Von Helmut Breuer
Rheinländer und Westfalen haben den 60. Geburtstag ihres großen Bundeslandes fröhlich gefeiert; Landesregierung und jetzt auch das Landesparlament haben dieses markante Datum feierlich gewürdigt. Doch wie bei Jubiläen dieser Art üblich, weckt das Fest Gedanken an die Zukunft, und die wirft die Frage auf, wie sich Nordrhein-Westfalen in den nächsten Jahrzehnten entwickeln wird.
Der neue CDU-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers sieht sich vor besondere Herausforderungen gestellt: Die dramatische Haushaltslage, die immer noch signifikant hohe Arbeitslosigkeit, das durch die PISA-Studien dokumentierte schwache Schulsystem und das gerade erst durch die Wahl der ersten drei Elite-Universitäten im Süden Deutschlands sichtbar gewordene niedrigere Niveau der zahlreichen Hochschulen an Rhein und Ruhr sind große Aufgaben für die Zukunft.
Was lag näher, als die vier wichtigsten Politiker des Landes zu bitten, ihre Zukunftsperspektive vorzustellen. Der Ministerpräsident und CDU-Landesvorsitzende Jürgen Rüttgers, sein Kabinetts-Stellvertreter und FDP-Landesvorsitzende Andreas Pinkwart, die SPD-Oppositionsführerin Hannelore Kraft und Sylvia Löhrmann, Fraktionsvorsitzende der GRÜNEN, wagen an dieser Stelle einen Blick in die Zukunft.
Rüttgers: Land der neuen Chancen
"Wir wollen NRW zum Land der neuen Chancen machen. Unser Ziel ist die Wiederbelebung der sozialen Marktwirtschaft und die Rückbesinnung auf unser Wertefundament, das ihr zugrunde liegt. Deshalb wollen wir gemeinsam die Proportionen wieder zurechtrücken, die aus dem Lot geraten sind. Wir müssen die Wirklichkeit wieder so zur Kenntnis nehmen, wie sie ist. Verteilt werden kann nur das, was vorher erwirtschaftet wird. Das weiß jeder Privatmann. Und auch der Staat muss das wieder beherzigen.
Deshalb sanieren wir die Landesfinanzen, um neue Spielräume für Investitionen in Infrastrukturen, Innovation und Bildung zu gewinnen. Wir müssen Schulden abbauen und unser Land gleichzeitig für die Zukunft fit machen. Wir haben keinen leichten Weg eingeschlagen. Wir wollen, dass der Landeshaushalt 2010 wieder verfassungsfest ist, das heißt, dass die Summe der Investitionen größer ist als die Neuverschuldung.
Aber die Sanierung des Haushaltes ist kein Patentrezept, um Zukunft zu gestalten. Deshalb setzt die Landesregierung gezielte Schwerpunkte: Vor allem in der Wirtschaftspolitik. Wir stehen für die Wiederbelebung der Sozialen Marktwirtschaft. Wir setzen auf mehr Selbstbestimmung und Selbstverantwortung und schaffen einen verlässlichen Ordnungsrahmen. Daraus folgt zum Beispiel, dass wir Investitionen in Infrastrukturen ermöglichen, die das Industrieland NRW nach vorne bringen. Wir bauen Bürokratie wirksam ab. Zudem konzentrieren wir die Landesförderung stärker als bisher auf Mittelständler, Existenzgründer und Forschung und Entwicklung. Wir sind "Aufsteiger Nr. 1" in Deutschland. Das sagen nicht wir - das sagen die Wirtschaftsexperten von Ernst & Young, die alle Bundesländer genau unter die Lupe genommen haben.
Ich will ein Land, in dem Kinder alle Chancen haben. Der Schlüssel dazu liegt in der Bildung. Kinder, die heute geboren werden, machen künftig schnellere und bessere Schulabschlüsse. Und sie werden Universitäten und Berufskollegs besuchen, die international ganz vorne mitspielen. Mit einer umfassenden Schulreform schaffen wir in NRW ein modernes Bildungssystem. Dabei setzen wir auf mehr Selbstbestimmung, mehr Leistung und mehr soziale Gerechtigkeit. Im Mittelpunkt steht die bessere individuelle Förderung aller Schülerinnen und Schüler. Dazu gehört dann auch, dass wir zusätzliche Lehrerstellen gegen den Unterrichtsausfall schaffen.
