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  • Eine kleine Zeitreise.
    Geschichte in Bildern.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 12-13 in Ausgabe 11 - 25.10.2006

    Einen weiten Bogen spannen die Ereignisse der Landespolitik in den zurück liegenden 60 Jahren. Anfangs ging es darum, die Grundlagen für das demokratische Zusammenleben und um die Sicherung der Existenz der Menschen in einem vom Krieg verwüsteten Land zu legen. Später galt es, wichtige Entscheidungen zur Ausgestaltung und Modernisierung des Staates zu treffen. Die Politik sah sich zudem mit wirtschaftlichen Krisen und der Hoffnung der Menschen auf Sicherheit und Arbeit konfrontiert. Stichworte wie Wiederaufbau, Strukturwandel, Bildungsreform und Hochschulausbau, Verkehr, Energie, Umweltschutz, Staatsfinanzen, innere Sicherheit, Integration und demografische Entwicklung umreißen die Handlungsfelder, der sich Politiker im Land wie im Bund zu stellen haben. Kein Wunder, dass es da zwischen Land und Bund vielfältige gegenseitige Beziehungen, Einflüsse und Konfrontationen gibt und gegeben hat.

    Bildunterschriften:
    Nach dem Krieg haben die Menschen andere Sorgen als die Politik: Sie brauchen ein festes Dach über dem Kopf, genug zu essen und Arbeit. Damit ist es nicht gut bestellt, darum kommt es zu zahlreichen Unmutsäußerungen - hier die Hungerdemonstration im Düsseldorfer Hofgarten Ende März 1947.

    Er prägt das Wort von NRW als dem sozialen Gewissen der Bundesrepublik, der CDU-Nachkriegspolitiker Karl Arnold (Bildmitte vorn). Hier im Juli 1947 bei seiner Wahl zum Ministerpräsidenten des Landes. Das Amt bekleidet er bis 1956.

    Erst Kölner Oberbürgermeister, dann von den Nazis aus dem Amt gejagt, zum Schluss langjähriger Kanzler der Bundesrepublik Deutschland: Konrad Adenauer (1876-1967). Bevor er in die Bundespolitik geht, ist er NRW-Landtagsabgeordneter der ersten Stunde und gehört dem Parlament von 1946 bis 1950 an.

    Stramm gestanden - Bundespräsident Heinrich Lübke, von 1947 bis 1952 CDU-Ernährungsminister des Landes NRW, schreitet 1960 zusammen mit Ministerpräsident Franz Meyers (CDU, l.) und Landtagspräsident Wilhelm Johnen (r.) die Ehrenformation der Polizei ab.

    Wetterleuchten mit glühender Zigarre: 1966 verabreden Heinz Kühn (SPD, l.) und Willi Weyer (FDP, r.) die sozialliberale Koalition für Düsseldorf - später Modell für die Bundesregierung in Bonn.

    Nach Lübke zweiter Bundespräsident aus NRW: Gustav Heinemann (SPD), Landtagsabgeordneter von 1946 bis 1950, Landesjustizminister in den Jahren 1947 und 1948, tritt 1969 das höchste Amt an.

    Wieder ein Bundespräsident aus dem bevölkerungsreichsten Land: Walter Scheel (FDP) wird 1974 gewählt und amtiert bis 1979. Mitglied des NRW-Landtags war Scheel von 1950 bis 1954.

    Zwei, die sich kennen und schätzen: Ministerpräsident Heinz Kühn (SPD, r.) und Oppositionsführer Heinrich Köppler (CDU, l.) tauschen 1977 während einer Pause im Plenum ihre Meinungen aus.

    Nach 15 Jahren Alleinregierung der SPD kommt ein Bündnispartner ins Boot, die GRÜNEN. Hier 1995 das Kabinett Rau mit den grünen Ministern Bärbel Höhn (Umwelt) und Michael Vesper (Bauen und Wohnen).

    1999 wird Johannes Rau Bundespräsident und bekleidet dieses Amt bis 2004. Zuvor war Rau 41 Jahre lang NRW-Landtagsabgeordneter. Zwei Jahrzehnte wirkte er in diesem Land als Ministerpräsident, zuvor acht Jahre lang als Wissenschaftsminister an Rhein und Ruhr.

