einen zusätzlichen Lehrerstellenbedarf aus, den wir in den Haushalten jeweils aus den demografischen Effekten decken wollen.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Danke. – Für eine zweite Frage hat sich Frau Kollegin Pieper von den Piraten gemeldet.

Monika Pieper (PIRATEN): Über den Gesprächskreis „Inklusion“ haben wir gerade schon geredet. Wie geht es jetzt weiter? Wird er unter der gleichen Zusammensetzung wie bisher fortgeführt? Und gibt es Pläne, wann es weitergeht?

Sylvia Löhrmann, Ministerin für Schule und Weiterbildung: Frau Kollegin Pieper, ja, der Gesprächskreis „Inklusion“ wird fortgeführt. Sie wissen, dass es auch den Aktionsplan „Eine Gesellschaft für alle – NRW inklusiv“ gibt, der federführend beim Kollegen Schneider angesiedelt ist. Auch dort findet ein breit angelegter Beteiligungsprozess statt, und es gibt sozusagen eine Fachgruppe – so möchte ich es jetzt salopp nennen – für den Bereich Schule. Wir haben als Regierung entschieden, dass der Gesprächskreis „Inklusion“ die Funktion übernimmt. Also, wir schaffen jetzt kein zusätzliches Gremium, sondern nutzen den Gesprächskreis „Inklusion“, um den Fortgang der Inklusion in der Schule regelmäßig zu erörtern.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Ihre zweite Frage stellt Frau Abgeordnete Freimuth.

Angela Freimuth (FDP): Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Ministerin, gestatten Sie mir noch eine Frage, die insbesondere aus der Perspektive der eher ländlichen Regionen des Landes Nordrhein-Westfalen zu beurteilen ist. Ihre Planungen sehen, wie ich habe lesen können, bezüglich der Zusammenlegung von Förderschulen sehr hohe Schülerzahlen vor, die in vielen Bereichen, insbesondere ländlichen Regionen, nur sehr schwer zu erreichen sein dürften. Da würde mich Ihre Motivationslage bzw. Sensibilität interessieren.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Frau Ministerin, bitte schön.

Sylvia Löhrmann, Ministerin für Schule und Weiterbildung: Frau Kollegin Freimuth, wie bei anderen Schulformen auch – bei der Grundschule, bei der Sekundarschule, bei den anderen weiterführenden Schulen – stellt sich auch bei den Förderschulen immer die Frage der Schulgröße insgesamt, um drei Zielrichtungen zu berücksichtigen. Erstens: Ist ein geordneter Schulbetrieb möglich? Zweitens: Was ist ein effizienter Schulbetrieb bezüglich der Verteilung und des Einsatzes der Lehrerinnen und Lehrer? Und drittens: Wie ist die Wohnortnähe für die Kinder, die eine Schule besuchen müssen?

Bisher haben wir gut daran getan, in Nordrhein-Westfalen neue Wege zu gehen, etwa mit der Ermöglichung von Teilstandorten, weil das dann aus Sicht des Landeshaushaltes effizienter wird. Auch bezüglich der Förderschulen werden wir uns dem Thema „Teilstandortlösungen“ nähern müssen.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Danke schön. – Herr Abgeordneter Bombis von der FDP-Fraktion hat das Wort.

Ralph Bombis (FDP): Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrte Frau Ministerin, Sie erklären ja immer wieder, dass sich der Erhalt von Förderschulen einerseits nach dem Elternwillen und andererseits nach dem Bedarf richten soll. Können Sie für mich bitte einmal präzisieren, wie Sie den Begriff „Bedarf“ definieren?

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Frau Ministerin, bitte schön.

Sylvia Löhrmann, Ministerin für Schule und Weiterbildung: Das kann ich sehr gerne tun, Herr Kollege. Der Bedarf wird durch die Regierung bzw. das Parlament festgesetzt. Dieser Bedarf wird dann überschritten oder unterschritten. Ich nenne ein Beispiel aus einem anderen Bereich: Wenn wir sagen, eine Sekundarschule muss mindestens dreizügig sein und mindestens 75 Kinder haben, dann wird eine Sekundarschule nicht genehmigt, wenn sie nur 73 Kinder hat, so bitter das für die einzelne Schule ist. Das heißt, es gibt eine Festsetzung, und diese Festsetzung ist der Maßstab für die Schulaufsicht, die das – das entscheide ja nicht ich, sondern das entscheidet zum Teil die Bezirksregierung – berücksichtigen muss.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Danke schön. – Nun hat das Wort der Abgeordnete Busen von der FDP-Fraktion.

Karlheinz Busen (FDP): Frau Ministerin, ich zitiere:

„Kinder und Jugendliche mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung können, wenn das Bildungsziel in anderer Weise nicht erreicht werden kann …, auf Vorschlag des Jugendamtes und mit Zustimmung der Eltern durch die Schulaufsichtsbehörde ihre Schulpflicht in Einrichtungen der Jugendhilfe erfüllen.“

Laut Aussage von Fachleuten ist bei der Abschaffung entsprechender Förderschulen nicht sichergestellt, dass adäquate Einrichtungen vorhanden sind. Wie wollen Sie diese Versorgung sicherstellen?

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Bitte schön.

Sylvia Löhrmann, Ministerin für Schule und Weiterbildung: Auch hier bitte ich um Verständnis, Herr Kollege, dass die Regierung in der jetzigen Ressortbeteiligung die Frage noch einmal erörtern wird. Anschließend wird sie ihre Entscheidung im Gesetzentwurf niederlegen und dem Landtag zuleiten.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Danke schön. – Zu einer zweiten Zusatzfrage hat sich Frau Abgeordnete Gebauer gemeldet. Bitte schön.

Yvonne Gebauer (FDP): Sehr geehrte Frau Ministerin, in Ihrem Referentenentwurf heißt es – ich zitiere –:

„Dieser Absatz erlaubt es den öffentlichen Schulträgern in einem Kreis (Gemeinden, Kreis), gemeinsam ein inklusives Schulangebot einzurichten, das auf Förderschulen mit den Förderschwerpunkten Lernen, Emotionale und soziale Entwicklung sowie Sprache insgesamt verzichtet.“

Weiter heißt es:

„In diesem Fall …

-    können Förderschulen auch dann geschlossen werden, wenn für sie noch ein Bedürfnis besteht …,

-    können die Eltern für ihr Kind keine Förderschule wählen …“

Die Definition für „Bedürfnis“ haben wir ja gerade gehört. Meine Frage: Wie kann man, wenn Eltern die wohnortnahe Wahlmöglichkeit dieser genannten Förderschulen versagt wird, in diesem Zusammenhang vom „Respektieren des Elternwillens“ sprechen?

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Frau Ministerin, bitte schön.

Sylvia Löhrmann, Ministerin für Schule und Weiterbildung: Frau Gebauer, Sie sprechen eine Ausnahmeklausel und Ermöglichungsklausel für Schulträger bei Entscheidungen an, die sie als Schulträger insgesamt in Kenntnis ihrer örtlichen kommunalen Situation treffen müssen. Diese Ausnahmegestaltungsklausel geht meiner Erinnerung nach ausdrücklich auf den Wunsch einer Kommune zurück, die ein Kompetenzzentrum hat, die in der Gestaltung der Inklusion in ihrem Gebiet schon besonders weit ist und sagt: Das, was die Regierung jetzt für ganz Nordrhein-Westfalen anlegt, ist uns zu zurückhaltend.

Ich hatte ja eben die unterschiedlichen Zahlen genannt. Die Inklusionsquoten reichen von 8,2 % bis 37,6 %. In einem Flächenland wie Nordrhein-Westfalen, in dem es ja auch in anderen Bereichen unterschiedliche Entwicklungsprozesse gibt, je nach örtlichem Bedarf, je nach Intensität, in der sich die Kommunen, die Eltern oder wer auch immer der Aufgabe angenommen haben, wäre es schlecht, einen Punkt zu definieren, bei dem alle an der gleichen Stelle sein müssen. Das würde den unterschiedlichen Entwicklungsprozessen in Nordrhein-Westfalen nicht gerecht werden.

Deswegen wollen wir einen Gesetzentwurf vorlegen, der Entwicklungsperspektiven vorsieht, der die Behindertenrechtskonvention umsetzt, also das Elternrecht stärkt, der aber gleichzeitig Kommunen, die weiter gehen wollen als andere, diese Möglichkeit einräumt. Das entspricht unserer Ermöglichungsphilosophie, der wir insgesamt in Nordrhein-Westfalen in der Schulgesetzgebung, seit SPD und Bündnis 90/Die Grünen regieren, Rechnung tragen und die sich vom Grundsatz her auch sehr bewährt hat.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Danke schön. – Nun hat sich der Abgeordnete Lohn gemeldet.

Dr. Gerd Hachen (CDU): Der Abgeordnete Hachen. – Vielen Dank, Herr Präsident.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Wir haben eine herzliche Bitte. Wenn Sie sich eindrücken, leuchten bei uns die Namen von Abgeordneten auf. Wir bekommen hier nicht immer mit, wer gerade die Hand hebt. Bitte setzen Sie sich gerade bei der Fragestunde auf Ihren Platz, weil das dann für das Präsidium einfacher ist. Danke schön.

Dr. Gerd Hachen (CDU): Ich bitte um Nachsicht und weiß den Langmut zu schätzen.

Frau Ministerin, Sie haben eben eine Bemerkung zu integrativen Lerngruppen gemacht. Da wollte ich noch einmal nachfragen. Sie haben dargestellt, wie außerordentlich positiv sich die integrativen Lerngruppen insbesondere bei neuen Schulformen entwickeln. Diese Entwicklung ist also höchst erfreulich. Deswegen verstehe ich nicht ganz – da würde ich gerne nachfragen –, warum Sie laut dem Referentenentwurf gerade die integrativen Lerngruppen auslaufend stellen wollen. Was sind die Beweggründe, die Sie dazu führen?

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank. – Frau Ministerin.

Sylvia Löhrmann, Ministerin für Schule und Weiterbildung: Sehr geehrter Herr Kollege, das ist eine sehr wichtige Frage, für die ich auch dankbar bin. So kann ich noch einmal deutlich machen, dass wir das gemeinsame Lernen im Moment nach zwei Prinzipien gestalten. Zum einen haben wir den gemeinsamen Unterricht in der Grundschule und zum anderen die integrative Lerngruppe in den weiterführenden Schulen. Bisher haben wir für die integrative Lerngruppe nur das Finanzierungskonzept, das Zusatzbudget individualisiert am Schüler bzw. an der Schülerin festzumachen.

Die Zuweisung von Lehrerstellen geht jetzt aber insgesamt weit darüber hinaus. Insofern haben wir im Schulkonsens mit unseren Maßnahmen verabredet, dass insgesamt Klassengruppen aufwachsend kleiner werden – angefangen bei der Grundschule; danach soll das in den weiterführenden Schulen erfolgen. Wir haben jetzt auch eine Steuerungsmöglichkeit für die Schulträger vorgesehen, dass die Klassen dort etwas verkleinert werden, wenn neue Inklusionsgruppen gebildet werden.

Darüber hinaus gibt es bei den Förderschwerpunkten geistige Entwicklung, motorische Entwicklung und Sinnesbeeinträchtigungen weiterhin das Budget, das wie bisher am einzelnen Kind festgemacht ist.

Für die Förderschwerpunkte Lernen, Sprache sowie Emotionale und soziale Entwicklung soll es ein Budget geben. Das gilt es noch auszugestalten. Wir möchten nämlich davon wegkommen, zu etikettieren, weil wir bei diesen Schülerinnen und Schülern, die die größte Gruppe bilden, erreichen wollen, dass man das nicht mehr stigmatisierend vornimmt.

Aus dieser Gesamtschau aller Maßnahmen entsteht eine neue Steuerung der Ressource. Man kann das dann nicht mehr mit den bisherigen integrativen Lerngruppen vergleichen. Es entsteht eine Mischkalkulation. Das ist schwierig; das räume ich ein. Es wird auch schwierig sein, das noch genau auszutüfteln. Wir haben aber gezeigt – etwa bei der kommunalen Klassenrichtzahl in den Grundschulen –, dass es sich lohnt, neue Wege zu gehen, weil sich auch für die Kommunen neue Steuerungsmöglichkeiten ergeben.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Danke schön. – Zu seiner zweiten Frage hat sich der Herr Kollege Bombis gemeldet.

Ralph Bombis (FDP): Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrte Frau Ministerin, ein besonderes Merkmal der sogenannten Unterstützungszentren, die meist aus der Auflösung einer Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung hervorgehen sollen, soll sein, dass die Schüler dort nur vorübergehend unterrichtet werden. Da es sich bei diesen Schülern leider um recht schwierige Kinder und Jugendliche handelt, frage ich Sie: Was passiert denn Ihrer Auffassung nach, wenn sich ein vorübergehender Unterricht dort als nicht ausreichend erweist, es aufgrund der Situation dann aber keine wohnortnahe Förderschule mit diesem Förderschwerpunkt mehr gibt?

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Bitte schön, Frau Ministerin.

Sylvia Löhrmann, Ministerin für Schule und Weiterbildung: Sehr geehrter Herr Kollege, zu genau dieser Fragestellung haben wir viele Rückmeldungen bekommen. Das ist einer der Punkte, die wir aus dem Gutachten von Prof. Klemm und Prof. Preuss-Lausitz aufgegriffen haben. Im Lichte der Zuschriften dazu wird die Landesregierung noch einmal prüfen, was sie dem Parlament hinterher im Gesetzentwurf vorschlägt, den sie dem Landtag dann zuleitet.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Danke schön. – Frau Kollegin Schmitz von der FDP-Fraktion.

Ingola Schmitz (FDP): Vielen Dank, Herr Präsident. – In Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit möchte ich von meiner Frage absehen.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Danke schön. – Dann gibt es noch eine Frage des Herrn Kollegen Busen von der FDP-Fraktion.

Karlheinz Busen (FDP): Ich habe noch eine Nachfrage, Frau Ministerin. Die letzte Frage konnten Sie ja nicht richtig beantworten. Sie planen aber immer und versuchen, etwas zu machen. Können Sie mir vielleicht einmal sagen, wie viele Sonderpädagogen in Nordrhein-Westfalen in den nächsten drei bis fünf Jahren in Pension bzw. in Rente gehen?

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Bitte schön, Frau Ministerin.

Sylvia Löhrmann, Ministerin für Schule und Weiterbildung: Nein, das kann ich Ihnen jetzt nicht sagen. Aus meiner Sicht ist das auch durch die Fragestellung nicht gedeckt.

(Karlheinz Busen [FDP]: Das sollte man schon wissen, wenn man plant!)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Frau Ministerin. – Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Damit sind wir am Ende der heutigen Fragestunde.

Als nächsten Tagesordnungspunkt rufe ich auf:

9   Patenschaft mit Leben füllen – „Freundeskreis Fregatte Nordrhein-Westfalen“

Antrag
der Fraktion der CDU
Drucksache 16/1906

Ich eröffne die Beratung und erteile für die antragstellende Fraktion dem Herrn Abgeordneten Golland das Wort.

Gregor Golland (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Patenschaften für Schiffe und Boote der Marine haben auch in Nordrhein-Westfalen eine lange Tradition. So gab es zum Beispiel bis 1982 die Fregatte „Köln“, die mit der Typbezeichnung F120 als sogenannte Köln-Klasse eine ganze Reihe bauähnlicher Schiffe anführte.

Heute, 30 Jahre später, sprechen wir über die neue Fregattenklasse F125, zu deren Hauptaufgaben die Seeraumüberwachung, die Unterstützung des Einsatzes von Spezialkräften von See her sowie der Beschuss von Landzielen als taktische Feuerunterstützung gehören. Sie zeichnet sich durch die Fähigkeit der vernetzten Operationsführung mit Land- und Luftstreitkräften und eine besonders lang andauernde Verfügbarkeit im Einsatzgebiet aus. Damit dient sie wesentlich der Bündnisverteidigung und Krisenprävention. Darüber hinaus ist sie für humanitäre Rettungsmissionen, Terrorismusbekämpfung und die Abwehr von Piraten geeignet – wobei es sich um echte Piraten handelt.

(Zurufe von den PIRATEN: Hey!)

Der Bundesminister der Verteidigung hat nun kürzlich über den Namen der vierten Fregatte der Klasse F125 entschieden. Sie wird den Namen des Bundeslandes Rheinland-Pfalz tragen.

(Minister Guntram Schneider: Unerhört!)

Nach der Fregatte „Baden-Württemberg“, die zugleich das Typschiff dieser neuen Klasse ist, sowie der „Nordrhein-Westfalen“ und der „Sachsen-Anhalt“ wird damit auch das vierte Schiff den Namen eines Bundeslandes tragen. „Es ist schön, dass die Flagge“ eines Bundeslandes, „des Bundeslandes Rheinland-Pfalz, auch weiterhin nicht nur in Mainz, sondern in der ganzen Welt weht.“ – So zitiere ich den Inspekteur der Marine, Vizeadmiral Axel Schimpf.

(Zuruf von der CDU: Bravo!)

Bereits seit vielen Jahren gibt es gute und enge Beziehungen zwischen dem Bundesland Rheinland-Pfalz und der Besatzung des Schiffes. Das Bundesland Rheinland-Pfalz hatte sich für die Übernahme und Fortführung einer Patenschaft eingesetzt, nachdem Ende November die Außerdienststellung der gleichnamigen Fregatte der Klasse F 122 entschieden worden war. Der damalige SPD-Ministerpräsident Kurt Beck äußerte seine Freude über die Entscheidung wie folgt – ich zitiere –:

„Über die Tatsache, dass erneut eine Fregatte der Deutschen Marine den Namen Rheinland-Pfalz erhält und in die Welt trägt, freue ich mich sehr. Das Land Rheinland-Pfalz pflegt eine enge und lebendige Patenschaft mit der Besatzung der Fregatte. Ihr Beitrag für Frieden und Sicherheit wird von der Landesregierung und den Menschen in Rheinland-Pfalz in höchstem Maße anerkannt.“

Wir in Nordrhein-Westfalen sollten uns ein Beispiel daran nehmen, meine Damen und Herren. Diesen Satz würde ich auch gerne von der Ministerpräsidentin unseres Bundeslandes hören.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Wie die „Rheinische Post“ am 10.11.2012 berichtete, war bei der Kiellegung der Fregatte „Nordrhein-Westfalen“

(Vorsitz: Vizepräsident Oliver Keymis)

trotz Einladung kein Regierungsvertreter anwesend. Immerhin scheint die Landesregierung erfreut darüber, dass die Fregatte unseren Landesnamen tragen soll. Daher habe man gerne zugesagt, als dem Land die Patenschaft angetragen worden sei. Und: Die Landesregierung wolle sich zumindest nicht die Schiffstaufe entgehen lassen. Wenn das denn alles so ist, wie es der Regierungssprecher von Frau Kraft, Herr Breustedt, angekündigt hat, dann steht der Zustimmung zu unserem Antrag nichts mehr im Wege.

Meine Damen und Herren, es ist eine lange und gute Tradition, dass Schiffe und Boote der Deutschen Marine Patenschaften zu einem Bundesland oder zu einer Stadt pflegen. Diese Patenschaften gab es schon zu Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie verdeutlichen bis heute die engen und freundschaftlichen Beziehungen zwischen Menschen, Gemeinden und Regionen, der Politik und den Streitkräften in Deutschland.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Meiner Meinung nach hat es auch nichts mit Parteipolitik zu tun, wenn wir heute alle gemeinsam diese Patenschaft formell beschließen und festigen. Es ist ein symbolischer, aber wichtiger Akt, mit dem wir als Landesparlament ebenso wie die Landesregierung und die Landtagspräsidentin unsere Unterstützung und Verbundenheit mit unserer Marine in Ausbildung und Einsatz zeigen und bekräftigen können.

Ich werbe daher um die Zustimmung aller im Parlament vertretenen Fraktionen und würde mich freuen, wenn wir nach der Überweisung in den Hauptausschuss ein starkes Bild der Geschlossenheit und Einigkeit für ein starkes Schiff und seine Mannschaft abgeben würden. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU)

Vizepräsident Oliver Keymis: Herzlichen Dank, Herr Golland. – Nun spricht für die SPD-Fraktion Kollege Marquardt.

Thomas Marquardt (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Außen- und Sicherheitspolitik gehören aus gutem Grund nicht zu den Ressorts einer Landesregierung –

(Beifall von den GRÜNEN und den PIRATEN)

ebenso wenig wie Rheinländer und Westfalen bisher als Seefahrernation auf den Weltmeeren nennenswerte Bedeutung erlangen konnten. Auch das Anlegen des Piratenschiffes in diesem Landtag hat bisher nach meiner Auffassung noch keine maritimen Akzente setzen können.

(Lukas Lamla [PIRATEN]: Ahoi!)

Wenn wir heute über die Übernahme einer Patenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen für eine Fregatte der Bundesmarine sprechen, hat das natürlich dennoch seine Berechtigung. Um den Nichtmarinekundigen zu erklären, was eine Fregatte überhaupt ist, halte ich fest: Das ist ein Schiff, das etwa 150 m lang und 18 m breit ist. Es soll eine Besatzung von ca. 100 Personen aufnehmen. Die Fregatte ist das qualitativ und quantitativ anspruchsvollste Schiff der Bundeswehr.

Die Marine führt in den kommenden Jahren vier dieser Schiffe ein. Es handelt sich um den Fregattentyp 125. Sie sollen weltweit im Rahmen von Konfliktverhütung und Krisenbewältigung zum Einsatz kommen. Zwei dieser Schiffe, die „Baden-Würt­temberg“ und die „Nordrhein-Westfalen“, werden aktuell gebaut. Zwei weitere Schiffe sind derzeit noch in Planung.

Sofern Fregatten den Namen eines der Länder der Bundesrepublik Deutschland tragen, übernimmt dann das jeweilige Land die Patenschaft für dieses Schiff. Das hat eine lange Tradition.