Mit dem Hochschulfreiheitsgesetz und dem Studienbeitragsgesetz geben wir unseren Hochschulen endlich die Möglichkeit, starke Profile in Forschung und Lehre zu entwickeln. Zudem setzen wir uns gemeinsam mit der Wirtschaft für zusätzliche außeruniversitäre Forschungskapazitäten ein, damit NRW Innovationsland Nr. 1 wird. Wir wollen NRW zu einem kinderfreundlichen Land machen. Die Familien haben einen Anspruch darauf, dass wir ihnen helfen, Kinder und Beruf zu vereinbaren. Und unsere Kinder haben einen Anspruch darauf, dass wir sie so früh wie möglich so gut wie möglich fördern. Deshalb stellen wir in diesem Jahr für Kinder, Jugend und Bildung über eine viertel Milliarde Euro mehr zur Verfügung als noch im vergangenen Jahr. Deshalb schaffen wir ein flächendeckendes Netz von Familienzentren, die Kinderbetreuung, frühkindliche Bildung und Familienberatung bündeln. Und deshalb verstärken wir die frühkindliche Sprachförderung.
In Zeiten gravierender Veränderungen helfen Kunst und Kultur, neue Entwicklungen zu verstehen. Daher setzen wir einen besonderen Schwerpunkt auf die Förderung der Kultur. Denn Kunst und Kultur sind ebenfalls Motoren für die Innovationsfähigkeit unserer Gesellschaft. Sie zeigen, was Menschen durch ein gemeinsames Ziel und eine gemeinsame Identität erreichen können. Die erfolgreiche Bewerbung Essens und des Ruhrgebiets um die Kulturhauptstadt 2010 ist dafür ein herausragender Beweis.
Gesunde Finanzen, moderne Industrien, bessere Schulen und Universitäten, kinderfreundliche Angebote für Mütter, Väter und Kinder, ein Herz für Kunst und Kultur: Damit machen wir unser schönes Land fit für die Zukunft. Mit neuen Chancen für alle."
Andreas Pinkwart: Ein riesiger Kraftakt
"Das Land Nordrhein-Westfalen steht vor immensen Herausforderungen. Der Landeshaushalt ist nicht verfassungskonform, die Arbeitslosenquote liegt bei über elf Prozent, die Pisa-Studie attestiert den Kindern schlechtere Bildungschancen als andernorts, wir haben zwar die dichteste, aber leider - Stichwort Exzellenzinitiative - noch lange nicht die beste Hochschullandschaft, Schlüsseltechnologien und zukunftsträchtige Forschungsbereiche wurden jahrelang aus ideologischen Motiven ausgebremst. Besonders dramatisch: Bei den Investitionen in Forschung und Entwicklung (F+E) liegt Nordrhein-Westfalen nicht nur weit hinter dem Lissabon-Ziel von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts, sondern auch mit großem Abstand hinter dem Bundesdurchschnitt. Bund und Land haben hier in NRW in den vergangenen Jahren genau die gleiche Summe in die Subventionierung der Steinkohle investiert wie in Forschung und Entwicklung.
Dem gegenüber steht ein enormes Potenzial: NRW stünde als eigenes Land auf Platz 14 der wirtschaftsstärksten Staaten in der Welt, jeder vierte Student in Deutschland wird an unseren Hochschulen ausgebildet. Wir haben starke Unternehmen und exzellente Forschungseinrichtungen - nur eben noch nicht genug. Warum ich die Zukunft Nordrhein- Westfalens trotzdem optimistisch beurteile und warum wir als neue Landesregierung große Chancen sehen, unsere ambitionierten Ziele zu erreichen? Weil die Menschen in unserem Land auf einen klaren, zukunftsweisenden Kurs der Politik gewartet haben. Sie wollen den Mentalitätswechsel mittragen, sich beteiligen, ihre neue Gestaltungsfreiheit nutzen und Verantwortung übernehmen.
Zum Beispiel in der Bildungspolitik. Wir brauchen einen grundsätzlichen Mentalitätswechsel. Nicht Mittelmaß darf der Maßstab sein, sondern Wettbewerb und Exzellenz. Das neue Schulgesetz, Studienbeitragsgesetz und Hochschulfreiheitsgesetz werden viel bewirken: Mehr individuelle Förderung für die Schüler, bessere Studienbedingungen, mehr Gestaltungsspielräume und Leistungsanreize für Schulen und Hochschulen. Zum Beispiel in der Innovationspolitik. Unsere Innovationsstrategie folgt einem klaren Grundsatz: Kreativität freisetzen und Kräfte bündeln. Dazu erhöhen wir die Landesmittel für Wissenschaft und Technologie, und wir werben bei Partnern gezielt für die Stärken unseres Landes.