    Die Queen gibt sich mit Prinz Philip die Ehre. Im November 2004 besucht sie das Land Nordrhein-Westfalen, das seine Gründung der britischen Besatzungsmacht nach dem Krieg verdankt. Großer Empfang im Landtag.

    Wechsel nach 39 Jahren sozialdemokratisch geführten Regierungen: Der neue Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU, l.), Chef der schwarz-gelben Regierungskoalition im Land, leistet vor Landtagspräsidentin Regina van Dinther (r.) den Amtseid.

    ID: LIN02153

  • Die Mühen haben sich gelohnt.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 14-15 in Ausgabe 11 - 25.10.2006

    Es war eine lange und schwierige Geburt, das Zustandekommen des "Grundgesetzes" für das Land NRW. Im Oktober 1946 gab es erste Bemühungen und im Januar 1947 legte der Innenminister im zweiten Kabinett Amelunxen, Dr. Walter Menzel (SPD), dem ernannten Landtag einen Entwurf vor, der in sechs Abschnitten und 28 Artikeln eine "vorläufige Ordnung der Landesgewalt" schaffen sollte. Nach der Landtagswahl Ende April 1947, nicht zuletzt auf Drängen der Briten, wurden die Beratungen intensiviert. Die Besatzungsmacht hatte ein Auge auf die Arbeiten, nahm Einfluss und drängte zur Eile.
    Der erste Menzel-Entwurf für ein "vorläufiges Landesgrundgesetz" war lediglich ein Organisationsstatut mit wenigen Bestimmungen über die Landesgewalt, den Landtag, die Landesregierung, die Gesetzgebung, das Finanzwesen sowie die Kommunalverbände. Erst ein gewählter Landtag sollte die endgültige Verfassung verabschieden, und diese sollte nach Auffassung des Verfassungsministers weder die Grundrechte noch Fragen der Religion, der Erziehung und des Unterrichts behandeln. Diese sollten in einer einheitlichen Reichsverfassung geregelt werden. Mit dieser Minimalregelung waren allerdings weder die Briten noch die stärkste Fraktion, die CDU, zufrieden.
    Die eigentlichen Verfassungsberatungen liefen allerdings erst an, nachdem am 20. April 1947 erstmals ein Landtag gewählt worden war. Innenminister Menzel legte nun einen wesentlich umfassenderen Entwurf vor, der auch die Punkte enthielt, die in den Folgejahren immer wieder zu heftigen Kontroversen führten. So stieß die "Christliche Gemeinschaftsschule" bei CDU und Zentrum auf erbitterten Widerstand, man wollte die unbedingte Wahrung des Elternrechts und die Bekenntnisschule durchsetzen. Kontrovers auch die Errichtung einer Zweiten Kammer. Dem "Staatsrat" wollten als einer Art Notstandsgremium Konrad Adenauer und Karl Arnold von der CDU eine herausragende Rolle zwischen Landtag und Landesregierung einräumen. Der Abgeordnete Carl Severing (SPD), früherer Preußischer Innenminister, dazu knapp: "Überflüssig und schädlich." Die KPD, damals im Landtag vertreten, sah in ihm den Versuch, die Rechte des Landtags einzuschränken. Friedrich Middelhauve von der FDP vermisste das "letzte Durchdenken" des Vorschlags.