Schon 1970 hatte Nordrhein-Westfalen auf Anregung des damaligen Bundesverteidigungsministers Helmut Schmidt die Patenschaft über den Zerstörer Mölders bis zu seiner Außerdienststellung im Jahre 2003 übernommen. Darüber hinaus bestehen aktuell zahlreiche Patenschaften nordrhein-westfälischer Kommunen, zum Beispiel Datteln, Herten und Siegburg, zu kleineren Schiffseinheiten.

Die SPD-Fraktion begrüßt grundsätzlich die Namensgebung der neuen Fregatte und sieht darin aber auch die Verpflichtung, sich um das Schiff und vor allen Dingen um die Besatzung, um die jungen Soldatinnen und Soldaten, im Rahmen einer Patenschaft zu kümmern.

(Vereinzelt Beifall von der CDU)

Ich spreche heute als Angehöriger dieses Landtages als jemand zu Ihnen, der 36 Jahre lang der Bundeswehr in verschiedensten Führungs- und Stabsverwendungen angehört hat – vom jungen Zeitsoldaten im Jahre 1976 bis zum Kasernenkommandanten im Jahre 2012.

Aus meinem Auslandseinsatz weiß ich aus eigener Erfahrung, wie wichtig es gerade für junge Menschen ist, in der Öffentlichkeit wahrgenommen und durch die Gesellschaft auch anerkannt zu werden. Das vom damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler diagnostizierte freundliche Desinteresse der überwiegenden Mehrheit unserer Gesellschaft an der Bundeswehr hat sich durch die Aussetzung der Wehrpflicht sicherlich nicht verbessert – im Gegenteil. Die Gefahr, dass sich die Gesellschaft nicht mehr mit ihren demokratisch legitimierten Streitkräften identifiziert, ist sicherlich gewachsen. Das Ideal der inneren Führung und das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform verwischen leider immer mehr.

Wie kann eine Patenschaft zukünftig mit Leben erfüllt werden? Bis zur Außerdienststellung der Mölders gab es zahlreiche Veranstaltungen und Besuche der häufig wechselnden Schiffsbesatzungen in Nordrhein-Westfalen, zum Beispiel im Braunkohlentagebau und bei Industriebetrieben. Es wurden Musicals und Karnevalsveranstaltungen, ebenso aber auch der Kölner Dom oder der Landtag von Nordrhein-Westfalen besucht.

Insgesamt begrüßt die SPD die Übernahme einer Patenschaft für die Fregatte „Nordrhein-Westfalen“. Auch die Landesregierung hat signalisiert, dass sie sich ihrer zukünftigen Verpflichtung und Verantwortung gegenüber dem neuen Patenschiff und seiner Besatzung durchaus bewusst ist. Sie wird diese Patenschaft ebenso intensiv pflegen, betreuen und begleiten, wie es während der Patenschaft für die Mölders schon der Fall gewesen ist.

Unterstützung und Verbindungen kann bei der Vielzahl der absehbaren Veranstaltungen und Programme ein Freundeskreis „Fregatte NRW e. V.“ bieten, der sich aktuell bereits in der Gründungsphase befindet. Ein solcher Freundeskreis sollte durch den Landtag NRW unterstützt und gefördert werden.

Da es gilt, noch zahlreiche Details zu klären, wie die Rahmenbedingungen der Arbeit des Freundeskreises, schlagen wir vor, den Antrag an den Hauptausschuss zu überweisen. Ich verlasse nun die Brücke. – Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Ahoi!

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Kollege Marquardt. – Nun spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Herr Kollege Engstfeld.

Stefan Engstfeld (GRÜNE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Golland, ich erzähle Ihnen mal eine Geschichte:

(Michele Marsching [PIRATEN]: Storytime!)

Es gibt den sogenannten „Seefahrerblog“, der von Peter Gross aus Bochum betrieben wird.

(Zuruf von den PIRATEN: Das ist im Internet!)

Er sagt über sich in seinem Blog, er sei ein ehemaliger Marineangehöriger und der Marine nach wie vor verbunden. Er hat den Blog aufgemacht, um sich von den üblichen Marineblogs zu unterscheiden:

„Nicht das Militärische und Wehrtechnische soll im Vordergrund stehen, sondern die Menschen. Die an Bord der Schiffe sind, und ihre Angehörigen zuhause.“

In dem Blog gab es drei Wochen nach der Kiellegung der „Nordrhein-Westfalen“ einen Beitrag, in dem Unverständnis geäußert wurde, warum niemand aus Nordrhein-Westfalen anwesend war. Daraufhin erschien der von Ihnen erwähnte Artikel in der „Rheinischen Post“, in dem Sie fragen – ich zitiere noch einmal mit Genehmigung des Präsidenten –: „Missachtet die rot-grüne Landesregierung die Arbeit unserer Soldaten?“

Ungefähr zwei Wochen nach Veröffentlichung des Artikels in der „Rheinischen Post“ erscheint ein Eintrag von „Marinero“ in dem Blog, in dem es heißt – ich zitiere –:

„Liebe Seefahrer, nicht jeder kann alles wissen, deshalb möchte ich hier einige Eindrücke klarstellen. Es gibt seit über 5 Jahren einen Initiativkreis „Fregatte Nordrhein-Westfalen“, der als loser Zusammenschluss es sich zur Aufgabe gemacht hatte, dass eine F125 den Namen Nordrhein-Westfalen tragen soll. Dazu wurden BMVg, Marine und die Landesregierung kontaktiert und überzeugt und alle Bundes? und Landespolitiker eingebunden. Die Aufgabe wurde erfolgreich gelöst ...“

Zwei Tage später heißt es:

„… der Initiativkreis hatte – wie der Name ausdrückt – zunächst nur die selbstgewählte Aufgabenstellung, dass eine F125 auf den Namen NRW getauft wird. Mehr gab es nicht zu tun. Dazu bestand in engem Kontakt mit der Staatskanzlei unter MP Rüttgers und vielen NRW-Politikern, damals u. a. der Bundesfinanzminister Steinbrück, Kontakt zum Inspekteur, damals Admiral Nolting, und dem BMVg. Das Ziel der Namensvergabe wurde erreicht. (…)

Der Initiativkreis ist auch „in der Marine“ bekannt, konkret aktuell im Marinekommando beim Inspekteur, beim 4. Fregattengeschwader usw. Warum diese Info nicht an die Lürssenwerft ging zwecks Einladung zum Brennbeginn, ist leider nicht mehr zu klären, wohl vielleicht erklärlich mit den gewaltigen Umwälzungen bei der Marine. Da ist einiges auch bei der Einladung an Frau Kraft schiefgelaufen. Deutlich, für die Einladung war die Werft zuständig!

Tja, zu der Frage, wann ein Freundeskreis sinnvoll ist, kann man nur sagen, wann allerspätestens, also zur Taufe. Die Frage ist aber deutlich schwieriger, als sie auf den ersten Blick erscheint. Wer ist der Partner und damit Ansprechpartner eines FK? Nach den letzten vorhandenen Informationen zu dem Mehrbesatzungskonzept gibt es drei Besatzungen, die sich ein Schiff teilen sollen. Gehört der FK – wie ich immer sage – zum Blech, also zu dem eigentlichen Schiff, oder zu allen drei Besatzungen/Kommandanten oder nur zu einer?“

So weit, so gut. Ich habe mich bemüht, ein bisschen im Internet gesurft und festgestellt, wer den Kommentar im „Seefahrerblog“ geschrieben hat. Das war Diplom-Ingenieur Winfried Nowara aus Kamen. Er hat alles angeleiert und dafür gesorgt, dass die Fregatte den Namen bekommt. Mit ihm habe ich dann telefoniert. Er hat gesagt: Klar machen wir einen Freundeskreis. Wir sind auf dem Weg, haben aber noch ein bisschen Zeit. Erst für 2014 ist der Stapellauf geplant, die Indienststellung für 2017.

Dann habe ich Peter Gross angerufen und ihn auf seinen Blog angesprochen: Es gibt doch einen Initiativkreis. Im „Seefahrerblog“ kann man sich in der Maske registrieren lassen, wenn man dem Freundeskreis beitreten möchte. Das ist komisch, denn eigentlich gibt es doch den Initiativkreis. Die wollen auch Freundeskreis werden. Sie rufen auf und kritisieren. Können Sie nicht mal zusammenkommen? – Er hat gesagt: Ja, gerne. Mittlerweile haben sich 35 Personen gemeldet. Ich will gar keine Konkurrenz sein. Ich habe das nur mitbekommen und den Initiativkreis im Internet nicht gefunden. Den gibt es zwar, aber er hat keine Webseite.

Dann wollte ich etwas Gutes tun und die beiden zusammenführen. Das habe ich gemacht. Wir haben schön – Wunder der Technik – miteinander telefoniert, und man hat sich ausgetauscht. Herr Nowara und Herr Gross vom „Seefahrerblog“ waren sich einig, dass die Sache mit der Einladung schiefgelaufen ist. Das hing mit der Marineumstrukturierung, der Werft, der Kurzfristigkeit zusammen. Es war ein Kommunikationsproblem und hat überhaupt keine politische Bedeutung. Ich glaube, der Freundeskreis ist auf einem guten Weg.

Sie rufen in Ihrem Antrag auf, die Patenschaft mit Leben zu füllen. Das wird die Landesregierung ganz sicher tun. Die Patenschaft besteht schon. Der Landtag unterstützt Bestrebungen, einen Freundeskreis „Fregatte Nordrhein-Westfalen“ zu initiieren. Ich glaube, ich habe dargestellt, dass wir unseren Beitrag geleistet haben. Insofern alles gut. Im Ausschuss werden wir sehen, was es noch alles zu bereden gibt. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Kollege Engstfeld. – Nun spricht für die FDP-Fraktion Herr Kollege Lürbke.

Marc Lürbke (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nordrhein-Westfalen soll die Patenschaft für eine neue Fregatte der Bundesmarine übernehmen. Man fragt sich auf den ersten Blick, was Nordrhein-Westfalen tatsächlich mit der Marine zu tun hat. Die Grenzen unseres Landes sind doch einige Seemeilen von den Küsten entfernt. Wir haben bei uns noch nicht einmal Ebbe und Flut, allenfalls kommt einmal ein wenig Hochwasser den Rhein herunter. Warum soll dann ein Binnenland die Patenschaft für ein Hochseeschiff der Marine übernehmen?

Man könnte es sich einfach machen und nur auf gewisse Traditionen verweisen. Schließlich sind – die Kollegen haben es dankenswerterweise schon zum Ausdruck gebracht – etliche Städte in unserem Bundesland Paten der Marine – angefangen bei der Stadt Bonn für den gleichnamigen Einsatzgruppenversorger über Datteln für das Minenjagdboot „Datteln“ bis hin zu Wesel für das Tenderschiff „Rhein“. – Wer noch tiefer in die Thematik einsteigen möchte, dem empfehle ich die aktuelle Ausstellung im Stadtmuseum in Köln, die das gerade präsentiert: Das erste Schiff mit dem Namen „Köln“ lief bereits vor über 100 Jahren vom Stapel. Das letzte Schiff, die Fregatte „Köln V“, wurde kürzlich ausgemustert.

Aber Tradition, meine Damen und Herren, sollte nicht der alleinige Grund sein, die Patenschaft für ein Schiff der Marine zu übernehmen. Ebenfalls wird es nicht reichen, eine „Nordrhein-Westfalen“ nur deshalb zu wollen, weil bereits eine Fregatte „Niedersachsen“, eine andere „Baden-Württemberg“ heißt und es zahlreiche andere Schiffe und Boote mit Ländernamen gibt.

Vielmehr sollten wir uns fragen, warum diese Art von Verbindung über Patenschaften heutzutage wichtiger ist denn je. Hierbei geht es vor allen Dingen um Fragen von Identität, Verbundenheit und von Solidarität.

Ebenso wie Patenschaften unter Personen dienen auch Patenschaften mit der Bundeswehr dazu, die Freundschaft einer Gemeinde oder eines Bundeslandes mit der jeweiligen Einheit der Streitkräfte zum Ausdruck zu bringen. Sie fördern das vitale Interesse, den Bezug der Gesellschaft zu unseren Soldaten zu verstärken und die Akzeptanz der Bundeswehr in der Bevölkerung zu erhöhen. Das gilt auch für uns in besonderem Maße, denn unsere Soldatinnen und Soldaten sind etwas Besonderes, sind Bürgerinnen und Bürger in Uniform der Bundeswehr als einer Parlamentsarmee.

Genau dieses gesellschaftspolitische Verständnis für die Streitkräfte unseres Staates kann eben hervorragend dadurch zum Ausdruck gebracht werden, dass Einheiten der Bundeswehr eben nicht nur nach früheren Militärs benannt werden, sondern mit Stolz die Namen unserer Bundesländer, Städte oder Gemeinden tragen.

(Beifall von der FDP)

Die Bundeswehr befindet sich aktuell im größten Umbruch ihrer Geschichte. Wir Deutsche wollen weiterhin in Frieden und Freiheit leben, fest eingebettet in ein transatlantisches und europäisches System von Sicherheit und Zusammenarbeit. Wir verlangen von unseren Streitkräften die Bewältigung internationaler Konflikte und Krisen einschließlich des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus. Wir verlangen den Schutz Deutschlands und unserer Bündnispartner, und wir verlangen – soweit es die Verfassung erlaubt – subsidiäre Hilfeleistung im In- und Ausland wie etwa bei großen Naturkatastrophen.

Nie waren die Anforderungen an die Bundeswehr größer als heute.

Die Schiffe des neuen Typs F125 sind vor allem für friedensstabilisierende Einsätze im Verbund mit Kräften befreundeter Staaten vorgesehen. Sie sind prädestiniert für die ständigen maritimen Einsatzverbände der NATO sowie für Operationen wie „ACTIVE ENDEAVOUR“, „UNIFIL“ oder „ATA­LANTA“ am Horn von Afrika. Das sind allesamt Einsätze mit großen Herausforderungen und erheblichen Belastungen für die Soldatinnen und Soldaten.

Umso mehr können wir Nordrhein-Westfalen unsere Unterstützung und Solidarität auch dadurch sichtbar machen, dass wir „Nordrhein-Westfalen“ als Namen für ein Schiff begrüßen und die Patenschaft übernehmen.

Liebe Kollegen, um einer Patenschaft auch in der Praxis gerecht zu werden, wird es an der Marine und den Bürgern unseres Landes liegen, dies mit Leben zu füllen. Wie die Erfahrung zeigt, nehmen die Marine und ihre Paten gerne die Unterstützung durch sogenannte Freundeskreise in Anspruch. Herr Engstfeld, Sie haben dazu ausreichend recherchiert. Wunderbar, das bringt die ganze Sache nach vorne. Ich bin mir sicher, dass es dazu einen regen Austausch geben wird.

Ebenfalls begrüße ich den Vorschlag, dass die amtierende Landtagspräsidentin/der amtierende Landtagspräsident die Schirmherrschaft dieses Freundeskreises übernimmt. Dann wäre ich übrigens etwas beruhigter, was das Einladungsmanagement betrifft, das sicher noch optimierungswürdig ist. Ich hoffe, die Ministerpräsidentin wird die Taufe des Schiffes dann nicht versäumen.

Wir werden dem Antrag zustimmen. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der FDP)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Kollege Lürbke. – Nun spricht für die Piratenfraktion Herr Marsching.

Michele Marsching (PIRATEN): Vielen Dank, Herr Präsident und „Ahoi“! Ein solches maritimes Wort darf ich als Pirat natürlich benutzen. Wir Piraten sollten einen solchen Antrag, der sich um Fregatten dreht, natürlich toll finden. Aber ich frage mich: Ist der Antrag wirklich gut durchdacht?

Als Land Nordrhein-Westfalen eine solche Patenschaft zu haben, ist toll. Das finden wir gut. Der Name ist Anerkennung für die Soldaten. Das ist auch toll. Herr Golland und Herr Marquardt haben beide ausgeführt, um was für tolle Schiffe es sich handelt und was die alles können. Vielen Dank für diese Belehrung. Das ist auch ganz toll!

Die Menschen und die Anerkennung für die Menschen sind wichtig. Aber einen solchen Antrag wie den hier halten wir für ziemlich unwichtig.

Ich möchte die CDU fragen, ob sie den Unterschied zwischen dem Feststellen einer Tatsache einerseits und einem Beschluss andererseits erkannt hat. Der Landtag soll beschließen, dass die Namensgebung gut ist für das Land, seine Menschen und die politischen Repräsentanten. – Toll, das kann also ein Landtag einfach so beschließen! Ich hatte bisher gelernt, dass das entweder so ist oder nicht. Entweder ist eine Sache gut, oder sie ist nicht gut.

Ich habe zu dem Thema eine Umfrage gemacht, weil ich absolut nicht wusste, was ich sagen soll. Ich habe einfach nach Argumenten gesucht. Die Umfrage ist ein paar Tage lang gelaufen. Ich möchte das Zitat bringen, das – wie ich glaube – die Piratenmeinung, die Meinung der Basis und Bürger – jeder konnte sich beteiligen – am besten widerspiegelt. Das Zitat lautet: „Das Beste, was man mit Kriegsschiffen machen kann, ist das, was die Deutsche Marine mit ihren Schiffen in Scapa Flow gemacht hat.“

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Marsching. – Für die Landesregierung spricht nun Herr Minister Groschek.

Michael Groschek, Minister für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Die Landesregierung findet gut, dass die CDU mit diesem Antrag zum Ausdruck bringt, dass auch sie für die Übernahme dieser Patenschaft ist. Das anerkennen wir.

(Beifall von der CDU – Zuruf von der CDU: Sehr gut, Herr Minister!)

Ich fand die Entwicklung der sicherheitspolitischen Diskussion jenseits des hiesigen Parlaments bemerkenswert. Denn dass die Grünen einmal im nordrhein-westfälischen Landtag dokumentieren, dass sie eine Marinekameradschaft begründet haben, hätte ich mir vor einem Jahr schwer vorstellen können.

(Beifall von der SPD, der CDU und den PIRATEN)

Aber ich finde das gut. Ich bin zwar nie auf so kleinen Schiffen wie einer Fregatte gefahren,

(Heiterkeit von der SPD – Beifall von Marc Herter [SPD])

aber ich habe Verständnis für die Kameradinnen und Kameraden, die auf kleineren Schiffen – wir haben heute auch kleinere Haushalte – fahren müssen.

(Heiterkeit von der SPD und der CDU)

Ich will für die Landesregierung quasi als Marineattaché

(Heiterkeit und vereinzelt Beifall von der SPD und der CDU)

auf einige Entwicklungen hinweisen. Wir hatten eine gute Tradition bei Patenschaften. Johannes Rau selbst hat großen Wert darauf gelegt, beispielsweise die Patenschaft zum damaligen Zerstörer Mölders mit Leben zu füllen. Er hat bei einem Besuch in Kiel, dem Heimathafen dieses Schiffes, diesem Schiff als Einheit ein Fahnenband verliehen. Er hat also auch eine höchst repräsentative traditionelle Verbindung zum Ausdruck gebracht und gelebt, was das damalige Parlament beschlossen hatte.

Deshalb finden wir den Ansatz wichtig, nicht zu überlegen, worin in der Sprache der Prospekte der Lürssen-Werft das taktische Vermögen dieser Schiffe liegt. Ich will Ihnen mahnend mit auf den Weg geben: Das war jetzt die Kiellegung. Das hat wenig mit Kielholen zu tun, sondern mehr mit der Sektsteuer.

(Heiterkeit von den PIRATEN)

Das hat der Kollege Schneider zu Recht in Erinnerung gebracht. Denn die Sektsteuer war einmal die Finanzierungsquelle für die Marine.

(Marc Herter [SPD]: Ah!)

Die Kiellegung sagt noch nichts über den Stapellauf und die Indienstsetzung. Denn die letzten Indienstsetzungen einer Kriegsschiffklasse waren ganz neue Korvetten, die einen hochtrabend formulierten taktisch-strategischen Auftrag erfüllen sollten.

Ich sage außerhalb des Protokolls, was wirklich passiert ist.

(Minister Guntram Schneider: Sehr gut!)

Die sechs Schiffe wurden ausgeliefert. Man hat beim ersten Schiff festgestellt: Irgendetwas stimmt mit dem Getriebe nicht. Das Ding funktioniert nicht. – Dann wollte man nachschauen. Dabei hat man festgestellt: Es gab keinen Deckel zum Motorraum. Man kam nicht an den Motor. Was hat man gemacht? Man hat dieses funkelnagelneue Schiff ins Trockendock holen und von außen aufschneiden bzw. aufbrennen müssen. Weil das beim ersten Schiff so war, hatte man die Sorge: Das ist vielleicht auch beim zweiten, dritten, vierten, fünften und sechsten Schiff so.

(Minister Guntram Schneider: Wie beim Berliner Flughafen!)

In der Tat: Auf die Bauer war Verlass. Jedes Schiff hatte eine gleich gute Ausstattung.

Man hätte denken können: Mit Geld lässt sich alles heilen. – Also schneiden wir alle Schiffe auf und tauschen die Getriebe aus. Es handelte sich aber um Spezialgetriebe, weil das Spezialschiffe waren. Das war überhaupt nicht zu bekommen. Also musste man erst ein Getriebe entwickeln lassen, das kompatibel zur Gasturbine als Motor war. Ich weiß nicht, ob heute überhaupt schon eine Korvette einsatzfähig ist – entweder nur national oder im Verbund mit unseren Bündnispartnern.

Deshalb hoffe ich sehr, dass die Namensgebung „Nordrhein-Westfalen“ – keine Korvette heißt „Nordrhein-Westfalen“ – verhindert, dass aus dieser schönen Fregatte eine Mischung aus Berliner Flughafen und Stuttgart 21 wird. Das ist meine ehrliche Überzeugung.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Vereinzelt Heiterkeit von der CDU)

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage vom Kollegen Schittges?

Michael Groschek, Minister für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr: Bitte.

Vizepräsident Oliver Keymis: Bitte schön, Herr Kollege.