Wir haben uns zum Ziel gesetzt, 2015 Innovationsland Nr. 1 in Deutschland zu sein. Dies können wir erreichen, aber wir werden riesige Anstrengungen unternehmen müssen. Dazu gehört, einen ausgeglichenen Haushalt vorzuweisen, damit wieder Gestaltungsspielräume entstehen. Wir müssen so schnell wie möglich raus aus den Steinkohle-Subventionen und das Geld stattdessen in Forschung und Entwicklung investieren. Wir müssen Bürokratielasten abbauen, ideologische Barrieren in der Energie-, Stammzell- und Genforschung aufgeben. Wir müssen strategisch bedeutende Projekte bei der Verkehrsinfrastruktur vorantreiben, auch in der Flughafenpolitik.
Angesichts der Ausgangslage, die wir nach Jahren der Stillstandspolitik in NRW vorgefunden haben, wird diese Aufholjagd ein riesiger Kraftakt. Wir brauchen einen klaren Kurs, Tatkraft und Begeisterung - und wir brauchen vor allem Partner, die anpacken und gemeinsam etwas bewegen wollen. Die CDU/FDPLandesregierung hat in ihrem ersten Jahr viele wichtige Weichen gestellt, Unternehmen fassen wieder Vertrauen in den Standort. Menschen finden wieder Rahmenbedingungen, die ermutigen. Die Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft kann gelingen - aber Zeit hat unser Land nicht mehr zu verlieren."
Hannelore Kraft: Land mit Kraft und Gewicht
"Nordrhein-Westfalen, ein Bundesland mit Kraft und Gewicht: Das industrielle Herz Deutschlands, der wichtigste Wirtschaftsstandort, mit 18 Millionen Einwohnern im Zentrum der EU größer als alle seine Nachbarn, die dichteste Hochschullandschaft Europas. . . Die Liste ließe sich beliebig fortführen. Aber wirklich mit Stolz erfüllt mich, dass die traditionelle Weltoffenheit und Toleranz seiner Menschen Nordrhein-Westfalen in den vergangenen 60 Jahren zu einer sympathischen und dynamischen europäischen Region gemacht haben.
Doch NRW ist auch ein Bundesland, das große Herausforderungen zu meistern hat: Der Strukturwandel, Arbeitslosigkeit, Wandel zur Wissensgesellschaft - es gibt viel zu tun. Deshalb ist es wichtig, nach vorne zu schauen. Mir liegt das "Unternehmen Zukunft NRW" am Herzen.
Viele Menschen bedrücken Sorgen. Auf der einen Seite ist das Sicherheitsgefühl früherer Jahre auf vielen Ebenen verloren gegangen. Auf der anderen Seite vermittelt die Zukunft vielen Menschen zu wenig Zuversicht. Das schürt Zukunftsängste. Deshalb erwarten die Bürgerinnen und Bürger Orientierung.
Wo soll NRW in 20, 40, 60 Jahren stehen?
Wir müssen dafür arbeiten, dass NRW dann ein Bildungsland ist: Das Wissen in den Köpfen unserer jungen Menschen ist der wichtigste "Rohstoff" für unsere Zukunft. Chancengerechtigkeit ist deshalb eines der obersten Ziele. Wir können es uns schlicht nicht leisten, Talente am Wegesrand zurück zu lassen.
Die heute viel zu frühe Aufteilung von Jungen und Mädchen nach der Klasse 4 ist in einigen Jahren längst in die schulpolitische Abstellkammer ausrangiert. Schulische Karriere ist allein Ergebnis persönlicher Leistungsfähigkeit jeden einzelnen Kindes - unabhängig von sozialem Hintergrund und Leistungsfähigkeit des Elternhauses. Die Kinder lernen länger gemeinsam, werden gezielt individuell gefördert. Nachhilfeschulen werden nicht mehr gebraucht. Die in den vergangenen Jahren eingeleiteten Schritte zum Ausbau der Ganztagsbetreuung sind inzwischen umfassend umgesetzt. NRW ist nicht mehr Schlusslicht bei den Krippenplätzen, sondern Spitzenreiter.
Die Wirtschaft hat mit Hilfe des Landes die Fehler der Vergangenheit korrigiert und Ausbildung als Investition in die eigene Zukunft erkannt und angenommen. Die Verbesserung des Bildungssystems hat Früchte getragen. Die Unternehmen konkurrieren um die jungen Menschen als ihr Zukunftskapital schlechthin. Ausbildungslücke ist ein Unwort früherer Zeiten.
Wir in NRW vergeuden kein Talent. Im Gegenteil, die besten jungen Wissenschaftler aus aller Welt machen NRW zusammen mit exzellenten Hochschulen und international bedeutenden Forschungseinrichtungen zu einer Region mit weltweit beachteten Spitzenleistungen in Zukunftsfeldern der Entwicklung und Forschung. Die Wirtschaft hat dieses innovative Umfeld für sich entdeckt und verstärkt die Forschungsleistungen mit überdurchschnittlichen eigenen Investitionen in diesen Bereich.