    Alles währte letztlich länger, nämlich bis Mitte 1950. Das lag zum einen an den langwierigen und oft kontroversen Beratungen in den verschiedenen Gremien des Landtags, wo die Aufregung zwischen den Fraktionen von CDU, SPD, Zentrum, FDP und KPD oft hin und her ging. Deshalb war es allen Seiten recht, dass die Beratungen ausgesetzt wurden, als der Parlamentarische Rat in Bonn mit den Beratungen zum Grundgesetz begann. Kaum war das verabschiedet, beauftragten Verfassungsausschuss und Landtag im Juli 1949 die NRWLandesregierung, bis zum 1. Oktober einen neuen Verfassungsentwurf unter Berücksichtigung des am 8. Mai 1949 in Kraft getretenen Grundgesetzes vorzulegen.
    Auch das klappte nicht fristgemäß. Das Landeskabinett war in der Schulfrage tief zerstritten. Es hagelte Kritik aus den eigenen Reihen am CDU-Ministerpräsident Karl Arnold. Der trat die Flucht nach vorne an, ließ im Hintergrund ihm vertraute Fachleute über einem eigenen Entwurf brüten und präsentierte das Papier Anfang November dem Innenministerium. Die SPD war entrüstet und hielt das Ganze für eine Zumutung. Innenminister Menzel: "Was uns hier zugemutet wird, lässt auch nicht die Spur einer vernünftigen Einstellung gegenüber den Forderungen der SPD als Regierungspartner erkennen."
    In der Frage der Sozialisierung von Bergbau und Großindustrie war man sich noch einig. Hier wirkte deutlich die Erinnerung nach, wie sehr die Ruhrbarone Hitler den Steigbügel gehalten hatten. Wenn der KPD-Abgeordnete Willi Agatz deklamierte, die Verstaatlichung des Bergbaus sei ein "lebensnotwendiger Schritt für unser Volk", dann klang das beim CDU-Abgeordneten Konrad Adenauer so: "Wir sind der Überzeugung, dass zunächst eine solche Neuordnung nur durch die Überführung des Bergbaus, der Schwer-, Eisen- und Stahlindustrie in eine Gemeinwirtschaft möglich ist, während sich die übrige Wirtschaft auf der Grundlage eines geregelten Wettbewerbs entfalten soll." Adenauer war Politiker genug, um bei der Gelegenheit gegen die britische Besatzungsmacht einen Pfeil abzuschießen, indem er anfügte: "Die Überführung der vorgenannten Wirtschaftszweige in eine Gemeinwirtschaft setzt aber voraus, dass dem deutschen Volke das volle Verfügungsrecht über die Betriebe zurückgegeben wird."
    Als Apologet eines "absoluten Elternrechts als eines persönlichen, naturhaft-begründeten Freiheitsrechts" gab sich der Zentrums-Abgeordnete Johannes Brockmann in der Schulfrage zu erkennen. Er sang ein Loblied auf die einzügige Volksschule, die er gegen die Versuche der SPD in Schutz nahm, sie als "Zwergschule" und als nicht leistungsfähigen Schulbetrieb zu diskreditieren.
    Der FDP-Abgeordnete Middelhauve bekannte, "dass ich ein starker und beharrlicher und leidenschaftlicher Verfechter und Vertreter der Gemeinschaftsschule bin und immer bleiben werde". Der Abgeordnete fügte hinzu, dass er diese Schule als "Christliche Gemeinschaftsschule" verstehe, "in der christlicher Geist ohne irgendwelche Trübungen und Beeinträchtigungen gestaltet und in die Seele des Kindes hineingelegt werden kann".