Winfried Schittges (CDU): Herr Minister, ich habe Ihre Ausführungen zuletzt nicht ganz verstanden. Aber Sie haben über große Schiffe gesprochen, auf denen Sie waren und die Sie begleitet haben. Damit ich Ihre Biografie richtig einschätzen kann, frage ich: Würden Sie uns sagen, auf welchen Schiffen Sie waren?

Michael Groschek, Minister für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr: Das war der Zerstörer 3, also die Klasse oberhalb der Fregatte.

(Zuruf von der CDU: Das ist wie die Landesgeschäftsstelle! – Allgemeine Heiterkeit)

– Das war grundsätzlich ein gutes Rüstzeug.

Jetzt aber zurück zum eigentlichen Thema: Die Landesregierung hat ein großes Bedürfnis, uns nicht über die taktischen Einsatzfähigkeiten zu verständigen oder auszutauschen, sondern auf die Besatzungen zu schauen. Heute gibt es in der Regel zwei Besatzungen, die abgelöst werden, weil aufgrund des erweiterten Einsatzspektrums der Einsatzradius inzwischen weltweit abgesteckt und die Heimatferne inzwischen riesig geworden ist. Die Schiffe finden sich nicht mehr nur in den Randmeeren Nord- und Ostsee wieder.

Daher glauben wir, dass es gut ist, dass beide Stammbesatzungen dieses tollen Schiffes, wenn es den Stapellauf übersteht, ein Recht darauf haben, fern der Heimat zu wissen, dass es eine gemeinsame Heimat gibt. Die Menschen auf diesem Schiff werden aus unterschiedlichen Bundesländern kommen. Sie werden ganz unterschiedliche Biografien haben. Deshalb ist es schön zu wissen: Nordrhein-Westfalen ist so etwas wie die zweite Heimat.

Einsätze, die nicht immer als nachvollziehbar und plausibel vom einzelnen am Einsatz Beteiligten angesehen werden, bekommen vielleicht deshalb ein höheres Maß an Plausibilität, wenn Rückendeckung da ist und Päckchen, Briefe und andere Formen der Kommunikation regelmäßig organisiert werden.

Ich will noch auf einen weiteren Umstand verweisen, warum ich glaube, dass solche Patenschaften sehr wichtig sind. Die Bundeswehr ist die erste Bürgerarmee in der deutschen Geschichte. Die Bundeswehr war als Wehrpflichtarmee immer schon viel eher Volksarmee als die damals so genannte.

Diese Patenschaft mit Leben zu füllen, trägt auch dazu bei, den Charakter als Bürgerarmee zu stärken. Das wird bei einer freiwilligen Armee nicht ganz leicht sein, weil nicht alle die Plausibilität des Dienstes – wo auch immer in der Bundeswehr – nachvollziehen können. Wenn wir den Menschen, die Dienst tun, diese Plausibilität noch einmal nachdrücklich bestätigen und ihnen die Sinnhaftigkeit ihres oft schweren und ritualisierten Dienstes in Erinnerung rufen, tun wir gemeinsam ein gutes Werk.

Ein gutes Werk in so großer Gemeinschaft zu tun, ist für diesen Landtag eine echte Auszeichnung.

(Beifall von der SPD – Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN – Minister Guntram Schneider: Bravo!)

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke schön, Herr Minister Groschek. – Damit sind wir am Ende der Beratungen zu diesem Punkt.

Wir kommen zur Abstimmung. Die Fraktionen haben sich inzwischen verständigt, den Antrag Drucksache 16/1906 in den Hauptausschuss zu überweisen und dort zu beraten. Wer stimmt der Überweisung zu? – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung einstimmig beschlossen.

Ich rufe auf:

10       Videoüberwachung an Bahnhöfen – Alles überwacht und dann?


Antrag
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/1902

Ich eröffne die Beratung und erteile das Wort für die Piratenfraktion Herrn Kollegen Herrmann.

Frank Herrmann (PIRATEN): Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Bürgerinnen und Bürger! Im Saal sind nicht mehr so viele, ich hoffe, im Stream umso mehr.

Der Kollege Kruse hat heute Morgen schon erklärt, die Gefahrenabwehr zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit ist die ureigenste Aufgabe des Landes. Die Videoüberwachung ist ein Element der Gefahrenabwehr. Deshalb wollen wir mit unserem Antrag zur Videoüberwachung den Vertretern des Landes beim kommenden Sicherheitsgipfel zur Videoüberwachung der Deutschen Bahn in Berlin einige Aufgaben mitgeben.

Worum geht es? 81 % – das ist die große Zahl, die seit der abgestellten Tasche und dem möglicherweise versuchten Bombenanschlag am Bonner Hauptbahnhof immer wieder genannt wird. 81 % der Menschen in Deutschland sollen auf diese Frage von Infratest dimap mit Ja geantwortet haben. Ich zitiere die Frage mit Erlaubnis des Präsidenten:

„Nach dem versuchten Bombenanschlag im Bonner Hauptbahnhof wird über eine Ausweitung der Videoüberwachung diskutiert. Befürworten Sie eine Ausweitung der Videoüberwachung auf öffentlichen Plätzen und in Bahnhöfen?“

So kommen 81 % zustande. Heute und ohne Bezug auf einen aktuellen Vorfall würde diese Zahl vermutlich wesentlich niedriger ausfallen.

Aber ich lese daraus noch etwas anderes: 81 % der Menschen in Deutschland haben sich an dieser Stelle nicht die Frage gestellt, ob mehr Videoüberwachung irgendetwas an einem möglichen Anschlag auf dem Bahnhof geändert hätte, ihn vielleicht verhindert hätte. Diese Frage hätten Sie dann mit Nein beantworten müssen. Videoüberwachung kann nicht verhindern, sie kann nur dokumentieren.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit 40 Jahren gibt es in Deutschland Erfahrungen mit Videoüberwachung. Seit 40 Jahren hat diese keine nennenswerten Auswirkungen auf die Kriminalitätsstatistik, mit der kleinen Ausnahme vielleicht bei Straftaten in Parkhäusern. Die Befürworter von Videoüberwachung interessiert das seit 40 Jahren überhaupt nicht. Es wird schon immer – wie auch jetzt – einfach mehr gefordert. Dieses Mehr darf aber nicht einfach so weitergehen. Der anstehende Sicherheitsgipfel ist der richtige Anlass, hier ein Zeichen zu setzen.

Denn ein Zeichen ist notwendig. Wir befinden uns mitten in einem Wechsel der für Videoüberwachung eingesetzten Technologien. Damit meine ich jetzt nicht nur die neuen HD-Kameras. Man kann heute nicht mehr feststellen, ob ein Mensch oder eine Software die Bilder der Kameras überwacht. In Fußballstadien wird bereits Software getestet, die auffälliges Verhaltes von Fans identifizieren soll. Auf Sicherheitsmessen für Behörden kann man schon jetzt die Anwendung solcher Software für Kameras in Bahnhöfen und auf öffentlichen Plätzen begutachten. Das geht in die völlig falsche Richtung.

Es ist in der Wissenschaft schon heute ein negativer Einfluss von Videoüberwachung auf das Verhalten der Menschen bekannt. Das Verhalten gegenüber Mitmenschen verändert sich zum Beispiel. Das hat insbesondere dann drastische Auswirkungen, wenn wirkliche Not- oder Gefahrensituationen auftreten. Durch Videoüberwachung entsteht der Eindruck, als sei alles unter Kontrolle und professionelle Hilfs- oder Sicherheitskräfte träfen jeden Moment ein. Auch die Angst, dass eventuell falsche Hilfsmaßnahmen durch Videoüberwachung dokumentiert würden, spielt eine Rolle. Deshalb sehen wir dringenden Bedarf, das Instrument Videoüberwachung grundsätzlich neu zu bewerten.

In die gleiche Richtung geht der erste Bericht eines EU-Forschungsprojekts zu Überwachungsgesellschaften, der gestern veröffentlicht wurde. Im vorläufigen Ergebnis wird hier festgestellt, dass die unbeabsichtigten Folgen und auch die Kosten der Überwachung voraussichtlich inakzeptabel hoch ausfallen. Auch wird vor einer Tendenz der Normalisierung der Überwachung gewarnt, deren Folgen für die Gesellschaft noch nicht absehbar sind und noch untersucht werden müssen.

Das sind meiner Meinung nach sehr schwerwiegende Erkenntnisse, die unbedingt dazu führen müssen, jede Ausweitung von Überwachung zu hinterfragen. Daher möchte ich an dieser Stelle eindringlich für unseren Antrag werben. Die Vertreter des Landes werden darin aufgefordert, sich bei dem Sicherheitsgipfel unmissverständlich gegen eine verstärkte Videoüberwachung zum jetzigen Zeitpunkt auszusprechen.

Wenn ich die Äußerung von Herrn Minister Kutschaty ernst nehme, scheint zumindest er unsere Position zu unterstützen. Denn er empfindet es schon jetzt als bedrückend, überall von Überwachungskameras gefilmt zu werden, wie er in einem Interview des WDR vor einigen Wochen sagte.

Ich bitte um Ihre Zustimmung und bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Herrmann. – Nun spricht für die SPD-Fraktion Herr Kollege Geyer.

Jens Geyer (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Zu dem Antrag der Piraten muss ich feststellen, dass es hierbei nur vordergründig um den Daten- und Persönlichkeitsschutz geht. Letztlich handelt es sich um wohlgemeinte Appelle für den Verzicht auf Videoüberwachung.

Dabei wird von den Piraten außer Acht gelassen, dass das subjektive Sicherheitsempfinden der Menschen ein Bauchgefühl ist. Die gesetzliche Grundlage bundespolizeilicher Videobeobachtung ergibt sich aus § 27 Abs. 1 Nr. 2 in Verbindung mit § 23 Abs. 1 Nr. 4 Bundespolizeigesetz. Danach ist die Bundespolizei befugt, selbsttätige Bildaufnahme- und Bildaufzeichnungsgeräte einzusetzen, um Gefahren für Anlagen und Einrichtungen der Bahn und der sich dort befindlichen Personen und Sachen zu erkennen.

Der Einsatz von Videoüberwachung durch die Bundesbahn zur Wahrnehmung des Hausrechts findet seine Rechtsgrundlage in § 6b Bundesdatenschutzgesetz.

Allgemein kann jedoch festgehalten werden, dass durch die Videobeobachtung der Einsatz von Präsenzkräften nicht ersetzt werden kann und auch nicht soll. Maßnahmen der Videoüberwachung, die wie in Nordrhein-Westfalen nach § 15a Polizeigesetz in ein Gesamtkonzept eingebunden sind, können ein sinnvolles Instrument zur Gefahrenabwehr sein. Der Polizei des Landes Nordrhein-Westfalen wird durch § 15a Polizeigesetz die Videoüberwachung in engem Rahmen an öffentlichen Plätzen als unterstützendes Mittel der Gefahrenabwehr an Kriminalitätsbrennpunkten ermöglicht. Die Rechtsgrundlage ist in Nordrhein-Westfalen generell auf fünf Jahre befristet. Dadurch wird gewährleistet, dass das Instrument der Videoüberwachung immer wieder auf den Prüfstand gestellt wird. – So weit die rechtlichen Rahmenbedingungen. Somit ist klar, dass die Landesregierung originär nicht für die Fragen der Videobeobachtung an Bahnhöfen zuständig ist.

Die SPD-Landtagsfraktion steht zu einer gezielten und maßvollen Videoüberwachung an neuralgischen Punkten. Dazu gehören auch Bahnhöfe. Somit unterscheiden wir uns von den Piraten, die Videoüberwachung an Bahnhöfen grundsätzlich als nicht sinnvoll bewerten. Damit es unmissverständlich klar ist: Wir sind gegen eine Totalüberwachung des öffentlichen Raumes und somit gegen die Videoüberwachung auf allen Plätzen. Die Menschen, die die Bahnhöfe nutzen, vertrauen darauf, dass sie durch Videokameras überwacht werden und bei Gefahr Hilfe erhalten. Videoüberwachung ist allerdings kein Allheilmittel und gewährt nicht mehr Sicherheit. Sie suggeriert nur eine scheinbare Sicherheit und kann eine qualifizierte Polizeiarbeit und ?präsenz nicht ersetzen.

Die Abschreckung der Videoüberwachung vor Straftaten erreicht gegebenenfalls rational denkende potenzielle Täter; diese planen die Videokameras ein und verhalten sich entsprechend. Auch terroristische Attentäter lassen sich nicht durch eine Videoüberwachung davon abhalten, Anschläge zu verüben.

Es ist Aufgabe der Bundespolizei, dauerhaft für mehr personelle Präsenz auf den Bahnhöfen zu sorgen, um dem Sicherheitsbedürfnis der Menschen Rechnung zu tragen.

Herr Präsident, ich erlaube mir mit Ihrer Genehmigung von der Homepage des Bundesbeauftragten für Datenschutz zu zitieren:

„Ein wesentlicher Aspekt der Videoüberwachung ist deren Transparenz. Der Einsatz selbsttätiger Bildaufnahme- und Bildaufzeichnungsgeräte durch die Bundespolizei muss gem. § 27 Satz 2 BPolG erkennbar sein. Jeder muss ohne Weiteres erkennen können, dass er sich im Einzugsbereich hoheitlich betriebener Videoüberwachung befindet.“

So weit der Datenschutzbeauftragte.

Die Speicherfrist ist durch den Gesetzgeber geregelt und beläuft sich auf bis zu 30 Tage. Danach sind die Bilddaten unverzüglich zu vernichten, soweit sie nicht zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr, zur Verfolgung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit benötigt werden. Diese Regelung ist ausreichend und bedarf aktuell keiner Korrektur.

Der Videoüberwachung kommt jedoch bei der Strafverfolgung eine wichtige Funktion zu, und zwar bei der Dokumentation von Straftaten und der Identifizierung von Straftätern. Die Bilder über den Tatverlauf und die dadurch mögliche Tätererkennung kann nur dann erfolgen, wenn die Videoaufnahmen auch aufgezeichnet und gesichert werden. Hier besteht dringender Handlungsbedarf, wie wir leider erst kürzlich beim versuchten Anschlag auf dem Bonner Hauptbahnhof erfahren mussten.

Die SPD wird den Antrag ablehnen, weil eine gezielte und maßvolle Videoüberwachung an Bahnhöfen auch weiterhin dringend notwendig ist. Der durch die Kollegen der Piraten infrage gestellte Schutz der Privatsphäre kann nicht nachvollzogen werden. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Herzlichen Dank, Herr Kollege Geyer. Ich habe gehört, das war Ihre erste Rede. Herzlichen Glückwunsch zur Jungfernrede im Landtag!

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Da sehen Sie einmal, welch große Fraktion die SPD-Fraktion ist. Denn es gibt immer noch Kolleginnen und Kollegen, die zum ersten Mal im Plenum sprechen. Sehr erfreulich!

Nun spricht für die CDU-Fraktion – er steht schon parat – ein altgedienter Hase, Herr Kollege Schittges. Bitte schön.

Winfried Schittges (CDU): Herr Präsident! „Hase“ ist – mit Verlaub gesagt – bei mir etwas schwierig anzuwenden.

Vizepräsident Oliver Keymis: Ohne lange Ohren. Sie wissen, wie ich es meine.

(Zuruf von Minister Ralf Jäger)

Winfried Schittges (CDU): Herr Minister, wir tauschen uns darüber noch aus.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon lange her, dass ich zu einem Antrag reden durfte, in dem so viele falsche Tatsachen behauptet werden und so viele verdrehte Darstellungen enthalten sind wie in dem vorliegenden Text der Piratenfraktion.

Ich beginne der Einfachheit halber bei Zeile 1: Ein – ich betone – möglicher versuchter Bombenanschlag auf dem Bonner Hauptbahnhof soll es gewesen sein. Vermutlich begründen die Piraten diese Einschränkung mit der Unschuldsvermutung. Aber deshalb darf man doch nicht den Tatbestand relativieren.

Dass ein Bombenanschlag versucht wurde, steht wohl außer Frage. Oder weshalb rennt sonst jemand mit einem selbst gebauten Sprengsatz durch die Gegend? Welchem Ziel – frage ich mich – dient die Verharmlosung gleich im ersten Satz?

Der Grund wird im Folgenden deutlich. Überwachungskameras sind kein Mittel, Straftaten zu verhindern. So Ihre Behauptung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Piratenfraktion, das mag eine Mehrheitsmeinung in einschlägigen Internetforen sein.

(Zuruf von den Piraten)

Die Praktiker des wirklichen Lebens, mit denen man hin und wieder reden sollte, sagen das Gegenteil.

(Beifall von der CDU)

Meine Kolleginnen und Kollegen, seit der Hauptbahnhof in meiner Heimatstadt mit Kameras überwacht wird, gibt es mit der Kriminalität keine Probleme mehr. So berichten mir übereinstimmend Bundespolizei und Bahnhofsverwaltung.

Ähnliches gilt auch für die Züge. Die Zahl der Übergriffe geht nachweislich zurück. Ich darf auf die 81 % aufmerksam machen. Die ARD hat das als Nachricht nicht nur dargestellt, sondern hat es auch unter dem Gesichtspunkt verarbeitet, dass der überwiegende Teil der Deutschen, und zwar 81 % nach Infratest dimap, mit der Ausweisung und Ausweitung der Videoüberwachung nicht nur im Schienenverkehr, sondern auch in der allgemeinen Öffentlichkeit keine Probleme hat.

Das widerspricht Ihrer Behauptung, Kameras würden das subjektive Sicherheitsgefühl nicht steigern. Offensichtlich ist das Gegenteil der Fall.

(Beifall von der CDU)

Zumindest hat die Videotechnik erkennbar keine abschreckende Wirkung auf die Menschen. Zahlreiche Hinweisschilder zeigen an, dass überwacht wird. Augenscheinlich hält sich die Zahl derjenigen, die deshalb nicht in den Zug einsteigen, in Grenzen. Die Zunahme der Personenbeförderungszahlen macht es deutlich.

In Ihrem Antrag erwähnen Sie eine Studie aus London, nach der es keinen Zusammenhang zwischen Videoüberwachung und Verbrechensaufklärung gibt. Sie haben wahrscheinlich lange im Netz suchen müssen, bis Sie diese Studie gefunden haben. Doch die Realität widerlegt Sie auch hier.

Die Aufklärung des bereits erwähnten Anschlagsversuchs in Bonn ist deshalb ins Stocken geraten, weil geeignetes Videomaterial fehlte. Gerade wir in NRW werden nicht ausreichend kontrolliert und bewacht. Deshalb müssen unsere tüchtigen Polizisten auf Bildmaterial aus einem Schnellrestaurant zurückgreifen.

Positive Beispiele finden sich dagegen oft in Bayern.

Der Mord an dem mutigen Dominik Brunner im Jahr 2009, der uns alle erfasst hat, konnte schnell geklärt werden, weil die Münchener Polizei genügend Videoaufzeichnungen zur Verfügung hatte.

Außerdem konnte die Staatsanwaltschaft in einem anderen Fall belegen, dass die Täter eben nicht betrunken waren, wie von der Verteidigung behauptet wurde. Meine Damen und Herren, Sie erinnern sich sicherlich alle noch – auch auf einem Bahnhof in München vorgefallen – an diese Aktion, die dazu führte, dass in einer strafrechtlich vernünftigen Weise überführt werden konnte.

Grotesk liest sich die weitere Behauptung von Ihnen, Passanten würden Verbrechensopfer ignorieren, wenn Videokameras angebracht sind, weil Sie vermuten, die Polizei komme sowieso.

Hilfe für Kriminalitätsopfer, meine Damen und Herren, scheitert oft an Zivilcourage, an Angst oder an Gleichgültigkeit. Aber mit Sicherheit scheitert sie nicht daran, dass man beim Helfen gefilmt wird. Und mit Sicherheit – auch davon dürfen Sie ausgehen – haben die Behörden noch anderes zu tun, als mit Videotechnik anderer Leute SMS zu lesen. Die Vorstellung ist so ähnlich wie die vom Postboten, der permanent Urlaubspostkarten liest.

Ein Gegenargument zu Ihrem Antrag: Die Kosten der Kriminalitätsbekämpfung werden durch Videoüberwachung natürlich nicht steigen, sondern sie werden vielmehr reduziert.

Kamerasysteme können helfen, Personal- und Sachmittelkosten zu begrenzen und sie zu vermindern, auch die volkswirtschaftlichen Kosten, die durch Straftaten entstehen.

(Zuruf von den Piraten: Gut erkannt!)

Meine Damen und Herren, es ist von daher klar – die Argumente in fünf Minuten auszutauschen, reicht nicht –, dass wir Ihren Antrag heute insgesamt, aber auch in den Einzelpunkten ablehnen.

Natürlich haben Sie recht: Auch eine entsprechende bauliche Gestaltung von Bahnhöfen wie die Belebung durch Geschäfte und zügige Beseitigung von Verschmutzungen können helfen, das Sicherheitsgefühl der Menschen zu erhöhen. Um all das bemüht sich die Bahn schon seit Langem. Sie sollte auf diesem Weg weiter voranschreiten.

Wir sehen: Zur Videoüberwachung gibt es keine Alternative – ganz im Gegenteil. Wenn wir den Menschen wirklich ein Sicherheitsempfinden geben wollen, müssen wir diesen Weg weiter gehen, nicht nur im privaten Bereich. Das ist meine Sicht, und dabei bleibe ich auch.

(Beifall von der CDU)

Das ist nicht der Einstieg in den Orwell’schen Überwachungsstaat – ganz im Gegenteil. Ich sage das noch mal, alle wissen ja, was damals unter diesem Vorzeichen geschah. Da war die Technik nicht so weit, da war die Kriminalitätsentwicklung nicht so weit. Heute wissen wir genau, wir brauchen technische Hilfsmittel, um den Menschen Sicherheit auf den Straßen und insbesondere auf den Bahnhöfen zu geben. Deshalb: Wer der Wirklichkeit ins Auge sieht, weiß genau, dass wir nur diese Chance haben, den Menschen ein Sicherheitsgefühl zu geben.

