Wenn er in Syrien ist, sagt er: "Ich bin aus Deutschland." Sitzt er im Düsseldorfer Landtagsbüro, entfährt es ihm: "Ich bin Ruhrgebietler." So jemand wie Jamal Karsli ist also der geborene Brückenbauer, und so versteht sich der 43-Jährige, der 1980 nach Recklinghausen kam, auch. Ihm geht es um die Gleichberechtigung der hier lebenden Ausländer. Karsli spricht stets von Migranten. Als deutscher Abgeordneter der GRÜ- NEN versucht er, sowohl bei den Deutschen als auch bei den Ausländern wechselseitige Vorurteile zu beseitigen.
Der Mann ist ein Temperamentsbündel, sein Deutsch ist ausgezeichnet. 1980 konnte er bloß ein deutsches Wort: Postfach. Und heute? Am 12. September hat er für den Bürgermeister-Posten in Castrop-Rauxel kandidiert. 2,7 Prozent sind es geworden, na ja, die politische Lage war für die GRÜNEN eben nicht günstig. Karsli hatte sich nicht zur Bewerbung gedrängt. Aber die GRÜNEN-Freunde aus Castrop-Rauxel wollten ihn. Sie sagten: "Du mußt es machen, du kannst das, hast politische Erfahrung, bist politisch engagiert, verstehst etwas von Raumplanung." Karsli, gelernter Industriechemiker, der in Dortmund Raumplanung studiert hat und zwei Übersetzer-Büros besaß, bevor er sich endgültig der Politik als Vollzeitjob verschrieb, leidet nicht an Minderwertigkeitskomplexen. Er traut sich viele politische Aufgaben zu, Regierungsämter eingeschlossen. Politische Vorbilder habe er nicht, betont er energisch, wozu auch: Jeder Mensch habe doch Vor- und Nachteile.
Wenn er über seinen Arbeitseinsatz erzählt, hört sich das an, als ob da jemand sieben Tage in der Woche für die Veränderung der Gesellschaft schufte. Flüchtlings- und migrationspolitischer Sprecher ist Jamal Karsli bei den GRÜNEN, den Petitionsausschuss nimmt er sehr ernst. In vier Landtagsjahren seien es 1 000 Petitionen, vornehmlich von Ausländern gewesen, die er bearbeitet habe. 400 Ortstermine seien vonnöten gewesen. Karsli zeichnet das Bild eines umtriebigen Abgeordneten, der im Lande umherreist, um Gutes zu tun. Erfolgserlebnisse bauen angesichts eines solchen physischen und psychischen Einsatzes besonders auf. Neulich in Bonn habe ihn ein Farbiger aus Togo auf der Straße wiedererkannt und ihm so gedankt: "Ohne Sie wäre ich tot." Karsli hatte sich mit Erfolg für den damals in Abschiebehaft Genommenen eingesetzt.
1985 hat Karsli die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen. Einen syrischen Pass besitzt er nicht. Und dennoch: Wenn er politisch wieder einmal kräftig hinlangt, passiert es schon, dass ihn Kollegen von anderen Fraktionen für einen Ausländer halten, der sich erdreistet, im deutschen Parlament gegen Deutsche Stellung zu beziehen. Denen ruft er entgegen: "Was wollt ihr eigentlich, ich bin Deutscher wie ihr, und ich bin gewählter Abgeordneter wie ihr." Karsli erinnert sich (schmunzelnd!) auch daran, wie es ihm beim Start in der deutschen Politik in Castrop-Rauxel entgegen schallte: "Jetzt fehlen hier bloß noch Kamele, dann haben wir endgültig arabische Verhältnisse!"
Karsli ist jemand, der sich nicht unterkriegen lässt. Er hat von der verehrten Mutter das Kämpferherz geerbt. Beim zweijährigen Sohn (Karsli hat noch zwei Töchter) sei schon jetzt etwas von seinem, des Vaters Naturell, zu spüren. Karslis Grundsatz heißt: Herausforderungen sind dazu da, um angenommen zu werden. Ein bisschen klingt bei ihm alles nach dem Toyota-Spruch: Nichts ist unmöglich. Seit dem 16. Lebensjahr hat er sich für Politik interessiert. Für amnesty hat er sich engagiert, gegen die Todesstrafe, für die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Karsli ist Moslem, aber keiner von der gepanzerten Sorte. Seine Frau, eine Italienerin und Lehrerin, die er in Venedig kennengelernt hat, ist Katholikin. Die gemeinsamen beiden kleinen Kinder werden weder christlich noch muslimisch dominiert. "Wir versuchen das Beste aus beiden Religionen, die ohnehin nicht so unterschiedlich sind, zu vermitteln." Die Kinder wachsen vielsprachig auf: Mit ihnen wird daheim in Recklinghausen deutsch, italienisch und arabisch geredet. Vater Karsli platzt vor Stolz, wenn er erzählt, wie die Kleinen abends vor Freude ihm entgegenhüpfen, auf den Arm genommen werden möchten, und wie sie dann sogar noch einmal mit Papa essen, obwohl sie eigentlich schon satt sind.
Der ausgeprägte Familiensinn ist in Syrien typisch, mehr noch als bei den Italienern, weiß Karsli. Er hat elf Geschwister, 70 Neffen und Nichten und mehr als 200 Cousinen und Cousins ersten Grades. Wenn Jamal Karsli zu Besuch in Syrien weilt, bricht ein tagelanges Sippenfest an. "Als ich das letzte Mal fünf Wochen bei der Verwandtschaft war, wurden in der Zeit bestimmt 40 Hammel geschlachtet." Der enorm starke Familienzusammenhalt in Syrien trägt seiner Meinung nach auch dazu bei, dass es dort viel weniger Jugendliche mit psychischen Störungen gebe als in Deutschland.
Als er vor knapp 20 Jahren hierher kam, war er geschockt über die emotionale Kälte der Menschen. Weiter fiel ihm auf, dass die Deutschen Portemonnaies bei sich trugen. "Aha", habe ich mir gedacht, "Geld muss hier eine besonders hohe Bedeutung haben." Inzwischen besitzt er, der Deutsche aus Syrien, auch eine Geldbörse, schon wegen der üblichen Kreditkarten.
Karsli möchte noch einmal in den Landlag gewählt werden. Was später einmal kommen wird, ist noch nicht entschieden. Ob die Familie in Deutschland bleibt, vielleicht nach Italien zieht oder gar nach Syrien nichts ist gewiss. Er, Jamal Karsli (Jamal heißt übrigens Schönheit auf arabisch, erklärt er lachend), möchte eigentlich nicht alt werden in Deutschland. "Ich hätte Angst davor, in ein Heim zu müssen, ich möchte nicht, dass man mich dort zur Verwahrung hinbringt." Dann vergleicht er wieder, denn: Wie war es doch anders, rührender in der eigenen syrischen Familie: Die Mutter sei mit 85 gestorben, im Kreise ihrer Lieben und mit welcher Würde.
Reinhold Michels
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