Die erste Sitzung des Landtags
Der 2. Oktober 1946 – Ein Wendepunkt der Geschichte
Nur wenige Fotos existieren von den Landespolitikern der ersten Stunde, wie sie zusammen mit britischen Besatzungsoffizieren die Treppen des Düsseldorfer Opernhauses hinauf eilten. Das Gebäude war einer der wenigen Versammlungsorte in der Stadt, der nicht durch die Wucht der Bomben zerstört worden war. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der menschenverachtenden Diktatur der Nationalsozialisten hatte die erste Sitzung des Landtags entsprechende Symbolkraft. Unter der britischen Flagge, dem Union Jack, und den Wappen der Landesprovinzen Nordrhein und Westfalen begrüßte der von den Alliierten ernannte Ministerpräsident Dr. Rudolf Amelunxen die Abgeordneten und die Vertreter der britischen Militärregierung. Der Oberbefehlshaber der Besatzungszone, Luftmarschall Sir Sholto Douglas, und der Chef der britischen Zivilverwaltung, William Asbury, rahmten den Ministerpräsidenten auf der Bühne ein.
Gemeinsam blickten sie auf die 200 Abgeordneten, die jeweils zur Hälfte die Landesprovinzen Nordrhein und Westfalen repräsentierten – das Land Lippe kam erst im Januar 1947 zu Nordrhein-Westfalen. Das Kräfteverhältnis der politischen Lager im Landtag orientierte sich noch an den Ergebnissen der preußischen Landtagswahl und den beiden Reichtagswahlen aus dem Jahr 1932. Demnach erhielten SPD 71 und CDU 66 Sitze im Parlament, die KPD 34, das Zentrum 18 und die FDP 9. Außerdem zogen zwei unabhängige Abgeordnete in den Landtag ein. Diese Zusammensetzung stieß nicht auf ungeteilte Zustimmung. Besonders der CDU-Abgeordnete – und spätere Bundeskanzler – Konrad Adenauer kritisierte diese Praxis. Die Parteien seien nicht entsprechend ihrer tatsächlichen Stärke in der Bevölkerung durch den Landtag vertreten. Nach den nordrhein-westfälischen Kommunalwahlen im November 1946 passte die Militärregierung das politische Kräfteverhältnis schließlich den Parteigrößen an.
Zwölf Jahre Unterdrückung, Leid und Krieg hatten die Volksvertreter des ersten Landtags meist am eigenen Leib erfahren müssen. So gedachten sie in ihrer ersten Sitzung „all denen, die im Kampf gegen das Nazitum gefallen, die in den Konzentrationslagern, Zuchthäusern und Gefängnissen zu Tode gekommen sind.“ Mit dem Blick auf die Schrecken des Dritten Reiches verband sich zugleich die Hoffnung auf eine friedliche Zukunft in einem demokratischen Land. So machte auch Ministerpräsident Amelunxen dem Parlament die historische Bedeutung der Sitzung deutlich: „Der heutige Tag bedeutet einen Wendepunkt in der deutschen Geschichte. Im deutschen Westen ist ein Grundstein zu neuem demokratischem Gemeinschaftsleben gesetzt worden.“
Die Bevölkerung in Nordrhein-Westfalen nahm jedoch kaum Kenntnis von der ersten Sitzung des Landtags. Sie litt unter dem Mangel an Nahrungsmitteln im Land, unter dem Wohnungsnotstand in den zerbombten Städten. Wirtschaftlich lag das Land am Boden, und schon bald machten böse Gerüchte die Runde: Die britische Besatzungsmacht führe Lebensmittel und Steinkohle nach Großbritannien aus, hieß es hinter vorgehaltener Hand. Mit diesen Vorwürfen räumte der Oberbefehlshaber Sir Douglas im Opernhaus auf. „Die Ernährung unserer Besatzungstruppen sowie des Personals der Aufsichtsbehörden geht nicht zu Lasten der deutschen Nahrungsmittelquellen, wir leben also nicht vom Lande“, stellte er unmissverständlich klar. Sir Douglas erkannte zugleich die schwierige Lage im Land: Für das deutsche Volk wird der Weg des Wiederaufbaues hart sein und er wird große Anforderungen stellen an seinen Mut, seine Ausdauer und seine Bereitwilligkeit zur Zusammenarbeit unter sich und mit der Besatzungsmacht.“ Der Oberbefehlshaber machte den Abgeordneten damit auch Hoffnung auf den wirtschaftlichen Aufschwung, auf die Zugkraft des Bergbaus im Land. „Kohle ist der Schlüssel zu allem. Die Erhöhung der Produktion ist von größter Wichtigkeit.“
So umriss Ministerpräsident Amelunxen in seiner Regierungserklärung die wichtigsten Ziele seiner Landespolitik. Die Kohlenförderung wollte er schnellstmöglich von 170.000 Tonnen auf mindestens 300.000 Tonnen pro Tag erhöhen, wollte Anreizsysteme zur Steigerung der Beschäftigung im Bergbau schaffen. Das Wohlergehen der Bevölkerung machte der Ministerpräsident ebenso von der Bewältigung einer weiteren großen Herausforderung abhängig: „Wir müssen das Vertrauen der Welt wiedergewinnen. Das wird uns nur gelingen, wenn demokratisches Denken Gesamtüberzeugung und Lebenshaltung unseres Volkes werden, wenn die Hochachtung vor der persönlichen Freiheit und Würde, die Toleranz gegenüber jeder religiösen und politischen Überzeugung wieder existent sind.“ Ihr Bekenntnis zur Demokratie legten die Bürgerinnen und Bürger wenige Monate später, am 20. April 1947, mit ihrer Teilnahme an den ersten freien Landtagswahlen und der Wahl von Karl Arnold zum Ministerpräsidenten ab.
Die erste Landtagssitzung sollte übrigens auch die einzige im Düsseldorfer Opernhaus bleiben. Bis 1949 tagte das Parlament zunächst in den Henkelwerken, bevor es für fast 40 Jahre ins wieder hergerichtete Ständehaus am Schwanenspiegel zog. Seit 1988 kommen die Abgeordneten im neuen Landtagsgebäude am Rhein zusammen. Die Symbolkraft des Flusses erkannte der Abgeordnete der Zentrumspartei, Dr. Reismann, schon in der ersten Landtagssitzung: „Dieser Strom bedeutet die Brücke in die Welt.“
Mit ihren ersten Entscheidungen im Opernhaus fingen die Abgeordneten an, diese Brücke auch auf politischer Ebene zu bauen. Zum ersten Landtagspräsidenten wählten sie den Düsseldorfer SPD-Politiker Ernst Gnoß. Er legte in seiner Antrittsrede noch einmal die hohen Ansprüche des Landtags Nordrhein-Westfalen fest: „Wir geloben, dass wir bereits sind, alles einzusetzen für den Neuaufbau eines besseren demokratischen Deutschlands der sozialen Gerechtigkeit und des Friedens und des Willens zur Völkerverständigung für alle Zeiten.“ Der Beifall der Abgeordneten war groß.
Text: Sebastian Wuwer