In diesem Sinne lehnen wir Ihren Antrag ab. – Danke schön.

(Beifall von der CDU)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Schittges. – Für die grüne Fraktion spricht Frau Kollegin Schäffer.

Verena Schäffer (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach dem glücklicherweise fehlgeschlagenen Anschlag am Bonner Hauptbahnhof ist das passiert, was in solchen Fällen immer passiert: Der reflexhafte Ruf nach mehr Videoüberwachung wird wieder laut. Natürlich kann man sich fragen, warum am Bonner Hauptbahnhof die Aufnahmen nicht gespeichert wurden. Das hört sich in der Tat erst einmal paradox an.

Bundesinnenminister Friedrich verschweigt aber bei seiner Forderung nach mehr Kameras, die er jetzt erhebt, dass die gesetzlichen Kompetenzen der Bundespolizei zweifelsfrei vorhanden waren und sind. Die Verantwortung dafür, dass im Bonner Fall keine Überwachung erfolgte, liegt bei der Bundespolizei als Sicherheitsbehörde, also nicht beim Land, sondern beim Bund. Offensichtlich hat der Bundesinnenminister die eigenen Möglichkeiten nicht ausgeschöpft und will jetzt durch ein billiges Manöver von den Versäumnissen der Bundespolizei ablenken.

Abgesehen davon, dass wir als Landesgesetzgeber gar nicht dafür zuständig sind, gibt es aus unserer Sicht keinen Bedarf, die Bundesgesetzgebung zu verändern und mehr Kontrolle einzuführen. Die Bundesgesetzgebung ist bereits heute sehr weit gefasst. Sie sieht Videoüberwachung sogar dann vor, wenn sie anlassunabhängig einsetzbar ist.

Die Piraten fordern unter anderem eine Untersuchung der Wirksamkeit von Videoüberwachung an Bahnhöfen und in Fahrzeugen. Man muss schon ein bisschen differenzieren. Es gibt Untersuchungen, dass Videoüberwachung gegen Vandalismus hilft. Nichtsdestotrotz hilft Videoüberwachung natürlich nicht gegen Terrorismus.

(Beifall von den GRÜNEN)

Herr Schittges, die Landesgesetzgebung – hier: § 15a des Polizeigesetzes – sieht viel strengere Regelungen vor, was die Überwachung von öffentlichen Plätzen angeht. Sie erlaubt die Überwachung nur zur Verhütung von Straftaten an sogenannten Kriminalitätsschwerpunkten. Herr Schittges, der Zweck ist aber nicht die Verfolgung von Straftaten, sondern die gespeicherten Daten dürfen dann, wenn sie erhoben worden sind, auch für die Strafverfolgung eingesetzt werden.

Ich möchte in der Diskussion über Videoüberwachung eines noch mal klarstellen. Sie – die CDU – fordern immer mehr Videoüberwachung, weil Sie die absolute Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger gewährleisten wollen. Man muss einmal klarstellen, dass Sie das nicht machen können. Eine Bombe explodiert auch dann, wenn dabei gefilmt wird.

(Beifall von den GRÜNEN und den PIRATEN)

Die Befürworter der Videoüberwachung – das sind Sie von der CDU – gaukeln den Bürgerinnen und Bürgern eine Sicherheit vor, ohne das Versprechen einlösen zu können. Herr Schittges, Sie wollen das subjektive Sicherheitsgefühl erhöhen; das haben Sie gerade sehr schön dargestellt. Wenn Sie das subjektive Sicherheitsgefühl erhöhen, sorgen Sie aber objektiv nicht für mehr Sicherheit. Sie geben scheinbar einfache Lösungen vor. Sie werden mit diesen scheinbar einfachen Lösungen aber nicht für mehr innere Sicherheit sorgen.

Eines dürfen wir bei der Forderung nach mehr Videoüberwachung, nach mehr Kameras nicht vergessen. Sie bekommen, wenn Sie Videoüberwachung einsetzen, nicht nur Terroristinnen und Terroristen vor das Kameraobjektiv, sondern alle Bürgerinnen und Bürger, die sich an diesem Ort, der gefilmt wird, aufhalten: die genervten Eltern mit ihrem quengelnden Kind, das berühmte 15-jährige knutschende Pärchen. Da müssen wir als Grüne sagen: In der Abwägung zwischen dem Schutz der Privatsphäre auf der einen Seite und den berechtigten Sicherheitsinteressen auf der anderen Seite halten wir die Videoüberwachung und vor allem ihre Ausweitung für unverhältnismäßig. Wir werden für eine scheinbare Sicherheit unsere Freiheitsrechte nicht aufgeben. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN, der SPD und den PIRATEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke schön, Frau Schäffer. – Für die FDP-Fraktion spricht Herr Kollege Dr. Orth.

Dr. Robert Orth (FDP): Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Entschuldigung. Sehr geehrter Herr Präsident! Das steht auch anders herum auf meinem Zettel. – Die FDP ist unstreitig dafür, dass man terroristischen Bedrohungen und Straftaten begegnen muss. Das darf aber nicht bedeuten, jeden Bürger im öffentlichen Raum rundum überwachen zu lassen oder einfach alle unter Generalverdacht zu stellen. Die technische Überwachung der Bürgerinnen und Bürger bedeutet einen erheblichen Eingriff in die Freiheit und die Grundrechte des Einzelnen. Daher lehnen wir ganz klar jede flächendeckende Videoüberwachung ab.

(Beifall von der FDP und den PIRATEN)

Wir haben uns seinerzeit auch gegen Forderungen aus dem christdemokratischen Spektrum gewandt, als es darum ging, § 15a des Polizeigesetzes auszudehnen. Das haben wir verhindert. Ich hoffe, dass die Grünen in ihrer Regierungszeit an dem Punkt genauso erfolgreich sind. Da würde ich Ihnen einmal wünschen, dass Sie sich durchsetzen.

Der Staat darf nur in begrenzten Ausnahmefällen anlassbezogen, befristet und sorgfältig begründet im Rahmen eines polizeilichen Gesamtkonzepts Videoüberwachung anwenden. Ansonsten erzeugt man Scheinsicherheit.

Kollege Geyer von der SPD und Kollege Schittges haben beide vom Bauchgefühl oder von der subjektiven Sicherheit gesprochen. Für mich kommt es an der Stelle nicht auf Subjektivität an und auch nicht darauf, wie dick oder dünn ein einzelner Bauch ist, sondern es muss objektiv durch Fakten hinterlegt sein, dass wir mehr Sicherheit bekommen.

Ich finde, wenn man sich diesen Antrag anschaut, stellt man fest, er fasst das Thema viel zu eng. Es geht nicht nur um die Bahnhöfe der Deutschen Bahn. Wir haben viel mehr U-Bahnhöfe, wir haben viel mehr Busbahnhöfe usw.

Deswegen haben die Liberalen in der letzten Legislaturperiode hier den Antrag eingebracht – der heute noch so gültig ist wie damals –, die Sicherheit in Bussen und Bahnen und an den Haltestellen in Nordrhein-Westfalen zu verbessern. Den hat Rot-Grün seinerzeit abgelehnt.

Dabei ging es aber darum, dass wir landespolizeilich Dinge regeln können und dass die Landespolizei mehr Präsenz zeigt. Sie von den Piraten wenden sich dagegen lediglich einem Thema zu, das die Bundespolizei berührt. Ich würde mich allerdings freuen, wenn wir hier dazu zurückkehren würden, uns Gedanken darüber zu machen, wie wir im Land persönlich, konkret und mit den Mitteln der Politik mehr Sicherheit schaffen können.

(Beifall von der FDP)

Meine Damen und Herren, das subjektive Sicherheitsgefühl wird sich dann verbessern, wenn wir die objektive Lage verbessern.

(Beifall von der FDP)

Wir brauchen mehr Polizistinnen und Polizisten und mehr Mitarbeiter der Ordnungsbehörden auf den Straßen. Das sorgt für Sicherheit. Wir brauchen nicht mehr Kameras.

Frau Kollegin Schäffer von den Grünen hat das berühmte 15-jährige Pärchen angesprochen. Ich hatte eben eine Schülergruppe von meiner alten Schule da. Wir haben darüber gesprochen, wie es denn sein kann, dass darüber diskutiert wird, Videoüberwachung auf Schulhöfen zuzulassen. Da ist genau das gesagt worden: Es geht sowohl um die Romantik der Heimlichkeit des ersten Kusses als auch darum, dass man, wenn man in London mit seinen Einkaufstüten dasitzt, keine Lust mehr hat, sich seiner Partnerin oder seinem Partner zuzuwenden, weil so viele Kameras in der Nähe sind. Wenn Sie sich die Statistik für London anschauen, sehen Sie, dass dies nicht zu mehr Sicherheit geführt hat.

Wir werden dem Antrag der Piraten nicht zustimmen, obwohl wir für viele Punkte sehr viele Sympathien haben; denn der Antrag überzeichnet das Thema in unseren Augen insgesamt und beleuchtet es nicht ausgewogen. Hier ist von „Rückzugsmöglichkeiten im Wartehäuschen“ die Rede. Ich möchte nicht explizit unbeobachtete Räume schaffen. Hier ist von einem Hausmeister – den ich Herrn S. nenne – die Rede. Ich finde, das gehört nicht in einen solchen Antrag. Die Landespolitik fehlt uns, wie gesagt, auch. Deswegen werden wir uns nachher bei der Abstimmung enthalten. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der FDP)

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke schön, Herr Dr. Orth. – Nun spricht für die Landesregierung Herr Minister Jäger.

Ralf Jäger, Minister für Inneres und Kommunales: Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Dr. Orth, nach Ihrer Rede bin ich erleichtert. Ich bin erleichtert, dass Sie, nachdem Sie noch vor wenigen Wochen gefordert haben, dass man anlassunabhängig selbst friedliche Besucher von Fußballspielen mit Sprengstoffspürhunden nach Pyrotechnik durchsuchen lässt, jetzt wieder auf die liberale Spur, wonach man Bürgerrechte achten sollte, zurückgekommen sind. Nach Ihrer Rede bin ich wirklich erleichtert, Herr Dr. Orth.

(Beifall von der SPD – Zuruf von Dr. Robert Orth [FDP])

Herr Dr. Orth, ich bin auch erleichtert darüber, dass Sie sagen, das subjektive Sicherheitsgefühl der Menschen in diesem Land stärkt man am besten durch die Polizeipräsenz vor Ort. Damit heißen Sie die Linie dieser Landesregierung gut, mehr Polizistinnen und Polizisten einzustellen und für mehr Präsenz auf den Straßen zu sorgen. Herr Dr. Orth, hätten Sie diese Weitsicht in der Zeit Ihrer Regierung bewiesen, würde in den nächsten Jahren bei der nordrhein-westfälischen Polizei nicht diese schwarz-gelbe Personallücke auf uns zukommen.

(Dr. Robert Orth [FDP]: Das ist Ihre Personallücke!)

Sie wissen, dass das nordrhein-westfälische Polizeigesetz – da haben Sie zu Recht zitiert, Herr Dr. Orth – wenn überhaupt, dann nur in einem sehr begrenzten Umfang Videoüberwachung im öffentlichen Raum zulässt. Ich bin der Auffassung, dass man dieses Mittel sehr dosiert einsetzen sollte. Vor allem um das von Ihnen angesprochene Missverhältnis zwischen subjektivem Sicherheitsgefühl auf der einen Seite und objektiver Sicherheitslage auf der anderen Seite auszugleichen, befürworte ich eine Videoüberwachung im öffentlichen Raum, aber nur dann, wenn man auch Einsatzmittel vor Ort hat – sprich: Beamtinnen und Beamte, die, wenn über die Videotechnik Straftaten sichtbar werden, sofort eingreifen können. Es ist auch zu Recht gesagt worden, der Antrag der Piraten bezieht sich ausschließlich auf die Videoüberwachung auf Bahnhöfen.

Was die Forderungen an die Landesregierung angeht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Piratenfraktion: Diesen Forderungen können wir bedauerlicherweise nicht nachkommen, aus dem einfachen Grund, dass die nordrhein-westfälische Landesregierung für die Videoüberwachung auf Bahnhöfen nicht zuständig ist. Da wir aber serviceorientiert sind, will ich Ihnen gerne die rechtlichen Grundlagen für die Videoüberwachung nennen: für die Bundespolizei das Bundespolizeigesetz und für die Ermächtigung der Deutschen Bahn das Bundesdatenschutzgesetz.

Eine weitere Erörterung hinsichtlich der Landesregierung und der Videoüberwachung auf Bahnhöfen ist damit aus meiner Sicht nicht erforderlich. Ich danke trotzdem für die Debatte. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Herzlichen Dank, Herr Minister Jäger. – Für die Piratenfraktion hat sich Herr Herrmann noch einmal ganz kurz zu Wort gemeldet – ganz kurz deshalb, weil es nur ein paar Sekunden sind. Bitte schön, Herr Kollege.

Frank Herrmann (PIRATEN): Ganz kurz zur Klarstellung: Unser Antrag bezieht sich nur auf die Teilnahme der Landesvertreter am Gipfel in Berlin. Er hat nicht die Abschaffung der Videoüberwachung zum Inhalt, sondern nur den Stopp der Ausweitung. Wir werden uns an anderer Stelle noch einmal mit den Landesthemen zur Videoüberwachung beschäftigen.

Herr Schittges, ich werde jedes einzelne Ihrer Argumente, die Sie gebracht haben, widerlegen, und zwar nicht mit Äußerungen aus einschlägigen Internetforen, sondern mit wissenschaftlicher Expertise. Bis dahin. – Danke.

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke schön, Herr Herrmann. – Damit sind wir am Ende der Debatte über Tagesordnungspunkt 10 und kommen zur Abstimmung.

Die Fraktion der Piraten hat direkte Abstimmung beantragt. Stimmen wir also direkt ab: Wer stimmt dem Antrag Drucksache 16/1902 zu? – Die Fraktion der Piraten. Wer stimmt dagegen? – SPD, Grüne und CDU. Wer enthält sich? – Es enthält sich die FDP. Damit haben wir eine Mehrheit in diesem Hohen Hause, die den Antrag ablehnt.

Wir kommen zu:

11       Kommunalfinanzberichte: Die Landesregierung muss endlich ihre respektlose Informationszurückhaltung gegenüber dem Parlament beenden

Antrag
der Fraktion der FDP
Drucksache 16/1271


Beschlussempfehlung
des Ausschusses
für Kommunalpolitik
Drucksache 16/1526

Gemäß § 79 Abs. 2 Ziffer b der Geschäftsordnung wurde der Antrag vom Plenum an den Ausschuss für Kommunalpolitik überwiesen mit der Maßgabe, dass die Beratung und Abstimmung erst nach Vorlage der Beschlussempfehlung erfolgen. Die Beschlussempfehlung liegt nunmehr vor.

Ich eröffne die Beratung und erteile für die SPD-Fraktion Herrn Kollegen Hübner das Wort. Bitte schön.

Michael Hübner (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir müssen heute, weil wir uns auf dieses Beratungsverfahren in der Plenarsitzung, in der wir den Antrag an den entsprechenden Ausschuss überwiesen haben, entsprechend verständigt haben, berichten, zu welcher Abstimmung es im Ausschuss gekommen ist, und über den Antrag Beschluss fassen.

Ich habe mir deshalb noch mal die Historie des Antrags des Kollegen Abruszat angeschaut und musste feststellen, dass der Antrag im Wesentlichen auf der Kleinen Anfrage 882 des Kollegen Horst Engel aus der vergangenen Legislaturperiode basiert, die allerdings im Stil wesentlich angemessener formuliert war. Diesmal ist der Stil relativ unerträglich: „Kommunalfinanzberichte: Die Landesregierung muss endlich ihre respektlose Informationszurückhaltung gegenüber dem Parlament beenden“.

Ich darf nach Lesen der Kleinen Anfrage immerhin feststellen, dass der Plagiatsvorwurf etwas verfehlt wäre. Denn Sie haben, Herr Abruszat, einen Antrag der Grünen aus der vorvergangenen Legislaturperiode eins zu eins zitiert. Mir ist da nichts weiter aufgefallen. Von daher geht mein Plagiatsvorwurf ins Leere.

Nichtsdestotrotz ist das hier die Wiederverwendung eines alten Themas. Aber da gilt noch nicht mal der Satz: Neuer Wein in alten Schläuchen. Oder: Alter Wein in neuen Schläuchen. – Noch nicht einmal das wäre richtig.

Immerhin war die Debatte im Ausschuss sehr sachlich, Herr Kollege Abruszat. Wir hatten auch schon mehrfach Berichterstattungen zum Thema „Kommunalfinanzberichte“. Zudem sind die Schwierigkeiten, die wir aufgrund der NKF-Umstellung in den Städten und Gemeinden hatten, auch von Ihnen akzeptiert worden. Es ist eben nicht so einfach, egal ob damals als Opposition oder heute als Regierung, den Kommunen vorzuschreiben, die Daten in einer entsprechenden Qualität vorzulegen.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Gerhard Papke)

Große Teile liegen noch nicht vor. Die Regierung hat im Ausschuss aber vorgetragen, dass fest beabsichtigt ist, dass es, sobald die Daten vorliegen, eine Neukonzeption für die Kommunalfinanzberichte auf Basis von NKF, also nach bilanziellen Berichterstattungsmerkmalen, geben wird. Für diese Ankündigung sind wir sehr dankbar.

Vor diesem Hintergrund ist auch die Beschlussfassung zu sehen. Ich glaube, es ist im Interesse aller, dass wir in Zukunft Kommunalfinanzberichte bekommen, um die Situation der Kommunen besser einschätzen zu können, gerade vor dem Hintergrund der schwierigen finanziellen Situation, die wir in den Kommunen trotz all der eingeleiteten Verbesserungen immer noch haben. Von daher werden Sie es uns nachsehen, dass wir gleich entsprechend der Beschlussfassung des Kommunalausschusses abstimmen werden. – Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Kollege Hübner. – Für die CDU-Fraktion erteile ich jetzt das Wort Herrn Kollegen Nettelstroth.

Ralf Nettelstroth (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der letzte Kommunalfinanzbericht wurde von der schwarz-gelben Landesregierung im Jahre 2009 vorgelegt und befasste sich mit den Kommunalfinanzen des Jahres 2008. Seit diesem Zeitpunkt gab es keinen neuen Kommunalfinanzbericht mehr in diesem Parlament.

Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben einer Landesregierung, das Landesparlament umfassend und zeitnah über die Finanzsituation der Kommunen in Nordrhein-Westfalen zu informieren. Gerade in der heutigen Zeit, in der sich die Finanzsituation der Kommunen in Nordrhein-Westfalen nachhaltig verschlechtert hat, ist es zwingend erforderlich, genau zu wissen, wie sich die Entwicklung der Kommunalfinanzen darstellt, um die nordrhein-westfälischen Gemeinden bei der Haushaltskonsolidierung zu unterstützen.

(Beifall von der CDU)

Letztlich sind sich daher im Ausschuss für Kommunalpolitik alle Fraktionen einig, dass Kommunalfinanzberichte von der Landesregierung zu veröffentlichen sind. Uneinigkeit besteht jedoch darüber, ab welchem belastbaren Datenbestand die Berichte zu erstellen sind.

Durch die Einführung des NKF, des Neuen Kommunalen Finanzmanagements, sahen sich bislang nicht alle Kommunen in der Lage, Finanzberichte zu erstellen. Deshalb ist die Landesregierung der Auffassung, dass auf Basis der Rückmeldungen von 75 % der Kommunen im Jahre 2008, von 45 % der Kommunen im Jahre 2009 und von 26 % der Kommunen im Jahre 2011 – nach dem Auskunftsstand von November 2012 – derzeit kein belastbarer Kommunalfinanzbericht erstellt werden könne.

Offen blieb in der Fachausschusssitzung jedoch, bei welcher Datenbasis die Bereitschaft der Landesregierung besteht, die Tradition der Kommunalfinanzberichte wieder aufzunehmen. Zumindest dazu sollte sich die Landesregierung äußern.

Dem normalen Bürger erschließt sich jedenfalls nicht, wie sich das zuständige Ministerium angesichts dieser anscheinend unzureichenden Datenbasis in der Lage sieht, ein Gemeindefinanzierungsgesetz 2012 und ein Gemeindefinanzierungsgesetz 2013 auf den Weg zu bringen.

Herr Minister Jäger, es ist nunmehr an der Zeit, dass auch Sie erstmalig seit 2010 einen Kommunalfinanzbericht vorlegen, und zwar auf der Grundlage der bislang vorliegenden Informationen. Man darf nicht nur ständig über Transparenz reden, man muss sie auch konkret schaffen.

Daran sind insbesondere die Kollegen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu erinnern, die noch 2009 als Oppositionspartei forderten, Kommunalfinanzberichte sogar unterjährig mehrmals vorzulegen. Noch 2009 forderten die heutige Schulministerin Löhrmann, der heutige Umweltminister Remmel und der heutige Parlamentarische Staatssekretär Horst Becker bei noch weitaus schlechterer Datenbasis vor diesem Hause eine Ausweitung der Kommunalfinanzberichte.

Mit dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Drucksache 14/10151 wurde gefordert – ich zitiere den Antragstext mit Genehmigung des Präsidenten –:

„Die regelmäßige Vorlage eines solchen Berichtes ist aber aus Transparenzgründen und als Frühwarninstrument zwingend erforderlich. Es darf nicht der Anschein entstehen, dass sich die Landesregierung aus ihrer Verantwortung für die Kommunen entzieht, indem sie es unterlässt, die wahre Haushaltslage und die haushaltsrechtlichen und realwirtschaftlichen Folgen zu ermitteln.“

(Beifall von der CDU und der FDP)

Meine Damen und Herren, Staatssekretär Becker sagte damals, dass auch die Umstellung des kameralen Haushaltsrechtes der letzten Jahre auf das Neue Kommunale Finanzmanagement – NKF – kein Hinauszögern oder Aufgeben des Kommunalfinanzberichtes rechtfertigen würde. Dieser Ansatz wird von uns voll geteilt, insbesondere wenn man bedenkt, dass das NKF 2009 eingeführt wurde und sich die Datenbasis seitdem tagtäglich nachhaltig verbessern dürfte.