Die Folgen einer konsequent auf Familie und Kinder ausgerichteten Politik sind für das Land erfreulich: Die Anfang des Jahrhunderts noch stark sinkende Geburtenquote steigt wieder deutlich an.
Essen als Kulturhauptstadt Europas 2010 hat seine Strahlkraft entfaltet. Das Ruhrgebiet wird als international bedeutsame, lebendige Kulturregion wahrgenommen. Insgesamt hat NRW einen guten Namen in der globalen Kulturszene.
Zu guter Letzt noch mein Wunsch als sportbegeisterte Bürgerin: Das Jahr 2006 hat der internationalen Sportwelt gezeigt, dass NRW ein hervorragender Gastgeber gewesen ist. Die fantastischen Fans haben ihren Beitrag dazu geleistet. So gibt NRW auch im Sport den Ton unter den Bundesländern an - als Gastgeber Olympischer Spiele."
Sylvia Löhrmann: Die Zukunft ist grün
"NRW ist ein tolles, attraktives und grünes Land. Die Grünen sind die Garanten dafür, dass das so bleibt. Mit diesem Selbstbewusstsein stellen wir uns den entscheidenden Zukunftsfeldern: Demographischer Wandel, Globalisierung, Übergang zur Wissensgesellschaft sowie die drohende Klimakatastrophe und die Ressourcenverknappung. In all diesen Feldern braucht unser Land Lösungsansätze mit dem sich durchziehenden grünen Faden der Nachhaltigkeit.
Es kommt darauf an, den sozialen Zusammenhalt zu stärken: In der Gesellschaft, innerhalb einer Generation und zwischen Generationen, zwischen den Metropolen und den ländlichen Regionen, zwischen alten Mehrheiten und neuen Minderheiten. Wir müssen alles dafür tun, die natürlichen Lebensgrundlagen für unsere Kinder und Kindeskinder zu schützen.
Die Globalisierung löst Ängste aus. Umso dringlicher benötigen wir weiterentwickelte soziale Schutzmechanismen und neues wirtschaftliches Denken. Dazu braucht es Identität stiftende Visionen und ein nachhaltig wirksames, langfristig angelegtes Konzept. Grüne Marktwirtschaft verbindet Solidarität mit Zukunftschancen in innovativen Technologie- und Wirtschaftsfeldern. Grüne Marktwirtschaft ist soziale Marktwirtschaft plus Nachhaltigkeit und plus Innovation.
Das grüne Kernthema bleibt die Ökologie. Gesundes Essen, weniger Staub und Lärm, mehr Verbraucherrechte: Essentials, für die wir neue Zustimmung gewinnen wollen.
Angesichts des dramatischen weltweiten Klimawandels steht derzeit gerade für unser Energieland NRW die Energiepolitik im Focus. Wir müssen weg vom Öl - im Sinne einer volkswirtschaftlichen Gesamtstrategie. Das ist unabdingbar mit Blick auf die kommenden Generationen und mit Blick auf den weltweiten Energiebedarf und die Energiepreise. Diese Strategie - "weg vom Öl", hin zu erneuerbaren Energien - löst eine neue wirtschaftliche Entwicklung aus mit einem enormen Potenzial an zukunftsfähigen Arbeitsplätzen. Dazu gehört auch der Ausstieg aus den Milliardensubventionen für die Kohle. Es gibt Wichtigeres, wofür das Land Geld ausgeben muss: Kinder statt Kohle.
Der Dauerbrenner PISA legt immer wieder den Finger in die offene Wunde: NRW schafft es nicht, die Bildungspotenziale seiner Menschen zu entwickeln. Der Zugang für alle Kinder und Jugendlichen zu einer qualifizierten Bildung ist die wichtigste Ressource der Zukunft. Bessere Leistungen in der Spitze wie in der Breite, darauf kommt es an. Das kann nur gelingen, wenn Vielfalt und individuelle Förderung zusammen kommen, und nicht, wenn Kinder schon mit neun bis zehn Jahren in "Schulform-Schubladen" gesteckt werden. Nur Menschen mit guter Bildung und dem Willen zur Leistung können auf ein hohes Einkommen hoffen - nur ein Land mit sehr gut qualifizierter Bevölkerung und dem politischen Willen zur Spitze kann auf Dauer seinen Menschen ein gutes Auskommen sichern! Nur wenn auch den Migrantinnen und Migranten eine sehr gute Bildung ermöglicht wird, kann die Integration weiter Teile der Bevölkerung gelingen."
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