    Ohne Verständnis für die einklassige Schule (das gehe nur, wenn jeder Lehrer "ein Pestalozzi wäre") als geordnetem Schulbetrieb zeigte sich die SPD: "Das ist vielleicht ein Mangel unseres Intellekts", meinte ihr Sprecher Severing. Klar bezog sein Fraktionskollege Fritz Henßler Stellung. Er stellte "mit aller Eindringlichkeit" fest: "Wenn Sie versuchen, die einklassige Schule als Verpflichtung in der Verfassung zu verankern, wo mehrklassige sein könnten, wenn Sie versuchen, der politischen Einheit ein gebührendes Mitwirkungsrecht an den Schulen zu verweigern, dann steht unser "Nein" zu diesen Beschlüssen fest."
    Streit gab es auch zur Präambel mit ihrem Gottesbezug. Die Verfassung sei nicht der Ort, um theologische Grundsätze an den Mann zu bringen - dies meinte der SPD-Abgeordnete Severing. Anders Georg Jöstingmeier von der CDU: "Der Umstand, dass der Herrgott so ganz zum Schluss, hinter eine Vielzahl von Faktoren, auch noch zum Vorschein kommt, verletzt uns am meisten." Darum schlage seine Fraktion die Formulierung vor, dass die Verantwortung vor Gott "Urgrund des Rechts und der staatlichen Ordnung" sei. Kühl meinte der SPD-Abgeordnete Heinz Kühn, die religiöse Erziehung sei Angelegenheit und Pflicht des Elternhauses und der Kirche. "In der Schule sollte die Wissensvermittlung allem voran stehen."
    Kulturhoheit sei nun einmal die ureigene Domäne der Länder, flocht Kultusministerin Christine Teusch (CDU) ein. Darum solle man der kulturellen Seite das Gesicht geben, "das der, ich möchte fast sagen: einmütigen Willensbildung in unserem Lande, das sich zu über 95 Prozent, sicher zwischen 97 und 98 Prozent zum Christentum bekennt, auch Ausdruck gibt".
    Die mühsamen Beratungen über die Verfassung des Landes stellten Weichen und klärten Mehrheitsverhältnisse. Das sich über Jahre hinziehende zähe Ringen war viel Kampf, manchmal auch Krampf: Der KPD-Abgeordnete Hugo Paul meinte allen Ernstes, "das werktätige Volk in Westdeutschland stehe dieser Verfassungsmacherei zum Teil apathisch und ablehnend gegenüber". Für erneute, lebhafte Zwischenrufe sorgte laut Protokoll sein Vorschlag: "Die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik ist auch der Ausgangspunkt für eine wahrhaft demokratische Landesverfassung."
    Am 6. Juni 1950 fand die Schlussabstimmung nach dritter Lesung im Landtag statt. 110 Mitglieder von CDU und Zentrum stimmten für den Entwurf, 97 aus SPD, FDP und KPD dagegen. Am 18. Juni 1950 sprach der Souverän, die Wählerinnen und Wähler des Landes, das letzte Wort. 3,62 Millionen sagten Ja, 2,24 versagten ihre Zustimmung. Damit war die Landesverfassung für das Land Nordrhein-Westfalen gebilligt.
    Seitdem ist sie 19-mal geändert worden. Das kann man auslegen, wie man will: Knapp 20 Änderungen in 56 Jahren - das zeigt die Güte der Arbeit, die die Väter und Mütter der Verfassung in ihrer Arbeit an den Tag gelegt haben, meinen viele. Noch immer finde sich im Wortlaut der Verfassung der Satz, wonach die Großbetriebe der Grundstoffindustrie in Gemeineigentum zu überführen sind oder dass das Kleingartenwesen zu fördern ist. Für andere sind das Gründe, eine "Modernisierung" der Verfassung zu verlangen. Aber der Grat ist schmal zwischen Neuerungen, die der Aktualität geschuldet sind, und Festlegungen, die ein gutes halbes Jahrhundert zu überdauern imstande sind.
    Jürgen Knepper