Lassen Sie sich an Ihren eigenen Ansprüchen messen. Stellen Sie als Landesregierung Ihre respektlose Informationszurückhaltung ein, und legen Sie diesem Parlament endlich den ersten Kommunalfinanzbericht vor.

Die CDU-Landtagsfraktion wird dem FDP-Antrag zustimmen. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Abgeordneter. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erteile ich Herrn Kollegen Krüger das Wort.

Mario Krüger (GRÜNE): Meine Damen, meine Herren! Herr Präsident! Ich finde es schon interessant, Herr Nettelstroth, dass Sie sich sozusagen um die Historie grüner Anträge bemühen müssen, um Ihre Argumentationslinie aufbauen zu können.

Ich weiß nicht, ob Sie wahrgenommen haben, was in den letzten Jahren passiert ist. Wir haben eine sehr, sehr intensive Diskussion mit den kommunalen Spitzenverbänden, aber auch mit den jeweiligen Kommunen geführt bezogen auf die Frage: Wie geht man mit NKF um? Wie geht man mit den Schwierigkeiten bei der Erstellung von Haushaltsabschlüssen um?

Es hat sich gezeigt, dass es einen erheblichen Handlungsbedarf gibt. Dem hat man sich angenommen. Normalerweise hätte man diesen Handlungsbedarf bereits im Jahre 2012 abstellen können. Aber Sie wissen auch, was dazwischengekommen ist. Deswegen haben wir erst Ende letzten Jahres eine Novellierung des Neuen Kommunalen Finanzmanagements vornehmen können, um den Problemstellungen, die ohne Zweifel bestehen und von denen Sie auch Kenntnis haben, Rechnung zu tragen.

Sie haben selbst ausgeführt, dass bezogen auf die Datenlage, die wir haben – da muss ich Sie an einem Punkt korrigieren –, für das Jahr 2008 erst für 75 % der Haushalte entsprechende Abschlüsse vorliegen, für das Haushaltsjahr 2009 für 45 % und für das Haushaltsjahr 2010 – Sie sagten 2011 – für 26 %.

Ich glaube – das ist auch in den Diskussionen im Fachausschuss deutlich geworden –, dass die Landesregierung überhaupt kein Interesse daran hat, diese Daten bzw. entsprechende Finanzberichte der Politik bzw. dem Landtag vorzuenthalten. Überhaupt kein Interesse! Die Frage ist nur: Wie kommen wir an diese Daten heran?

(Kai Abruszat [FDP]: Genau!)

Dazu haben wir mit der kommunalen Familie ein Verfahren vereinbart über das NKF, über die Novellierung – natürlich mit der klaren Herangehensweise, kurzfristig die entsprechenden Haushaltsabschlüsse zu erstellen.

In den Diskussionen ist auch deutlich gemacht worden, dass wir nicht darauf warten, bis die letzte Kommune ihren Haushaltsabschluss vorgelegt hat. Vielmehr werden wir, sobald eine aussagekräftige Anzahl an Haushaltsabschlüssen vorliegt, aus der man ein Resümee ziehen kann, entsprechende Informationen bekommen.

Insofern greift dieser Antrag ins Leere. Ich empfehle Ihnen, diesen Antrag zu beerdigen. Von mir aus können wir den gerne noch mal Ende des Jahres auferstehen lassen mit der Frage: Wie sehen die Daten jetzt aus? Gibt es in diesem Zusammenhang schon belastbare Aussagen? Aber zum jetzigen Zeitpunkt vom Innenministerium zu verlangen, auf Grundlage der wenigen Haushaltsabschlüsse einen entsprechenden Bericht vorzulegen, hilft keinem weiter. Das von unserer Seite. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Kollege Krüger. – Für die FDP-Fraktion erteile ich nun Herrn Kollegen Abruszat das Wort.

Kai Abruszat (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Unser Antrag ist noch nicht einmal drei Monate alt. Und er ist aktueller denn je. Herr Minister Jäger, ich sage Ihnen auch, warum. Der Zahlensalat beim „Stärkungspakt Stadtfinanzen“ ist das beste Beispiel dafür, warum wir eine transparente, klare Darstellung und Zusammenstellung der Kommunalfinanzen und der Kommunalfinanzberichte in Nordrhein-Westfalen dringend brauchen.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Erstaunlich ist ja – ich will auf die letzte Kommunalausschusssitzung Bezug nehmen –, dass Sie in dieser Sitzung auf meine Nachfragen hin deutlich gemacht haben – das war am 11. Januar –, wie wenig valide die amtlichen Statistiken des nordrhein-westfälischen Ministeriums für Inneres und Kommunales eigentlich sind.

Meine Damen und Herren, das ist die Grundlage einer jedweden Verteilung von Finanzzuweisungen, Umlagen, Förderprogrammen, Hilfsprogrammen im Zusammenhang mit den Kommunen. Wir fordern hier keine Petitesse. Wir fordern hier eine wesentliche Entscheidungsgrundlage für die Berechnung der für die kommunale Familie notwendigen Finanzströme. Das sind Sie schuldig geblieben. Das mahnen wir an.

Herr Kollege Krüger, Sie haben vorhin gesagt, wir könnten den Antrag Ende 2013 gerne noch mal stellen. Verlassen Sie sich darauf! Wir bleiben hartnäckig bei diesem Thema. Nehmen Sie mich beim Wort!

(Beifall von der FDP und der CDU)

Deshalb, lieber Herr Minister Jäger, will ich Ihnen abschließend gerne noch ein Zitat zurufen, das Zitat eines, ich glaube, großen Gewerkschafters und Sozialdemokraten, der zumindest am Ende seiner Tätigkeit umstritten war in Ihrer Partei. Aber ich finde das Zitat so toll, weil es durchaus passt.

Franz Steinkühler hat einmal gesagt: Ich denke bei Statistik an den Jäger, der an dem Hasen einmal links knapp vorbeischießt und beim zweiten Mal rechts knapp vorbeischießt, und im statistischen Durchschnitt ergibt das dann einen toten Hasen.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Meine Damen und Herren, das ist keine transparente Kommunalfinanzberichterstattung. Da müssen Sie nacharbeiten. Wir bleiben dran an diesem Thema. – Ganz herzlichen Dank.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Abgeordneter. – Für die Piratenfraktion hat als Nächster Herr Kollege Stein das Wort.

Robert Stein (PIRATEN): Danke sehr. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen und noch drei Gäste auf der Zuschauertribüne! Auch die Menschen im Stream möchte ich begrüßen. Nun: Der Antrag fordert Transparenz bezüglich der Kommunalfinanzen. Das ist gut so und in der Sache natürlich unterstützenswert. Das ist gar keine Frage, vor allem auch im Hinblick auf die aktuelle Datenlage. Wir wissen ja, dass die Daten nicht gerade zeitnah veröffentlicht werden. Es läuft schleppend, obwohl die Probleme bekannt sind, Herr Jäger.

Nur, dazu muss ich auch ganz deutlich sagen: Sie haben die Gesetze hier gemacht. Sie sind der Minister. Dann müssen Sie auch dafür sorgen, dass es läuft und funktioniert. Insofern verstehe ich die Kritik an der Sache.

(Beifall von den PIRATEN und der CDU)

Gut, in der Ausschusssitzung haben wir uns zunächst enthalten, da uns der Antrag nicht weit genug ging. Wir haben darüber hinaus auch die Veröffentlichung der Rohdaten gefordert. Nun, die Rohdaten, die auf Plausibilität geprüft worden sind, sind veröffentlicht. Wir haben sie veröffentlicht, sie sind auf unserer Homepage einsehbar.

(Beifall von den PIRATEN)

Insofern kann ich vorwegnehmen, dass wir diesem Antrag zustimmen werden. Das ist zumindest meine Empfehlung an meine Fraktion. Wir hatten ja heute einen entsprechenden Vorfall. Bei uns herrschen aber definitiv keine Fraktionsdisziplin und kein Fraktionszwang. Es bleibt unseren Abgeordneten natürlich frei, wie sie abstimmen. Diese kleine Bemerkung müssen Sie mir hier gestatten.

Ich habe es gerade erwähnt: Es fehlen noch immer in erheblichem Umfang Zahlen, Herr Jäger. Ich halte hier meine Kleine Anfrage 614 mit der Antwort Drucksache in Händen. Darin ist tabellarisch aufgeführt, welche Kommune welche Zahlen für die entsprechenden Jahre geliefert hat. Ich empfehle jedem, der sich das noch nicht angeschaut hat, einfach einmal einen Blick hineinzuwerfen.

Für die Jahre 2009 liegt die Ergebnisrechnung weitgehend vor, aber noch nicht für alle Kommunen. Auch die Bilanzen sind schon in großer Zahl geliefert. Aber ab 2010 wird es vor allem bezüglich der Bilanzen düster.

Wir schreiben mittlerweile das Jahr 2013 und können in einer hoch modernen Zeit, in der Daten mit Computern verarbeitet werden, wirklich verlangen, dass die Daten aus 2010 jetzt vorliegen. Schließlich ist eine E?Mail mit Anhang nicht drei Jahre im Internet unterwegs und wird auch nicht von Server zu Server und von Kontinent zu Kontinent geschickt. Dass diese Daten bis 2013 ankommen, können wir also verlangen.

(Beifall von den PIRATEN)

Ich möchte Sie aber nicht nur kritisieren, Herr Jäger. Ich möchte Ihnen natürlich auch dafür danken, dass die Daten, die wenigstens schon auf Plausibilität hin geprüft worden sind und die sich nicht über Jahre hinweg im Internet oder in den Datensystemen verloren haben, inzwischen veröffentlicht wurden.

Ihre Aufgabe wird es sein, das Neue Kommunale Finanzmanagement umzusetzen, die Transparenz einwandfrei herzustellen und die Daten zeitnah vorzulegen, soweit Ihnen das möglich ist. Sonst müssen Sie sich fragen, ob auch noch die Strukturen geschaffen werden müssen, damit es möglich ist, diese zeitnah veröffentlichen zu können.

Ich empfehle meiner Fraktion – wie gesagt, ohne dass wir einer Fraktionsdisziplin folgen müssen – die Zustimmung und bedanke mich sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Kollege Stein. – Für die Landesregierung spricht nun Herr Minister Jäger.

Ralf Jäger, Minister für Inneres und Kommunales: Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren, nach so vielen Schleifen des Antrages – unter anderem im Kommunalausschuss, aber auch hier im Plenum – hätte ich erwartet, dass die überwiegend sachliche Diskussion, die wir dort geführt haben, wenigstens ansatzweise in den Wortbeiträgen aufgegriffen worden wäre. Das scheint aber nicht der Fall zu sein. Ich würde gerne versuchen, mit der einen oder anderen Legende aufzuräumen.

Herr Nettelstroth, die Systematik des Gemeindefinanzierungsgesetzes ist äußerst kompliziert. Ich habe viele Jahre gebraucht, um in die letzten Nischen dieses Verteilungsmechanismus hineinzugelangen. Aber den Zusammenhang zwischen kommunalem Finanzbericht und der Frage, wie wir die Schlüsselzuweisungen zwischen den 396 Kommunen in Nordrhein-Westfalen verteilen, habe ich bis heute noch nicht entdecken können.

Das ist auch ganz klar; denn die Frage, welchen Anteil die jeweilige Kommune von den inzwischen über 8 Milliarden € aus dem GFG erhält, macht sich eben nicht an den tatsächlichen Jahresabschlüssen, sondern an der fiktiven und normierten Finanzkraft der jeweiligen Kommune fest. Das heißt, fehlende Jahresabschlüsse einzelner Kommunen verändern nicht das Ergebnis des Gemeindefinanzierungsgesetzes. Insofern ist der Zusammenhang, Herr Nettelstroth, den Sie dargestellt haben, sachlich so nicht zutreffend.

Meine zweite Bemerkung richtet sich an Herrn Abruszat. Ich habe lange überlegt, welche Kurve Sie noch kriegen, um nach den sehr intensiven Beratungen zu diesem Antrag doch noch irgendeine Kritik zu formulieren. Sie führen die Neuberechnung im „Stärkungspakt Stadtfinanzen“ an.

(Kai Abruszat [FDP]: „Zahlensalat“ sagte ich!)

– Sie sagen „Zahlensalat“.

(Kai Abruszat [FDP]: Verunsicherung der kommunalen Familie!)

Ich mache den Kommunen nur bedingt einen Vorwurf, dass falsche Zahlen für die amtliche Statistik geliefert worden sind. Das hat nämlich ganz unterschiedliche Gründe. Ich glaube zum einen, dass Meldungen für die amtliche Statistik nicht mit der ausreichenden Sorgfalt vollzogen worden sind, weil sie fiskalisch uninteressant sind. Zum anderen hat es damit zu tun, dass die Umstellung auf NKF in vielen Kommunen sehr schwierig war.

Aber, Herr Abruszat, wenn Sie dieses Thema schon parteipolitisch aufbereiten,

(Kai Abruszat [FDP]: Nee, nee, nee!)

dann tue ich dies natürlich auch. Wenn Sie das als Zahlensalat bezeichnen, dann erinnere ich daran, dass die Grundlage für die Berechnung des jeweiligen Anteils im Stärkungspakt die amtliche Statistik war, die sich nachher nicht als vollständig richtig erwiesen hat,

(Kai Abruszat [FDP]: Aha!)

wie die jeweilige Kommune es gemeldet hat. Herr Abruszat, diese Statistik ist zwischen 2004 und 2008 erstellt worden.

(Kai Abruszat [FDP]: Aber Sie haben das zu verantworten, Herr Minister!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben als Landesregierung ein großes Interesse daran, der interessierten Öffentlichkeit, den Kommunen selbst, aber vor allem auch diesem Parlament wieder einen kommunalen Finanzbericht vorzulegen.

(Zuruf von der CDU: Wann?)

Denn der Haushaltsgesetzgeber hat natürlich ein Recht darauf, zu erfahren, wie die kommunale Finanzsituation ist und ob möglicherweise die Hilfen, die wir zur Verfügung gestellt haben, ausreichend sind oder nicht ausreichend sind. Aber genauso hat ein Haushaltsgesetzgeber den Anspruch darauf, dass dies auf einer einigermaßen gesicherten Datengrundlage geschieht. Und wenn einem erst 45 % der Jahresabschlüsse zur Verfügung stehen, kann dies kein vollständiges Bild abzeichnen.

Deshalb wiederhole ich es noch mal: Wir haben selbst ein Interesse daran, dass wir wieder einen kommunalen Finanzbericht einführen, den übrigens auch unsere Vorgängerregierung wegen der mangelnden Abschlüsse im NKF auch nicht hat einbringen können. Das müssten Sie, Herr Abruszat, eigentlich noch aus Ihrer Regierungszeit wissen. Wir haben also ein großes Interesse daran.

Ich vermute, dass wir mit den getroffenen Beschlüssen zum NKF, mit denen es den Kommunen ja inzwischen sehr viel leichter fällt, diese Jahresabschlüsse herzustellen, im Laufe des Jahres eine gesicherte Datenbasis erhalten werden, die bewertungsfähig ist, sodass ich hoffe, dass in absehbarer Zeit auf einer gesicherten Datengrundlage ein solcher kommunaler Finanzbericht wieder vollständig und aussagekräftig vorgelegt werden kann. – Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Herr Minister, ich möchte Sie darauf hinweisen, dass es den Wunsch nach einer Zwischenfrage von Herrn Abruszat gibt. Möchten Sie diese noch zulassen?

Ralf Jäger, Minister für Inneres und Kommunales: Aber gerne. Herr Abruszat, bitte sehr.

Kai Abruszat (FDP): Ganz herzlichen Dank, Herr Präsident und Herr Minister, dass Sie mir noch eine Zwischenfrage gestatten. Herr Minister Jäger, wie beurteilen Sie denn die aktuelle statistische Datengrundlage im Hinblick auf die Frage, wie mit dieser Datengrundlage bei der Verwendung von Geldern landesseitiger Förderprogramme in Richtung der kommunalen Familie umgegangen wird?

Ralf Jäger, Minister für Inneres und Kommunales: Ich habe gerade versucht, diese Frage intellektuell zu verstehen. Vermutlich möchten Sie wissen, ob Fördergelder einzelner Kommunen gerechterweise in diese Städte fließen, ohne dass entsprechende Jahresabschlüsse vorliegen.

Herr Abruszat, ich darf Ihnen sagen: Erstens. Diese Landesregierung achtet sehr darauf, dass es ein großes Maß an Verteilungsgerechtigkeit gibt. Das war – ich erinnere daran – in diesem Land nicht immer so.

(Beifall von der SPD)

Zweitens. Ich halte überhaupt nichts davon, die Kommunen ständig zu schelten, Herr Abruszat. Wir müssen ihnen helfen, damit sie in die Lage versetzt werden, solche Finanzberichte vernünftig aufzubereiten und darzulegen. Und das haben wir getan.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Minister. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Damit sind wir am Schluss der Beratung angelangt.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Kommunalpolitik empfiehlt in der Beschlussempfehlung Drucksache 16/1526, den Antrag der Fraktion der FDP Drucksache 16/1271 abzulehnen. Wer dieser Beschlussempfehlung folgen möchte, den bitte ich um sein Handzeichen. – Wer ist gegen diese Beschlussempfehlung? – Gibt es Enthaltungen? – Dann stelle ich fest, dass die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kommunalpolitik mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU, FDP und mehrheitlich der Piratenfraktion bei einer Enthaltung eines Mitglieds der Piratenfraktion angenommen worden ist.

Meine Damen und Herren, wir treten ein in den Tagesordnungspunkt

12       Gesetz über die Ablieferung von Pflichtexemplaren in Nordrhein-Westfalen (Pflichtexemplargesetz Nordrhein-Westfalen)

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 16/179

zweite Lesung

In Verbindung mit:

Gesetz zur Weitergeltung des Gesetzes über die Ablieferung von Pflichtexemplaren und ausführender Vorschriften (Pflichtexemplarweitergeltungsgesetz)

Gesetzentwurf
der Fraktion der CDU
Drucksache 16/1274


Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses
für Kultur und Medien
Drucksache 16/1915

zweite Lesung

Ich verweise auf die Unterrichtung der Präsidentin in Drucksache 16/1963, wonach die antragstellende Fraktion der CDU ihren Gesetzentwurf Drucksache 16/1274 zurückgezogen hat. Somit ist dieser nicht mehr Gegenstand der heutigen Debatte.

Ich eröffne die Beratung, indem ich für die SPD-Fraktion Herrn Kollegen Bialas das Wort erteile.

Andreas Bialas (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir sprechen heute – es freut mich, dass das Plenum bei diesem Thema so gut besetzt ist – über das lang ersehnte und sehnsüchtig erwartete Pflichtexemplargesetz.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Ohne Spaß: Es ist tatsächlich dringend nötig, dass wir es heute und damit schnellstmöglich verabschieden.

Der Hintergrund ist ganz einfach: Das Land Nordrhein-Westfalen hat sich eine Aufgabe gegeben. Diese lautet: Wir sammeln etwas, um dies zum kulturellen Erbe beizutragen. Das, was wir bisher gesammelt haben und was das bisherige Pflichtexemplargesetz umschlossen hat, waren Dinge in körperlicher Form: Bücher, Zeitschriften, also alles, was ausgedruckt vorlag.

Die Notwendigkeit für eine Neufassung des Gesetzes ergibt sich aus zwei Gründen:

Erstens. Das alte Gesetz ist zum 31. Dezember 2011 ausgelaufen. Es wurde vor 20 Jahren verabschiedet, die Gültigkeit später verlängert.

Der zweite Grund ist, dass wir heute nicht mehr nur Dinge in körperlicher Form sammeln, sondern auch Dinge in unkörperlicher Form, also das, was Ihnen allgemein als Online- oder Offlinemedium angeboten wird. Hierfür gelten schlicht und ergreifend andere rechtliche Bedingungen.

Es stellen sich Fragen wie: Welche Rechte kann ein Ablieferer übertragen? Oder: Welche Rechte hat die Bibliothek? Oder: Welche Nutzungsmöglichkeiten kann eine Bibliothek anbieten? Oder auch: Wie sehen Schutzmöglichkeiten aus, um die Rechte der Urheber zu schützen?

Diesem Spagat haben wir uns genähert. Auf der einen Seite tangieren wir Bundesrecht, das Urheberrecht. Auf der anderen Seite wollen wir unserer Sammelpflicht nachkommen und unsere Vorstellung vom Sammeln klar dokumentieren.

Insoweit handelt es sich um ein spannendes Thema, das wir heute zwar grundsätzlich abschließen, das uns aber in abgeänderter Form an der einen oder anderen Stelle noch weiter begleiten wird, wenn wir uns mit dem gesamten Katalog der folgenden Fragen beschäftigen: Welche Schritte müssen wir auf dem Weg ins digitale Zeitalter auch bei der Kultur gehen? Welche Rechte müssen wir in Zukunft mit berücksichtigen, um Kulturangebote zu bieten? Und wie müssen unsere Angebote beschaffen sein?

Der Entwurf eines Pflichtexemplargesetzes wurde seitens der Landesregierung eingebracht. Danach gab es einen weiteren Gesetzentwurf der CDU. Darüber hinaus wurde beschlossen, eine Anhörung durchzuführen. Es war eine hervorragende Anhörung auf einem intellektuell sehr hohen, aber auch unterhaltsamen Niveau. Dabei haben wir viele Anregungen für eine Änderung der Gesetzentwürfe bekommen.

Diese Abänderung war allerdings nicht nur ein Resultat der Anhörung, sondern auch ein Resultat der ihr folgenden Gespräche mit allen Fraktionen. Insoweit darf ich mich an dieser Stelle ganz herzlich bei allen Fraktionen bedanken, die nicht nur Anregungen gegeben haben und nicht nur kritisiert haben, sondern sich auch aktiv an der Gestaltung der Änderungen und damit an der Gestaltung des Gesetzes beteiligt haben. Auch wenn jetzt nicht alle mitgehen, darf ich mich dennoch bedanken – denn es gibt nun einmal die einen oder anderen Gründe, die es nicht allen ermöglicht haben, mitzugehen. Es sind aber auch die freiheitlichen Rechte einer jeden Fraktion, diesbezüglich zu bestimmen.

Noch einmal: Es hat viel Spaß gemacht. Es war keine Koalition der Einladung, sondern eine Koalition der Vernünftigen, die dieses Gesetz gleich auch verabschieden wird. – Ich darf mich sehr herzlich bedanken.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Ich danke Ihnen, Herr Kollege. – Ich erteile nun für die CDU-Fraktion Herrn Abgeordneten Prof. Sternberg das Wort.

Prof. Dr. Thomas Sternberg (CDU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Hier kann ich mich – das ist selten – tatsächlich dem, was mein Vorredner gesagt hat, weitestgehend anschließen.

Meine Damen und Herren, wir haben heute das Pflichtexemplargesetz wieder einmal auf der Tagesordnung stehen. Eigentlich ist das weiß Gott kein Thema, das eine parteipolitische Kontroverse hervorrufen könnte. Das Pflichtexemplargesetz gehört auch nicht zu den wichtigsten Gesetzen des Landtags. Wie Herr Bialas schon gesagt hat, wird allerdings durch die Digitalisate alles ein bisschen anders.

Der Gesetzentwurf, der hier mit Datum vom 4. Juli 2012 eingebracht wurde, war längst überfällig. Er war über ein halbes Jahr überfällig, hatte aber auch erhebliche Lücken. Wir haben damals darauf hingewiesen. Diese Änderungen waren so zunächst nicht umsetzbar. Dann haben wir einen eigenen Gesetzentwurf mit Datum vom 30. Oktober 2012 eingebracht.

Am 22. November 2012 fand das sehr gute Expertengespräch statt. Dieses Expertengespräch hat gezeigt, dass etwas zu erarbeiten ist. Nach den guten Beratungen im Kulturausschuss am 6. Dezember 2012 haben wir gemeinsam das erarbeitet, was heute hier vorliegt. Der Änderungsbedarf war offensichtlich, und dann wurde deutlich, dass Kulturpolitiker noch zusammenarbeiten können.

Die Änderungen gegenüber dem ursprünglichen Entwurf beziehen sich vor allem auf folgende Regelungen.

–   § 4 Abs. 6: Die Möglichkeit der Zugänglichmachung von Digitalisaten ist ein wichtiger Punkt. Die Erstfassung des Entwurfs sah nicht vor, dass man Digitalisate in den Bibliotheken, die sie sammeln, auch einsehen kann.

–   § 6: die Berichtspflicht.

–   § 9: eine Ermächtigung – ein unschönes Wort; aber immerhin – zum Erlass einer Rechtsverordnung. Durch Rechtsverordnung ist auch die Möglichkeit geschaffen, die etwas anzüglich klingenden Spiele, die nicht gesammelt werden sollten, wieder davon auszunehmen; denn Spiele sind für didaktische Bereiche durchaus wichtig. Spiele sind nicht nur Computerspiele zur Freizeitgestaltung, sondern haben mittlerweile auch andere Funktionen.

–   § 10, ganz wichtig: In dieser Übergangsregelung ist bestimmt, was mit den Verlagsproduktionen geschehen soll, die zwischen dem 1. Januar 2012 und dem 31. Dezember 2012 entstanden sind.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht jedes Gesetz, das die Regierung einbringt, muss den Landtag so verlassen, wie es eingebracht worden ist. Manchmal können die Parlamentarier auch vernünftige Änderungen vornehmen. Das haben wir hier getan. Auch ich danke allen Beteiligten, die diesen vernünftigen Weg mitgegangen sind. Ich glaube, dass wir uns jetzt auf ein gutes Gesetz verständigt haben. Damit haben wir die Sache vom Tisch. – Schönen Dank.

(Beifall von der CDU)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Abgeordneter. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erteile ich Herrn Kollegen Keymis das Wort.

Oliver Keymis (GRÜNE): Mein Gott, sind Sie groß, Herr Kollege. Dafür bin ich breit. So ist das Leben.

(Oliver Keymis [GRÜNE] fährt das Redepult herunter.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich mache es ganz kurz. Wir haben den Gesetzentwurf jetzt gemeinsam überarbeitet und eingebracht. Deshalb werden wir ihm heute auch mit einer breiten Mehrheit zustimmen. Ich möchte mich bei allen sehr herzlich für die kooperative Zusammenarbeit und das Miteinander an diesem Punkt bedanken.

Das Pflichtexemplargesetz ist sehr wichtig. Es ist etwas, was für die Zukunft eine ganze Menge regelt. Es ist aber auch etwas, was wir immer wieder im Blick haben müssen, und zwar mit Blick auf die technischen Entwicklungen, die uns natürlich immer neu herausfordern. Wir müssen uns auch darüber im Klaren sein, dass es in der Zukunft im Rahmen der weiteren Entwicklung immer mit weiteren Kosten verbunden sein wird. Da müssen wir realistisch und ehrlich sein. Das Ganze wird auch mehr Anforderungen für uns auf politischer Ebene bedeuten. Dem werden wir uns dann erneut stellen.

Jetzt haben wir aber einen guten Entwurf. Das sage ich auch mit Dank an die Verwaltung, die ihn vorbereitet hat. Ursprünglich war uns ja ein Regierungsentwurf vorgelegt worden. Das, was wir gemeinsam tun konnten, haben wir entsprechend verbessert. Dafür bedanke ich mich bei allen und hoffe, dass wir diesen weisen Beschluss gleich auch in der Breite fassen werden, in der wir uns das vorgenommen haben. – Danke schön.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Kollege Keymis. – Für die FDP-Fraktion spricht nun Frau Kollegin Schmitz zu uns.

Ingola Schmitz (FDP): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wer kennt es nicht, das schöne Bild, das zeigt, wie alle gemeinsam eifrig rudernd in einem Boot sitzen und ein gemeinsames Ziel ansteuern? Erweist sich das Wasserfahrzeug als sicher und das Ziel als erstrebenswert, werden sich auch alle Beteiligten sofort auf den Weg machen. Gerne wären wir ebenfalls in dieses Boot gestiegen, zumal das anzusteuernde Ziel längst hätte erreicht werden müssen. Aber das Boot scheint uns nicht bei jedem Wetter und Seegang standzuhalten.

Das Pflichtexemplargesetz – das steht außer Frage – dient einer umfassenden Dokumentation und einer möglichst vollständigen Archivierung der Veröffentlichungen in unserem Land. Das Verschriftlichen kulturellen Wirkens in Nordrhein-Westfalen ist von zentraler Bedeutung. Die Werke sind dadurch für die Allgemeinheit zugänglich, und die Schriften werden auch für nachfolgende Generationen erhalten. So leisten wir einen wichtigen Beitrag zur kulturellen Bildung.

Seit dem 31.12.2011, dem Ablauf des ursprünglichen Pflichtexemplargesetzes, warten wir auf eine Neufassung. Es besteht also seit über einem Jahr eine eklatante Regelungslücke. Das haben wir schon mehrfach gehört. Auch die Anhörung machte explizit deutlich, dass die Regelungslücke nicht spurlos an den Bibliotheken vorbeigegangen ist. Es ist wichtig und richtig, diese Lücke so rasch wie möglich zu schließen.

(Beifall von der FDP)

Wie sonst sollten die Bibliotheken auch ihrem Sammelauftrag wieder geregelt nachkommen?

Computer und Internet müssen in der neuen Regelung, die sich mit dem Sammelauftrag schriftlicher Werke befasst, verstärkt berücksichtigt werden. Dies war in der alten Version des Pflichtexemplargesetzes nicht der Fall. Von daher ist es gut und richtig, dass diese Aspekte bei den neuen Regelungen nun endlich eingebunden sind.

Die FDP wurde hinsichtlich des Änderungsantrages gefragt, ob sie nicht mit ins Boot steigen möchte. – Vielen Dank. Wir wären gerne mitgefahren, wäre da nicht eine recht dünne Bodenplanke, die unseres Erachtens einem kräftigeren Seegang nicht standhalten könnte.

Zum einen besagt die neue Regelung des § 3 Abs. 3 Satz 3, dass bei Medienwerken in unkörperlicher Form als Verleger gelte, wer das Werk erstmals öffentlich zugänglich mache. Darüber hinaus soll in § 4 Abs. 5 Satz 1 der Passus – ich zitiere – „räumt der Ablieferungspflichtige der Bibliothek das Recht ein,“ durch „erhält die Bibliothek das Recht,“ ersetzt werden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, durch die neuen Regelungen, insbesondere im Änderungsantrag, werden so möglicherweise die wahren Urhebereigenschaften unterlaufen. Insbesondere die unter Punkt 4 genannte Änderung legt weiterhin den Verdacht nahe, dass dadurch der Urheberschutz unterlaufen werden könnte, denn hier wird ein unwillkürlicher gesetzlicher Rechtsübergang festgeschrieben.

Die Bibliothek erwirbt ungeprüft ein Recht – unabhängig von der Frage, ob dem Abliefernden dieses Recht überhaupt zusteht. Dies wurde auch in dem Sachverständigengespräch kritisiert – zu der Zeit noch in Bezug auf die alte Formulierung. Die neue sprachliche Darstellung ändert unserer Ansicht nach nichts an dem Problem. Das kann nicht im Sinne eines effektiven Urheberschutzes sein – ganz im Gegenteil. Das Boot geht unter Umständen unter.

Insoweit halten wir den vorgelegten Gesetzentwurf nebst Änderungen zumindest an dieser Stelle für nicht ausgereift, und ein Zusteigen in das bereitgestellte Boot erscheint uns zum jetzigen Zeitpunkt zu gewagt –

(Beifall von der FDP)

gerade vor dem Hintergrund, dass eine gesetzliche Regelung ohne Frage so schnell wie möglich hergestellt werden muss. Wir haben nun die Sorge, dass sich dieses Gesetz durch die angesprochene Problematik vor den Gerichten, sollte es zu Urheberstreitigkeiten kommen – und die sind wahrscheinlich –, nicht halten kann und eine erneute, spontane Regelungslücke auftritt. Dies würde wiederum niemandem gerecht.

Uns wäre es daher lieber gewesen, wir hätten noch einmal gemeinsam überlegt, wie wir die dünne Planke ersetzen könnten. Das hätte vielleicht ein paar Tage länger gedauert, wäre aber in Anbetracht der zeitlichen Dimension der bereits bestehenden Regelungslücke und der Bedeutung einer juristisch haltbaren Lösung sicherlich zu verschmerzen gewesen.

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Frau Abgeordnete, kommen Sie langsam zum Schluss.

Ingola Schmitz (FDP): Herr Präsident.

Wir werden nun zusehen, wie sich das Boot auf See begibt, es aber nicht aus den Augen verlieren, damit im Falle des Kenterns alle aus dem kalten Wasser gezogen werden können. Die FDP-Landtagsfraktion spricht dem Gesetzentwurf in geänderter Form nicht gänzlich seine Qualität ab. Wir werden ihn – wie im Ausschuss auch – nicht generell ablehnen, sondern uns enthalten.

In diesem Sinne: Schiff ahoi! Wir halten die Rettungsmannschaft bereit.

(Beifall von der FDP)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Frau Abgeordnete, für diese maritime Rede. – Für die Piratenfraktion erteile ich jetzt Herrn Kollegen Schwerd das Wort.

Daniel Schwerd (PIRATEN): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren, real hier im Saal und virtuell im Netz! Gestatten Sie mir, dass ich auf nautische Metaphern verzichte, weil wir diese als Piraten oft genug gehört haben.

(Beifall von den PIRATEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Das Pflichtexemplargesetz sorgt dafür, dass jedes Medienwerk, das in NRW publiziert wird, von einer Landesbibliothek gesammelt und dauerhaft archiviert wird. Damit hat dieses Gesetz eine besondere Bedeutung für das kulturelle Gedächtnis unseres Landes. Jedes Buch, jedes Hörbuch, jeder Text, den jemand in NRW veröffentlicht, muss an die zuständige Landesbibliothek abgeliefert werden.

Mit der fortschreitenden Digitalisierung haben sich die Wege verändert, wie Texte veröffentlicht werden. Vieles davon passiert heute im Internet. Darauf war das alte Gesetz nicht vorbereitet. Es stammt aus einer Zeit, in der es noch keine digitalen Medien wie Webseiten, Blogs oder E-Books gab. Eine inhaltliche Aktualisierung des alten Pflichtexemplarrechts war also dringend nötig.

Fraktionsübergreifend haben wir das alte Gesetz im Kultur- und Medienausschuss überarbeitet und eine gemeinsame Lösung formuliert, die den Anforderungen des digitalen Zeitalters gerecht wird. Ich freue mich besonders, dass es möglich war, den Sachverstand der Piraten zu digitalen Medien und zum Urheberrecht einzubringen.

Bemerkenswert finde ich es, dass nun auch Spiele grundsätzlich als erhaltenswertes Kulturgut eingestuft sind und ebenfalls für die Nachwelt archiviert werden.

(Beifall von den PIRATEN)

Das trägt der immer stärkeren Bedeutung von Spielen als kulturellem Faktor in unserer Gesellschaft Rechnung. Ich bitte daher meine Fraktion, dem Gesetzentwurf zuzustimmen.

Auf einen Regelungsumstand des vorliegenden Gesetzes möchte ich noch zu sprechen kommen: Wie liefert man Webseiten an eine Bibliothek ab? Ausdrucken und Abheften ist keine Lösung. Hier hält man sich am Sinnvollsten an Industriestandards, die jetzt schon zur Archivierung von Webseiten eingesetzt werden. Das neue Gesetz ermöglicht es, dass Webseiten von der zuständigen Bibliothek ganz pragmatisch direkt per Crawler abgeholt werden können.

Wir möchten die Landesregierung bitten, ihre Regelungskompetenz für Detailfragen zu nutzen und die Crawler-Lösung in Absprache mit den Bibliotheken festzuschreiben. So können Webseitenbetreiber von der rechtlichen Ungewissheit, wie sie Webseiten abzuliefern haben, befreit werden.

Begrüßen würden wir es auch, wenn in der Verordnung festgelegt wird, dass Bibliotheken den Betreiber einer Webseite darüber informieren, wenn sie seine Webseite oder Teile daraus per Crawler einsammeln wollen.

Ich fände es schön, wenn uns solch eine konstruktive parteiübergreifende Zusammenarbeit wie beim Pflichtexemplargesetz auch bei anderen anstehenden Themen gelingen würde. Wie man sieht, funktioniert sachorientierte Politik durchaus, wenn man nur will. – Danke schön.

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Abgeordneter. – Für die Landesregierung erteile ich nun Frau Ministerin Schäfer das Wort.

Ute Schäfer, Ministerin für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Ich bin sehr froh, dass es in einer konzertierten Aktion von vier Fraktionen gelungen ist, den Regierungsentwurf auf der Grundlage der Expertenanhörung weiterzuentwickeln. Es ist schön, dass wir jetzt ein Pflichtexemplargesetz haben, das die Zustimmung so vieler Abgeordneter im Landtag von Nordrhein-Westfalen findet.

Dieser Gesetzentwurf ist eine gute Grundlage für unsere Universitäts? und Landesbibliotheken. Er bietet eine verlässliche, praktikable rechtliche Grundlage und stellt eine zeitgemäße Weiterentwicklung der nordrhein-westfälischen Pflichtexem­plargesetzgebung dar.

Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass in das Gesetz auch die Bestimmungen der bisherigen Durchführungsverordnung integriert werden sollen. Das ist ein Novum zu dem vorherigen Gesetz.

Abschließend möchte ich auch darauf hinweisen, dass es weiterhin eine Reihe offener Fragen geben wird, die aber vor allem in der Zuständigkeit des Bundes liegen und nicht von uns in Nordrhein-Westfalen gelöst werden können. Es sind die vielen Berührungspunkte – das ist schon gesagt worden – mit dem Urheberrecht, die es zum jetzigen Zeitpunkt schwer machen, in dem Kontext abschließende Formulierungen für die Ablieferung elektronischer Pflichtexemplare zu finden. Da werden wir weiter im Gespräch bleiben.

Ich möchte mich im Namen der Landesregierung noch einmal ganz herzlich für die konstruktive Zusammenarbeit bedanken. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD und den PIRATEN)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Frau Ministerin Schäfer. – Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Wir sind damit am Ende der Beratung zu diesem Tagesordnungspunkt angekommen.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Kultur und Medien empfiehlt in der Beschlussempfehlung Drucksache 16/1915, den Gesetzentwurf der Landesregierung Drucksache 16/179 in der Fassung seiner Beschlüsse anzunehmen. Wer der Beschlussempfehlung folgen möchte, den darf ich um das Handzeichen bitten. – Wer stimmt gegen die Beschlussempfehlung? – Wer enthält sich? – Damit stelle ich fest, dass die Beschlussempfehlung des Ausschusses mit den Stimmen von SPD, CDU, Bündnis 90/Die Grünen und Piratenfraktion bei Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen worden und der Gesetzentwurf in zweiter Lesung verabschiedet ist.

Wir treten ein in Tagesordnungspunkt

13       Gesetz zur Änderung des Altlastensanierungs- und Altlastenaufbereitungsverbandsgesetzes – AAVG – und zur Änderung wasserverbandlicher Vorschriften

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 16/1821

erste Lesung

Ich eröffne die Beratung und erteile zunächst für die Landesregierung Herrn Minister Remmel das Wort.

Johannes Remmel, Minister für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In Nordrhein-Westfalen sind ca. 80.000 altlastenverdächtige Flächen bekannt, eine gewaltige Zahl. Bisher ist nur die Hälfte davon näher erkundet. Einige konnten aus dem Verdacht ausgeschlossen werden, ca. 7.000 Flächen sind saniert. Das zeigt, welch große Aufgabe und welch vielfältige Möglichkeiten hier noch vorhanden sind.

Auf der einen Seite wurden mit der Sanierung Gesundheitsgefahren beseitigt und schädliche Stoffausträge in das Grundwasser unterbunden. Zum Teil ist auf den Flächen Neues entstanden: Arbeitsplätze oder auch Wohngebiete.

Auf der anderen Seite werden – das ist gerade in einem Flächenland wie dem unseren ein großes Problem; der Druck auf die Pachtpreise ist bei uns im bundesweiten Vergleich nach wie vor am höchsten – täglich ca. 10 bis 12 ha Frei? und Siedlungsfläche umgewidmet. Um sich das bildlich vorzustellen: Täglich gehen Flächen, die ca. 15 Sportplätzen entsprechen, verloren. In erheblichem Umfang handelt es sich um landwirtschaftliche Flächen, die wir vielfältig brauchen: für unsere Ernährung, teilweise auch für die Produktion von Energie. Wenn wir mehr ökologische Landwirtschaft wollen, brauchen wir auch mehr Fläche. Auch Artenschutz findet in der Fläche statt. Räume, die wir für Tiere und Pflanzen einschränken, sind dann nicht mehr vorhanden.

Die Landesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, den Flächenverbrauch mittelfristig auf 5 ha zu reduzieren. Dazu gehört, dass man mit den Flächen, die schon benutzt worden sind, pfleglich umgeht oder sie wieder nutzbar macht. Das Flächenrecycling spielt also eine entscheidende Rolle bei dieser Politik. Brachflächen müssen für neue Nutzungen aufbereitet und durch Entsiegelung der Natur zurückgegeben werden.

Es können aber nur solche Flächen wieder genutzt werden, auf denen die Schäden der Vergangenheit weitestgehend beseitigt sind. In der Vergangenheit der letzten 20 Jahre hat der AAV, der Altlastensanierungsverband, in Kooperation von öffentlicher Hand, dem Land und den Kommunen, mit der privaten Wirtschaft erfolgreich funktioniert. Die Sanierungsprojekte des AAV sind im Land bekannt, gefragt, und die Arbeit ist unumstritten.

Der Hauptansatzpunkt liegt vor allem in der Abwehr von Gesundheitsgefahren. Es geht nicht darum, neue Flächen auf der grünen Wiese zu produzieren, sondern da, wo besondere Gefährdungen sind, möglichst zügig zu Sanierungen zu kommen.

(Beifall von Hans Christian Markert [GRÜNE])

Aber der AAV leidet an einem Dauerproblem, seiner mangelnden Finanzausstattung. Wir hatten 1995 im Landtag ein Instrument zur ordentlich Ausstattung des AAV mit seinerzeit gut 50 Millionen DM. Das sogenannte Lizenzmodell ist aber vom Verfassungsgericht kassiert worden, weil es verfassungsrechtlich nicht haltbar ist.

(Unruhe)

Damit sind wir auf freiwillige Kooperationen mit der Wirtschaft angewiesen. Die Beträge, die die Wirtschaft zur Verfügung gestellt hat, sind von Kooperationsvereinbarung zu Kooperationsvereinbarung geringer geworden. Zum Schluss sind noch nicht einmal die zugesagten zwei Millionen, die mein sehr verehrter Vorgänger vereinbart hat, jährlich gezahlt worden. Die Beträge sind deutlich darunter gewesen.

Insofern war und ist es Aufgabe, die wichtige Funktion des AAV auf eine neue finanzielle Grundlage zu stellen. Das wird mit der Kooperationsvereinbarung, die jetzt abgeschlossen ist, einerseits und andererseits mit der gesetzlichen Grundlage gewährleistet.

Kooperationsvereinbarung und gesetzliche Finanzierung sind zu entkoppeln. Das Land steigt mit einer gesetzlich zugesagten Finanzierung ein, die – wie hier beschlossen – auch über das Wasserentnahmeentgelt erfolgt. Diese Konstruktion sichert, dass die wichtige Aufgabe der Altlastensanierung zukünftig auf einem für uns niedrigem, aber notwendigem Niveau weitergeführt werden kann. Aufgabe des neuen AAV auf dieser Grundlage wäre allerdings, die Finanzierungsmöglichkeiten auch durch Beteiligung der Wirtschaft zukünftig zu erweitern.

Darüber hinaus soll das Angebot erweitert werden, um zukünftig eine Risikoabsicherung von Unternehmen, die sich auf solchen Flächen wieder ansiedeln, zu übernehmen, damit wir einen stärkeren Zug zur Nutzung der Altlastenflächen bekommen.

(Beifall von Hans Christian Markert [GRÜNE])

Meine sehr verehrten Damen und Herren, dies ist das Ergebnis langer Gespräche mit den Kommunen und den kommunalen Spitzenverbänden, denen ich dankbar dafür bin, tatkräftig mitgeholfen zu haben, mit den beteiligten Ressorts der Landesregierung und auch mit der Wirtschaft. Ich bitte um gute und zügige Beratung sowie entsprechende Unterstützung. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Minister Remmel. – Herr Minister Remmel hat die vereinbarte Redezeit um 50 Sekunden überzogen. Diese 50 Sekunden stehen den Rednerinnen und Rednern der einzelnen Fraktionen selbstverständlich auch zur Verfügung. – Nach diesem Hinweis darf ich nun Herrn Kollegen Wirtz von der CDU als nächstem Redner das Wort erteilen.

Josef Wirtz (CDU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der von der Landesregierung vorgelegte Gesetzentwurf zur Änderung des AAVG ist sinnvoll. Das muss betont werden. Denn bei dieser Regierung ist das leider keine Selbstverständlichkeit. Das haben wir heute Morgen bei der Verabschiedung des Klimaschutzgesetzes erlebt.

(Beifall von der CDU)

Bei der Änderung des AAVG verhält sich dies allerdings anders: Der Gesetzentwurf berührt wichtige Probleme des Umgangs mit überwiegend industriellen Hinterlassenschaften, von denen durchaus eine Umweltgefährdung ausgehen kann. Denn gerade Nordrhein-Westfalen als das industrielle Herz der Bundesrepublik war über viele Jahrzehnte hinweg der Schrittmacher für Wachstum und Wohlstand in Deutschland.

Wichtige Industriezweige, die auf dem Kohlestandort wuchsen, aber auch viele mittelständische Unternehmungen, die es heute häufig nicht mehr gibt, haben allerdings ihre Spuren hinterlassen. Herr Minister, Sie erwähnten es bereits: Vor nunmehr 20 Jahren haben sich deswegen Kommunen mit verantwortungsvollen Unternehmen und dem Land zu diesem Verband zusammengeschlossen. Sie wollten den Altlasten dort begegnen, wo kein Verantwortlicher zur Beseitigung herangezogen werden konnte.

Davon, meine Damen und Herren, haben wir bis heute alle profitiert. In meinem Heimatkreis Düren kann ich von einer ehemaligen Industriewäscherei berichten, die gemäß AAV mit dem Ziel saniert wird, die Grundwasserverunreinigungen zu beseitigen. Im Rahmen seiner langjährigen Projekt- und Sanierungserfahrung ist der Verband auch ein technologischer Schrittmacher für moderne und technologisch anspruchsvolle Sanierungsmethoden geworden.

Es besteht kein Zweifel daran, dass der AAV zu einem Innovationsträger geworden ist, der sich verschiedenster Methoden bedient, um Altlasten schnell zu beseitigen. Im Normalfall wäre hierfür ein langjähriger, kaum überschaubarer Zeitraum nötig. Ich darf diesem Verband im Namen meiner Fraktion für seine Arbeit meine Anerkennung ausdrücken.

(Beifall von der CDU)

Meine Damen und Herren, unzweifelhaft ist auch, dass es im Bereich der Altlastensanierung und beim Grundwasserschutz weiteren Forschungs- und Handlungsbedarf gibt. Diesen gilt es auch finanziell abzusichern.

Entgegen der Vorgehensweise der jetzigen Landesregierung hatte die CDU/FDP-geführte Landesregierung 2008 eine Finanzierung des AAV aus Mitteln des Wasserentnahmeentgelts eingeführt. Das Land hat auf diese Weise jährlich 3 Millionen € zusätzlich zur Verfügung gestellt. Die der Änderung des AAVG zugrunde liegende Kooperationsvereinbarung führte dazu, dass der Verband ausdrücklich für die Entwicklung und Erprobung neuer Technologien zur Sanierung von Altlasten ertüchtigt wurde.

Meine Damen und Herren, wir haben das bei einer gleichzeitigen Absenkung des Wasserentnahmeentgelts in Stufen bis 2018 möglich gemacht. Ferner gab es eine Beitragsentlastung der Mitgliedsunternehmen, die sich damals – wir erinnern uns – in einer durch die Wirtschaftskrise verursachten wirtschaftlich schwierigen Lage befanden.

Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, sind andere Wege gegangen. Leider haben Sie den damals eingeschlagenen Weg wieder verlassen. Bereits im vergangenen Jahr haben Sie beim Wasserentnahmeentgelt die bewährte Regelung rückgängig gemacht.

Damit aber nicht genug: Heute schlagen Sie durch die deutliche Erhöhung des Wasserentnahmeentgelts, die zulasten der Wirtschaft in Nordrhein-Westfalen geht, wieder zu. Das können und werden wir nicht hinnehmen.

Meine Damen und Herren, ich erinnere mich noch gut an die Stellungnahmen der Betroffenen zu dieser Erhöhung. Unisono wurde damals bereits angeführt, dass die Arbeit des AAV unbedingt fortgeführt werden sollte.

Damals forderte unternehmer nrw, es müsse eine Verrechnungslösung geben, ähnlich wie das bei Kooperationen mit den Wasserversorgern und der Landwirtschaft geschieht. Genau das machen Sie nicht. Die von Ihnen geschlossene Kooperationsvereinbarung ist keine Entlastung für die Unternehmen, meine Damen und Herren.

(Beifall von der CDU)

Im Gegenteil: Es ist eine Belastung nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern sie schwächt auch die Attraktivität dieses Verbandes. Denn Sie steigern auf Grundlage des Gesetzentwurfs das Stimmrecht der Landesregierung. Warum das für einen Beitritt, den wir eigentlich wollen, von neuen freiwilligen Mitgliedern aus der Wirtschaft reizvoll sein soll, entzieht sich unserer Kenntnis.

Das müsste verändert werden. Deshalb freuen wir uns schon auf die Beratungen in den vorgesehenen Ausschüssen, die sicherlich in dieser Frage spannend werden. – Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Abgeordneter. – Für die SPD-Fraktion erteile ich nun Herrn Kollegen Sundermann das Wort.

Frank Sundermann (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zur fortgeschrittenen Stunde auch von mir einige Ausführungen zum AAV. Ich glaube, es herrscht Konsens in diesem Hause, dass der AAV in über 20 Jahren bewiesen hat, dass er ein Erfolgsmodell für Nordrhein-Westfalen ist. Er hat sich als Kompetenz- und Beratungszentrum in der Praxis bei allen Beteiligten etabliert: beim Land, den Kommunen und bei der Wirtschaft.

(Vorsitz: Vizepräsident Daniel Düngel)

Er hat erfolgreich – das hat der Minister auch schon ausgeführt – Sanierungsmaßnahmen im ganzen Land durchgeführt. Die Probleme in der Vergangenheit waren gerade in den letzten Jahren die befristeten Kooperationsvereinbarungen zur Finanzierung, sodass die finanzielle Ausgestaltung zum Teil problematisch wurde. Leider hat an dieser Stelle – auch das wurde hier schon ausgeführt – die Wirtschaft eine etwas leidliche Rolle gespielt, was wir bedauern.

Auch vor diesem Hintergrund, meine Damen und Herren, ist es sicherlich notwendig, dieses Gesetz anzupassen. Die finanzielle Basis des AAV muss verstetigt werden. Die Finanzierung muss langfristig gewährleistet werden, sodass die Erfüllung der Aufgaben, die wir alle unterstützen, auch langfristig gesichert ist.

Wir begrüßen ausdrücklich, dass die Zahlungsverpflichtungen des Landes nun erstmalig im Gesetz und nicht in einer Kooperationsvereinbarung festgeschrieben sind. Ebenfalls ist der Beitrag der Kommunen festgeschrieben.

Weiterhin ist aus unserer Sicht sehr wichtig, dass sich der AAV zukünftig über die klassischen Abfallindustrie- und Entsorgungsunternehmen hinaus an andere Wirtschaftsbereiche wie Handel, Handwerk und Logistik wendet und sie ausdrücklich einlädt, Mitglied in diesem Ausschuss zu werden.

Wir finden es im Übrigen gut, dass Stimmrechte auch über die Mitgliedschaft und die diesbezügliche Zahlung an den Verband geregelt werden. Das folgt dem marktwirtschaftlichen Prinzip. Das sollte vielleicht auch die IHK ein Stück weit akzeptieren.

Wie gesagt: Wir begrüßen die langfristige Absicherung des AAV und die Verbreiterung der Mitgliedschaft.

Gestatten Sie mir einen kurzen Blick auf die zukünftige Organisation des AAV. Zentrale Aufgabe wird die Sanierung von Altlasten und schädlichen Bodenveränderungen bleiben. Die Aufgabenerweiterung findet sich im neuen Namen wieder. Die Intensivierung des Flächenrecyclings bewerten wir ausdrücklich positiv. Denn wir bekommen hier ein Instrument zur Realisierung des wichtigen Zieles – der Minister hat es gesagt – der Reduzierung des Flächenverbrauchs.

Hierzu ist im Gesetz ein Instrument implementiert, nämlich die Einführung des Altlastenrisikofonds. Basierend auf einer Beratung des AAV wird das Investitionsrisiko des zukünftigen Investors festgestellt und dessen Absicherung gewährleistet. Wir erhoffen uns hierdurch eine deutlich erhöhte Nutzung von bereits sanierten Flächen und somit eine Beschleunigung des Flächenrecyclings.

Dieses Projekt des Altlastenrisikofonds ist einmalig in Deutschland. Wir erhoffen uns hiervon, dass wir Modellprojekt für andere Bundesländer werden. Darüber hinaus sehen wir den gesamten AAV als Blaupause für andere Bundesländer.

Wir unterstützen vor diesem Hintergrund das im Gesetz und in der Kooperationsvereinbarung beschriebene Paket aus finanzieller Absicherung und Aufgabenerweiterung. – Vielen Dank, Glück auf.

(Beifall von der SPD – Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsident Daniel Düngel: Vielen Dank, Herr Abgeordneter. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Markert.

Hans Christian Markert (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer auf den Rängen! „Wir haben die Welt von unseren Kindern nur geborgt“, so lautete eines der ersten und prägendsten Wahlkampfplakate der Grünen vor ungefähr 30 Jahren. Dies ist aus unserer Sicht der Ansatz für unsere Ideen zum Schutz der natürlichen Güter. Dies ist die Grundlage der Verantwortung für die nächsten Generationen.

Dies ist auch der Blickwinkel, mit dem wir Gesetze – auch das vorliegende Änderungsgesetz zur Altlastensanierung und Altlastenaufbereitung – betrachten. Sünden der Vergangenheit werden in den Böden gespeichert – oft jahrzehntelang.

Wer erinnert sich nicht daran, wie früher auf dem Lande Baugruben genutzt wurden, indem man mit der Schubkarre alles dorthin brachte, was die Müllabfuhr nicht mitnehmen sollte oder wollte. Ich erinnere auch an die vielen Tankstellen im Land.

Minister Remmel hat eben davon gesprochen, dass wir 80.000 erfasste Altlasten haben, wobei erst 7.000 davon bis jetzt saniert werden konnten. Die Liste der großen Altlastengebiete und der Altlastenstellen im Land ist noch lang. Es gibt da sehr viel zu tun.

Unsere Böden sind sozusagen die Geschichtsbücher unserer wirtschaftlichen Betätigung und unserer Lebenskultur. Apropos Lebenskultur: Der eine oder andere von Ihnen liest gelegentlich vielleicht Bücher. Da gibt es einen Autor von interessanten Sachbüchern zu dem Thema, nämlich David Montgomery. Der hat das Buch „Dreck“ geschrieben. Er zeigt darin auf, welchen fundamentalen Einfluss der Umgang des Menschen mit dem fruchtbaren Erdboden auf die Zukunft unserer Zivilisation hat. Er macht klar, warum wir den Boden nicht wie den letzten Dreck behandeln sollen.

Der Zustand der Böden ist weltweit besorgniserregend. Die Ursachen sind Erosion, der Verlust an organischer Bodensubstanz und viel zu hohe Schadstoffeinträge sowie – der Minister hat es angesprochen – der weiter exorbitant hohe Flächenverbrauch durch Siedlungs-, Gewerbe- und Verkehrsprojekte, die zur Schädigung und zur Versiegelung unserer Böden führen. Auch unsere Ernährung, die Ernährung der Menschen, basiert auf fruchtbaren Böden.

Wir haben heute Morgen das Klimaschutzgesetz verabschiedet. Mit seiner Fähigkeit zur Speicherung von Kohlendioxid leistet der Boden einen unersetzlichen Beitrag zum Klimaschutz.

Meine Damen und Herren, deswegen ist es so wichtig, eine Anschlussregelung für das AAV-Gesetz zu finden. In einem Land wie dem unsrigen mit einer großen industriellen Geschichte ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass derjenige, der den Boden nutzt, auch die Verantwortung für seinen Schutz hat.

(Beifall von den GRÜNEN)

Es geht wie so oft um einen fairen Ausgleich von Nutz- und Schutzinteressen.

Darum appellieren wir als Grüne auch an die Wirtschaft, sich dieser Verantwortung zu stellen und die Chancen und die Möglichkeiten, die sich aus dem neuen AAV-Gesetz ergeben, sich nämlich finanziell dieser Verantwortung zu stellen, zu nutzen.

In diesem Sinne freuen wir uns auf gute und sachliche Beratungen im Ausschuss und werden der Überweisung in denselben gern zustimmen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsident Daniel Düngel: Vielen Dank, Herr Kollege Markert. – Für die FDP-Fraktion hören Sie nun Herrn Kollegen Höne.

Henning Höne (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Altlastensanierungs- und Altlastenaufbereitungsverband, kurz AAV, ist seit 1989 ein partnerschaftlich zusammenarbeitender Verband aus Wirtschaft, Kommunen und Land. Die gleichberechtigte partnerschaftliche Zusammenarbeit dieser drei Akteure dürfen wir unserer Meinung nach nicht aufs Spiel setzen. Die gleiche Augenhöhe muss unbedingt gewahrt bleiben.

Wenn ich mir aber den vorgelegten Entwurf anschaue, habe ich starke Zweifel, dass es wirklich bei dieser Augenhöhe bleibt. Der Verband berät seine Mitglieder bei Fragen zu Altlasten, zu schädlichen Bodenveränderungen und ist Träger auch der Clearingstelle für Streitfälle zwischen Wirtschaft und Verwaltung. Diese Arbeit – das ist eben wohl auch bei allen Vorrednern angeklungen – hat sich seit nunmehr über 20 Jahren bewährt. Weil sie sich bewährt hat, muss sie eben auch mit Bedacht fortentwickelt werden.

Ich will hier durchaus positiv anerkennen, dass der AAV die Möglichkeit erhalten soll, zum Beispiel von potenziellen Investoren befürchtete Altlastenrestrisiken auf Sanierungsflächen begrenzt auffangen zu können. Das ist richtig. So lässt sich nämlich die Investitionsbereitschaft erhöhen, und der Flächenverbrauch kann reduziert werden, ein Ziel, bei dem wir uns, glaube ich, vom Prinzip her einig sind. Durch diese Maßnahme können nämlich zuerst alte Flächen saniert werden, bevor neue Flächen versiegelt und umgenutzt werden.

Sehr geehrte Damen und Herren, Sie möchten den AAV in ein Kompetenzzentrum Umwelt umwandeln. Das klingt vom Prinzip her erst einmal gut. Die Wirtschaft soll adäquat – so heißt es – an der Finanzierung des Kompetenzzentrums beteiligt werden. Die Finanzierung soll dabei gleichzeitig freiwillig erfolgen.

Ich will vorweg festhalten: Es ist grundsätzlich richtig, die Wirtschaft an der Finanzierung zu beteiligen, auch freiwillig. Ich sage auch, dass es sicherlich die eine oder andere Stelle gegeben hätte, wo ein bisschen mehr freiwilliges Engagement nicht schlecht gewesen wäre. Sie beteiligen aber die Wirtschaft schon unfreiwillig an der Finanzierung, nämlich durch das Wasserentnahmeentgelt. Darüber haben wir noch vor Kurzem diskutiert.

Sie wollen jetzt motivieren, mehr freiwillig zu tun, und gleichzeitig soll mehr unfreiwillig getan werden. Sie greifen mit dem Wasserentnahmeentgelt in die linke Tasche und ziehen dort etwas heraus und erwarten, dass aus der rechten Tasche noch etwas freiwillig in den Klingelbeutel hinterhergeworfen wird. Ich frage mich, wie das zusammenpasst.

Wie passt der Wunsch nach mehr Freiwilligkeit damit zusammen, dass Sie gleichzeitig die Mitwirkungsrechte der Wirtschaft und der Wirtschaftsverbände einschränken möchten? Dazu nenne ich das Stichwort „Sitzverhältnis der Wirtschaft“, das sich auch im Vorstand verschlechtern soll. An dieser Stelle wird die Sperrminorität aufgehoben, und zwar auch für die Kommunen.

Die Industrie- und Handelskammern haben sich dazu schon zu Wort gemeldet und auf den drohenden Verlust ihrer Beteiligungsrechte hingewiesen – wie wir meinen: völlig zu Recht. So sieht der Entwurf zum Beispiel vor, dass die IHKs zwar eingeladen werden, aber kein Rederecht bekommen sollen. Sie sollen stumme Zuhörer in der zweiten Reihe sein.

Sie sehen an diesen Beispielen, dass man hierüber noch sorgfältig diskutieren muss, um das Richtige für die Fortentwicklung zu tun. Die zuvor genannten Aspekte wollen wir darum noch im Ausschuss debattieren. Die FDP-Fraktion wird sich auf jeden Fall im weiteren Verlauf dafür stark machen, dass die Augenhöhe aller Akteure wirklich erhalten bleibt. Ohne diese Augenhöhe werden wir die Arbeit niemals erfolgreich fortsetzen können. Dann werden wir auch niemals erfolgreich auf mehr Freiwilligkeit setzen können. Das müsste aber doch eigentlich das gemeinsame Ziel sein.

Der Überweisung in den Ausschuss stimmen wir natürlich zu. Wir freuen uns auf die weiteren Beratungen.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsident Daniel Düngel: Vielen Dank, Herr Höne. – Für die Piratenfraktion spricht jetzt der Kollege Rohwedder.

Hanns-Jörg Rohwedder (PIRATEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße auch nochmals alle Zuschauer.

Ich hoffe, ich bin jetzt besser zu verstehen. Ich habe zu meiner ersten Rede heute Vormittag die Rückmeldung bekommen, dass ich schlecht zu verstehen war.

(Christian Lindner [FDP]: Das liegt an der Anlage!)

– Das liegt an der Anlage. Okay.

Der Flächenverbrauch und das Flächenmanagement sind wichtige Fragen gerade in dem dichtbesiedelten Nordrhein-Westfalen. Das wissen wir, und das wurde auch von den Vorrednern bereits erwähnt. Eine Antwort ist das Flächenrecycling. In NRW haben wir durch lange und flächendeckende vielfältige industrielle Aktivitäten und Deponienutzungen viele belastete Flächen, die ohne Sanierung unbrauchbar sind. Es ist eine gemeinsame Aufgabe des Landes, der Wirtschaft und der Kommunen.

Mit den drei Kooperationsvereinbarungen in den letzten Jahren ist eine gute Zusammenarbeit zwischen privater Wirtschaft und öffentlicher Hand entstanden. Dabei sind ein effektives Flächenrecycling und eine Altlastensanierung auf- und ausgebaut worden.

Zu den Aufgaben des AAV gehören die Sanierung von Boden und Grundwasser bei Altstandorten und Altdeponien sowie die Beratung der Mitglieder in Fragen der Altlastensanierung und des Flächenrecyclings. Außerdem ist der AAV der Träger der Clearingstelle, die den Dialog mit Wirtschaft und Umwelt herstellt sowie neue Sanierungstechnologien und innovative Sanierungsverfahren entwickelt und erprobt.

Im Oktober 2012 wurde dann eine neue Kooperationsvereinbarung ohne Finanzierungsgrundlage getroffen.

Mit der Änderung des Altlastensanierungs- und Altlastenaufbereitungsverbandsgesetzes wird nun eine Finanzierung dieses AAV gesetzlich festgeschrieben, und das begrüßen wir.

Wir begrüßen auch, dass als neue Aufgabe der Boden- und Wasserschutz in das Gesetz aufgenommen wird und die Amtszeiten der Delegierten und Vorstandsmitglieder von drei auf fünf Jahre erhöht worden sind bzw. erhöht werden sollen, was der Kontinuität dient. Auch das begrüßen wir.

Diese drei vorgeschlagenen Änderungen halten wir für sinnvoll und auch für geeignet, die notwendigen Ziele zu erreichen. Wir werden den weiteren Prozess in den Ausschüssen kritisch-wohlwollend und als konstruktive Opposition begleiten. – Vielen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Daniel Düngel: Vielen Dank, Herr Kollege Rohwedder. – Herr Minister Remmel möchte noch reden. Bitte schön.

Johannes Remmel, Minister für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich musste mich noch einmal zu Wort melden, weil ich den Eindruck hatte, dass Sie, Herr Höne und Herr Wirtz, in Ihren beiden Wortbeiträgen die Prinzipien, die bisher allgemein Konsens waren, vonseiten der Opposition ein Stück aufkündigen oder auf den Kopf stellen.

Wir haben darüber nicht geredet, aber man muss offensichtlich immer wieder darüber reden: Wenn es um Umweltschäden geht, dann gilt in erster Linie das Verursacherprinzip,

(Beifall von den GRÜNEN und Christian Lindner [FDP])

das heißt: Diejenigen, die den Umweltschaden verursacht haben, müssen auch für seine Beseitigung aufkommen.

(Zuruf von Henning Höne [FDP])

– Ja, auf die Frage haben Sie keine Antwort gegeben.

Nun haben wir bei den Altlasten das Problem, dass die Verursacher oft nicht mehr zu finden sind bzw. sich ihrer Verursachereigenschaft entzogen haben, indem sie entweder den Firmensitz verändert haben, pleitegegangen sind oder durch irgendwelche Firmenkonstellationen – Inhouse-Konstruktionen –nicht mehr in Haftung zu nehmen sind.

Sie müssen die Frage beantworten, wie Sie die Haftung herstellen wollen, ohne dass die Gesamtgesellschaft, der Gesamtstaat und damit alle dafür haftbar gemacht werden. Ich finde, deshalb gibt es hier eine kollektive Mitverantwortung der Wirtschaft für Schäden, die Industrie und Wirtschaft hinterlassen. Das war ursprünglich im Lizenzentgelt geregelt und ist dann auf freiwillige Basis gestellt worden.

Und Sie müssen schon beantworten, warum die Wirtschaft ursprünglich mal 10 Millionen € pro Jahr gezahlt hat, dann nur noch 5 Millionen €, und zum Schluss waren es nur noch 2 Millionen €, die noch nicht einmal gezahlt worden sind.

Immer wieder haben alle Vorgänger – Frau Höhn, Herr Uhlenberg – die Wirtschaft auf Knien gebeten, sich doch bitte an dieser wichtigen Aufgabe zu beteiligen. Aber wenn die Zusagen nicht kommen, muss man am Ende des Tages schon feststellen, welche Konsequenzen das dann hat. Ich bin zu jedem Zeitpunkt für gleiche Augenhöhe, aber dann bitte auch die finanziellen Beiträge liefern.

(Beifall von den GRÜNEN)

Jetzt haben wir es etwas umgestellt. Ich sage es ganz offen: Wir gehen mit öffentlichen Geldern, mit Geldern, die wir über das Wasserentnahmeentgelt einnehmen, in Vorleistung. Wir führen im Übrigen das fort, was mit den Geldern aus der Abwasserabgabe eingeführt worden ist. Ich bitte, sich auch da richtig zu orientieren: Gelder aus der Abwasserabgabe müssen gruppennützig verwandt werden.

Wir gehen also ein Stück voran und laden die Wirtschaft ein, hier ihre Beiträge zukünftig zu zahlen. Dann werden auch die Stimmenanteile entsprechend angehoben werden können. So einfach ist das Prinzip.

Vizepräsident Daniel Düngel: Herr Minister, würden Sie noch eine Zwischenfrage vom Kollegen Wirtz zulassen?

Johannes Remmel, Minister für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz: Sehr gerne.

Vizepräsident Daniel Düngel: Bitte, Herr Wirtz.

Josef Wirtz (CDU): Herr Minister, vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie sprachen eben davon, dass man die Wirtschaft in die Verantwortung nehmen muss, was diese Frage betrifft. Sie erwähnten auch, dass es heute eine ganze Reihe von Firmen, die das Ganze verursacht haben, nicht mehr gibt. Sie sprachen dann von einer kollektiven Mitverantwortung der gesamten Wirtschaft.

Welche rechtliche Grundlage haben Sie, um diese kollektive Mitverantwortung einzufordern?

Johannes Remmel, Minister für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz: Es gibt keine rechtliche Grundlage, es gibt nur eine moralische Grundlage.

Ich würde mir wünschen, wir hätten im Bundesrecht eine solche kollektive Mitverantwortung verankert. Das müsste jedoch im Abfallrecht geschehen. Bisher gibt es das nicht.

Die chemische Industrie ist da im Übrigen vorbildhaft. Wir haben mit der chemischen Industrie kein Problem, weil die diese kollektive Verantwortung sehen. Seit über hundert Jahren sind sie am Standort, und sie wissen auch, dass sie in der Vergangenheit Böden verunreinigt haben, und übernehmen diese Verantwortung.

Andere übernehmen die Verantwortung aber nicht. Deshalb müssen wir darüber diskutieren, dass das Verursacherprinzip auch kollektiv gilt. Deswegen wünsche ich mir auch Ihre Unterstützung, wenn es darum geht, an die Wirtschaft, an die Industrie zu appellieren, ihre Beiträge in den AAV zu zahlen. Dann bekommen wir das mit den Stimmrechten ganz schnell hin. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und Eckhard Uhlenberg [CDU])

Vizepräsident Daniel Düngel: Vielen Dank, Herr Minister Remmel. – Ich darf Sie dann darüber in Kenntnis setzen, dass die Landesregierung insgesamt die Redezeit um 3:58 Minuten überzogen hat, die natürlich auch Ihnen als Fraktionen zur Verfügung stehen.

Herr Kollege Höne hat sich bereits zu Wort gemeldet und möchte reagieren. – Herr Höne, Sie haben das Wort.

(Zuruf: Er hat sowieso noch eine Minute!)

Henning Höne (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Remmel, ein bisschen Zeit bleibt mir noch. Darum will ich direkt reagieren.

Zunächst ist mir eines aufgestoßen: Sie möchten, dass das Verursacherprinzip kollektiv gilt. So haben Sie das gerade gesagt. Ich sehe da einen Widerspruch in sich.

(Christof Rasche [FDP]: Grenzenlos!)

Entweder wir wenden das Verursacherprinzip an oder alle müssen es kollektiv machen. Aber das Verursacherprinzip kollektiv aufzubauen, das passt so nicht zusammen.

(Beifall von der FDP – Zuruf von Minister Johannes Remmel)

– Herr Minister, ich habe Ihnen gerade auch ruhig zugehört.

(Minister Johannes Remmel: Ich muss doch darauf antworten!)

Wir wissen durchaus, um welche Flächen es geht. Natürlich geht es um die Flächen, bei denen kein Verursacher mehr festzustellen ist. Das ist richtig.

(Zuruf von Minister Johannes Remmel)

Sie haben da gerade ein Stück weit einen Dissens aufgebaut, den es gar nicht gibt. Darum will ich das an dieser Stelle noch einmal deutlich machen: Natürlich sind wir der Meinung, dass bei den Altlasten etwas passieren muss. Ich habe im Übrigen, Herr Minister, sehr ausdrücklich gesagt, dass wir uns auf mehr Freiwilligkeit freuen und es auch hier und da wünschenswert gewesen wäre, wenn es in der Vergangenheit schon mehr Freiwilligkeit gegeben hätte. Beides habe ich eben gesagt. Sie taten gerade so, als hätten wir all das abgestritten.

Genau hier ist der Dissens, Herr Minister: Mit Speck fängt man Mäuse. Sie können nicht auf der einen Seite sagen: „Hier passiert nichts, wir wollen mehr Freiwilligkeit“ und gleichzeitig auf der anderen Seite verkünden: „Aber weil das bislang nicht der Fall war, hauen wir jetzt drauf, drücken die Leute aus den Gremien heraus und holen aus der einen Tasche mit dem Wasserentnahmeentgelt noch etwas mehr raus. Entweder es bleibt bei der Augenhöhe und man versucht, im Dialog auf mehr Freiwilligkeit zu setzen und dafür zu werben, oder Sie schwingen die Gesetzeskeule. Beides zusammen wird nicht funktionieren.

(Beifall von der FDP und von Josef Wirtz [CDU])

Denn welcher Unternehmer wird freiwillig sagen: Ich freue mich, dass du mir in die linke Tasche gepackt hast. Aber ich habe in der rechten noch ein bisschen was gefunden, was ich dir hinterherschmeiße. – Genau da ist der Dissens. Darüber wollen wir diskutieren. Echte Augenhöhe zwischen den Akteuren habe ich in Ihrem Wortbeitrag gerade nicht heraushören können. Ich habe Ihnen zwei Beispiele genannt, wie wir uns das vorstellen. Das Weitere werden wir im Ausschuss diskutieren. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP und Josef Wirtz [CDU])

Vizepräsident Daniel Düngel: Vielen Dank, Herr Kollege Höne. – Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen mehr vor. Wir sind am Schluss der Beratung.

Wir kommen zur Abstimmung über die Überweisungsempfehlung des Ältestenrats. Dieser empfiehlt, den Gesetzentwurf Drucksache 16/1821 an den Ausschuss für Klimaschutz, Umwelt, Naturschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz – federführend –, den Ausschuss für Kommunalpolitik, den Ausschuss für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk, den Rechtsausschuss sowie den Haushalts- und Finanzausschuss zu überweisen. Wer möchte dieser Überweisungsempfehlung Folge leisten? – Enthält sich jemand? – Ist jemand dagegen? – Damit ist die Überweisungsempfehlung einstimmig angenommen.

Wir kommen zu:

14       Zweites Gesetz zur Änderung des Landesausführungsgesetzes zum Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe – für das Land Nordrhein-Westfalen

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 16/1732

erste Lesung

Herr Minister Schneider hat erklärt, dass er seine Rede zu Protokoll geben möchte (siehe Anlage 1). Damit ist heute eine weitere Beratung nicht mehr vorgesehen.

(Vereinzelt Beifall von der CDU)

Somit kommen wir unmittelbar zur Abstimmung. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Gesetzentwurfs Drucksache 16/1732 an den Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales. Ist jemand gegen diese Überweisungsempfehlung? – Enthält sich jemand? – Damit ist auch diese Überweisungsempfehlung einstimmig angenommen.

Ich rufe auf:

15       Staatsvertrag und Dienstleistungsvereinbarung zum Zwecke der Errichtung und zum Betrieb eines bundesweiten Vollstreckungsportals der Länder

Antrag
der Landesregierung
auf Zustimmung zu einem Staatsvertrag
gemäß Art. 66 Satz 2
der Landesverfassung
Drucksache 16/1733

In diesem Fall hat Herr Minister Kutschaty erklärt, seine Einbringungsrede zu Protokoll geben zu wollen (siehe Anlage 2). Das nehmen wir freudig zur Kenntnis.

Damit sind wir für heute am Ende der Beratung.

Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Antrags Drucksache 16/1733 an den Hauptausschuss. Ist jemand gegen diese Überweisungsempfehlung? – Enthält sich jemand? – Das ist nicht der Fall. Damit ist auch diese Überweisungsempfehlung einstimmig angenommen.

Ich rufe auf:

16       Staatsvertrag zwischen dem Land Nordrhein-Westfalen und dem Freistaat Bayern über die Zugehörigkeit der Mitglieder der Patentanwaltskammer, die ihren Kanzleisitz in Nordrhein-Westfalen eingerichtet haben, zur Bayerischen Rechtsanwalts- und Steuerberaterversorgung

Antrag
der Landesregierung
auf Zustimmung zu einem Staatsvertrag
gemäß Art. 66 Satz 2
der Landesverfassung
Drucksache 16/1892

Herr Minister Walter-Borjans hat darauf verzichtet, eine Einbringungsrede zu halten bzw. zu Protokoll zu geben.

Damit kommen wir auch hier zur Abstimmung über die Empfehlung des Ältestenrats, den Antrag Drucksache 16/1892 an den Hauptausschuss zu überweisen. Ist jemand gegen diese Überweisungsempfehlung? – Enthält sich jemand? – Das ist nicht der Fall. Damit ist auch diese Überweisungsempfehlung einstimmig angenommen.

Ich rufe auf:

17       Wahl der Mitglieder des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses I und Wahl des Vorsitzenden


Wahlvorschlag
der Fraktion der SPD,
der Fraktion der CDU,
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
der Fraktion der FDP und
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/1916

Eine Debatte hierzu ist nicht vorgesehen.

Damit kommen wir direkt zur Abstimmung über den Wahlvorschlag Drucksache 16/1916. Ich darf Sie um ein Handzeichen bitten, wenn Sie diesem Wahlvorschlag zustimmen möchten. – Ist jemand dagegen? – Enthält sich jemand der Stimme? – Damit ist auch dieser Wahlvorschlag angenommen.

Wir kommen zu:

18       Wahl von Mitgliedern für die Ausschüsse zur Wahl der ehrenamtlichen Richter bei dem Oberverwaltungsgericht und den Verwaltungsgerichten des Landes Nordrhein-West­falen

Wahlvorschlag
der Fraktion der SPD
Drucksache 16/1891

Auch hier ist eine Debatte nicht vorgesehen.

Wir kommen direkt zur Abstimmung über den Wahlvorschlag Drucksache 16/1891. Wer kann diesem Wahlvorschlag Folge leisten? – Das sind SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU und FDP. Enthält sich jemand der Stimme? – Die Piraten. Ist jemand dagegen?

(Nicolaus Kern [PIRATEN] meldet sich.)

– Herr Kern ist dagegen. Dennoch ist der Wahlvorschlag angenommen.

Ich rufe auf:

19       In den Ausschüssen erledigte Anträge

Übersicht 4
gem. § 79 Abs. 2 GeschO

Drucksache 16/1917

Die Übersicht 4 enthält drei Anträge, die vom Plenum nach § 79 Abs. 2 Buchstabe c an die Ausschüsse zur abschließenden Erledigung überwiesen wurden, sowie einen Entschließungsantrag. Das Abstimmungsverhalten der Fraktionen ist aus der Übersicht ersichtlich.

Ich lasse über die Bestätigung des Abstimmungsverhaltens der Fraktionen in den Ausschüssen entsprechend Übersicht 4 abstimmen. Wer kann dem so Folge leisten und bestätigt hiermit das entsprechende Abstimmungsverhalten? – Ist jemand dagegen? – Enthaltungen? – Damit sind die Abstimmungsergebnisse der Ausschüsse in der Übersicht 4 Drucksache 16/1917 einstimmig bestätigt.

Wir kommen zu:

20       Beschlüsse zu Petitionen

Übersicht 16/6

Wird hierzu aus dem Plenum das Wort gewünscht? – Das ist nicht der Fall. Ist jemand mit den Beschlüssen nicht einverstanden? – Auch das ist nicht der Fall.

Damit stelle ich gemäß § 91 Abs. 8 unserer Geschäftsordnung fest, dass die Beschlüsse zu Petitionen in der Übersicht 16/6 bestätigt sind.

Damit haben wir es geschafft, meine Damen und Herren, und sind am Ende unserer heutigen Sitzung.

Ich berufe das Plenum wieder ein für morgen, Donnerstag, den 24. Januar 2013, 10 Uhr.

Ich wünsche Ihnen allen einen schönen Abend.

Die Sitzung ist geschlossen.

Schluss: 19:30 Uhr

_______________________________________

*)    Von der Rednerin bzw. dem Redner nicht
überprüft (§ 96 GeschO)

Dieser Vermerk gilt für alle in diesem Plenarprotokoll so gekennzeichneten Rednerinnen und Redner.


Anlage 1

Zu TOP 14 – Zweites Gesetz zur Änderung des Landesausführungsgesetzes zum Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - für das Land Nordrhein-Westfalen – zu Protokoll gegebene Rede

Guntram Schneider, Minister für Arbeit, Integration und Soziales:

Der Bundesgesetzgeber hat ein Gesetz zur Änderung des SGB XII beschlossen. Es setzt die zwischen Bund und Ländern vereinbarte finanzielle Entlastung der Kommunen bei den Ausgaben der Grundsicherung im Alter und bei der Erwerbsminderung um.

Das Gesetz ist erst am 27. Dezember 2012 im Bundesgesetzblatt verkündet worden und bereits zum 1. Januar 2013 in Kraft getreten.

Das Bundesgesetz bedarf einer umfangreichen landesrechtlichen Umsetzung. Aufgrund der mangelnden Vorlaufzeit entsteht ein nicht unerheblicher Zeitdruck für die Landesebene.

Die Erstattungszahlungen des Bundes erhöhen sich im Jahr 2013 auf 75 % der in diesem Jahr bei den Trägern der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung anfallenden Nettoausgaben. Ab dem Jahr 2014 erstattet der Bund in jedem Jahr die Nettoausgaben vollständig.

Im Jahr 2013 wird für die nordrhein-westfälischen kommunalen Leistungsträger eine Bundeserstattung von mindestens 800 Millionen € erwartet. Ab dem Jahr 2014 werden es mindestens 1,1 Milliarden € sein.

Zwischen dem Bund und den Kommunen gibt es aber aus verfassungsrechtlichen Gründen keine direkten Finanzbeziehungen. Der Bund kann nur den Ländern die Erstattungszahlungen zur Verfügung stellen.

Das Land muss daher insbesondere die Weiterleitung der Bundeserstattung an die zuständigen kommunalen Leistungsträger regeln. Dieses kann ausschließlich durch ein Landesgesetz erfolgen.

Der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf der Landesregierung enthält diese notwendigen landesgesetzlichen Regelungen. Kern des vorliegenden Gesetzentwurfs sind das Verfahren zur Abrufung der Bundeserstattung und die anteilige Verteilung auf die kommunalen Leistungsträger.

Der Gesetzentwurf gewährleistet die vollständige und umgehende Weitergabe der Bundeserstattung an die zuständigen Träger. Der Landeshaushalt wird keinen Cent der Bundeserstattung behalten. Das nenne ich ausgesprochen „kommunalfreundlich“!

Das Bundesgesetz sieht eine quartalsweise Abrechnung vor. Die ersten Mittel sollen bereits zum 15. März 2013 fließen.

Aus diesem frühen Datum der ersten Mittelabrufung beim Bund können Sie erkennen: Für die landesrechtliche Umsetzung bleibt nur ein kleines Zeitfenster.

Um das Abrufen der Bundesmittel und die Weiterleitung an die Kommunen rechtssicher zu ermöglichen, muss das Gesetz zur Änderung des Landesausführungsgesetzes vor dem 15. März 2013 beschlossen und verkündet werden. Ich denke, dass es in unserem gemeinsamen Interesse ist, dass wir dieses Ziel erreichen.   


Anlage 2

Zu TOP 15 – Staatsvertrag und Dienstleistungsvereinbarung zum Zwecke der Errichtung und zum Betrieb eines bundesweiten Vollstreckungsportals der Länder – zu Protokoll gegebene Rede

Thomas Kutschaty, Justizminister:

Ihnen liegen der Staatsvertrag und die Dienstleistungsvereinbarung zum Zwecke der Errichtung und zum Betrieb eines bundesweiten Vollstreckungsportals der Länder vor. Ich habe den Staatsvertrag und die Dienstleistungsvereinbarung am 21. November 2012 unterzeichnet. Die Zeichnungen der übrigen Fachministerinnen und Fachminister der Länder sind mittlerweile ebenfalls erfolgt. Für das Inkrafttreten des Staatsvertrages bedarf es ihrer Zustimmung.

Der Entwurf des Gesetzes zur Reform der Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung ist am 18. Juni 2009 vom Deutschen Bundestag beschlossen worden (BT-Drucksachen 16/10069, 16/13432); der Bundesrat hat am 10. Juli 2009 zugestimmt (BR-Drucksache 568/09). Das Gesetz trat am 1. Januar 2013 in Kraft.

Ziel dieser Reform ist es, die Informationsbeschaffung des Gläubigers in der Zwangsvollstreckung zu verbessern. Darüber hinaus sollen das Verfahren auf Abnahme der Vermögensauskunft (vormals eidesstaatliche Versicherung) sowie die Führung des Schuldnerverzeichnisses modernisiert werden. Gleichzeitig eröffnet das Gesetz auch die Möglichkeit einer länderübergreifenden Zusammenarbeit im Bereich des Internetabrufverfahrens (§ 882h Abs. 1 Satz 2 und 3 ZPO). Das Justizministerium hat mit den Ländern den Entwurf eines Staatsvertrages zur Einrichtung und zum Betrieb eines gemeinsamen Vollstreckungsportals abgestimmt.

Dieser Staatsvertrag regelt insbesondere

–   die Bestimmung des Vollstreckungsportals als länderübergreifendes, zentrales elektronisches Informations- und Kommunikationssystem im Sinne von §§ 802k Abs. 1 Satz 2, 882h Abs. 1 Satz 2 und 3 der Zivilprozessordnung,

–   die zentrale Erhebung von Gebühren,

–   die zentrale Vollstreckung der Gebühren,

–   die Auskehrung der Einnahmen und

–   die Kostentragung durch die Länder.

Die im Rahmen des Betriebs des Vollstreckungs­portals von den Ländern an das Land NRW übertragenen Aufgaben – insbesondere die Einziehung der Gebühren über ein elektronisches Bezahlsystem, die technisch vorgesehenen Mahnstufen für nicht rechtzeitig eingegangene Zahlungen und die Überleitung und Durchführung von Gebührenvollstreckungen – sind hoheitlicher Art. Um die entsprechenden Befugnisse von den örtlich zuständigen Stellen der Länder auf das Land NRW zu übertragen, bedarf es nach verfassungsrechtlichen Grundsätzen eines Staatsvertrages.

Die Details in Zusammenarbeit der Länder untereinander sowie die Zusammenarbeit mit dem Betreiber des Vollstreckungsportals wurden in einer Dienstleistungsvereinbarung geregelt, auf die im Staatsvertrag Bezug genommen wird.

Der Staatsvertrag bildet die Grundlage für die Errichtung und den Betrieb des gemeinsamen Vollstreckungsportals der Länder. Die mit dem Staatsvertrag verbundene Zusammenarbeit der Länder bei dem Betrieb des Portals stellt für Nordrhein-Westfalen die kostengünstigere Lösung dar, da die anfallenden Kosten auf alle 16 Bundesländer anteilmäßig verteilt werden können.

Ich bitte Sie daher um Zustimmung zu dem vorliegenden Staatsvertrag.