    Bildunterschrift:
    Zaungäste bei der Eröffnung des ernannten Landtags NRW am 2. Oktober 1946 im Düsseldorfer Opernhaus. Im Hintergrund die zerstörte Kunsthalle. - Links ein Flugblatt der FDP gegen die Landesverfassung vom Juni 1950.

    ID: LIN02154

  • "Wie Katz' und Hund".
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 15-16 in Ausgabe 11 - 25.10.2006

    Nordrhein-Westfalen, nicht das flächenmäßig größte aber bevölkerungsreichste Bundesland, schreibt seit mehr als 50 Jahren Bundesgeschichte. Durch seine Bodenschätze hat sich das Land zum industriellen Herz und zum Energiezentrum der Republik entwickelt. Seine Exportkraft und seine Innovationsbereitschaft sind permanente Aktivposten. Der Wirtschaft steht die Politik nicht nach. Allein vier deutsche Bundespräsidenten stammen von Rhein und Ruhr.
    Es gibt weitere Bezüge. Das erste konstruktive Misstrauensvotum der noch jungen Bundesrepublik gab es in NRW. 1956 wurde Ministerpräsident Karl Arnold von der CDU gestürzt und durch den SPD-Mann Fritz Steinhoff ersetzt. Es waren die Liberalen des Landes, die eine vom CDU-Bundeskanzler Adenauer betriebene Änderung des Wahlrechts auf die Barrikaden trieb. Der Bonner Regierungschef zog zwar das Gesetz, das auf Bundesebene das Aus für die FDP bedeutet hätte, zurück, aber das nützte Arnold nichts mehr. Der mochte zwar mit Recht in der denkwürdigen Landtagsdebatte am 16. Februar 1956 festhalten: "Ich finde keine echten landespolitischen Gründe dafür, dass Sie dieser Regierung das Misstrauen aussprechen wollen." So habe er den Eindruck, "dass hier die Schlacht in einem falschen Saal geführt wird". Man sei hier nicht in Bonn, sondern in Düsseldorf, darauf machte er – vergeblich – den Antragsteller Hermann Kohlhase von der FDP aufmerksam.
    Der hatte zuvor an den Beschluss seiner Partei erinnert, "die CDU-Wahlrechtsaktion mit dem Kampfmittel der Koalitionsaufkündigung zu beantworten". Dem Ministerpräsidenten, mit dem "wir im bisherigen Teil der Legislaturperiode in einer Zusammenarbeit standen, deren praktische Leistungen wir wahrhaftig nicht verkleinern wollen", hege man keine Animositäten gegenüber. Aber er müsse sich seitens der Liberalen den Vorwurf gefallen lassen, dass er versäumt habe, die seit Monaten erkennbaren Absichten seiner Partei zu bekämpfen und zu Fall zu bringen.
    Der andere Antragsteller, der Abgeordnete Karl Siemsen von der SPD, präsentierte Arnold eine alte Rechnung. Obwohl in früheren Kabinetten SPD-Mitglieder ihre Aufgaben als Minister "auf das beste" erfüllt hätten, seien Sozialdemokraten 1950 aus der Regierung ausgebootet und durch Arnold auch im Jahr 1954 nicht wieder in die Regierung aufgenommen worden. Siemsen wörtlich: "Sie haben diese Entscheidung damals, Herr Ministerpräsident, wahrscheinlich gegen Ihren eigenen Willen getroffen, gegen Ihre eigene Überzeugung. Sie haben sich dem Wunsche von Bonn gefügt." Ihm, Siemsen, komme es nun wie ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit vor, "dass, wenn Sie uns damals aus der Koalition entsprechend dem Wunsche von Bonn herausbugsiert haben, sich jetzt der Wunsch auf Ihre Abberufung auch wieder auf die Verhältnisse in Bonn stützt".
    Der neue Ministerpräsident Fritz Steinhoff regierte dann eine sozialliberale Koalition, die nur zwei Jahre Bestand hatte und nichts an der CDU-Dominanz im Land zu ändern vermochte. So ergriff 1958 wieder ein CDU-Ministerpräsident mit absoluter Mehrheit das Ruder: Franz Meyers regierte acht Jahre lang. Dann war es wieder die FDP im Land, die einem anderen auf den Chefsessel verhalf, diesmal Heinz Kühn (SPD), der zusammen mit Willi Weyer (FDP) die zweite sozialliberale Koalition in Düsseldorf schmiedete.
    Im Wahlkampf 1966 hatte Meyers orakelt, Nordrhein- Westfalen könne bei einem sozialdemokratischen Wahlsieg sich auf "30 Jahre Schweden" gefasst machen. Er meinte, die jahrzehntelange Vorherrschaft der Sozialdemokraten in diesem skandinavischen Land könnte die Menschen an Rhein und Ruhr veranlassen, nicht ihm, sondern der SPD ihre Stimme zu geben. Der Rheinländer Meyers hatte Beachtliches in seiner Bilanz vorzuweisen, etwa die Ansiedlung des Opel-Werks gegen den Widerstand der Ruhrbarone und die Gründung der ersten Ruhrgebiets-Universität, beides in Bochum.
    Politisch hatte er weniger Fortüne. War es ihm 1958 gelungen, die absolute Mehrheit für seine Partei zu holen, so reichte es 1966 nur noch knapp für die Fortsetzung der Regierung mit der FDP. Andere in der CDU, an der Spitze Fraktionschef Wilhelm Lenz, bevorzugten analog zu Bestrebungen auf Bundesebene ein, wie er glaubte, stabileres Bündnis mit der SPD in Düsseldorf. Die FDP bekam von den dahin gehenden Verhandlungen Wind und führte ihrerseits Gespräche mit den Sozialdemokraten. Ergebnis: Die zweite Koalition unter sozialdemokratischer Führung, diesmal wesentlich dauerhafter als die erste. 1969 folgte mit der Regierung Brandt/Scheel die sozialliberale Koalition auf Bundesebene.
    Bei der Landtagswahl 1995 war die Zeit der absoluten Mehrheiten und einer 15-jährigen Alleinregierung für die SPD vorbei. Um am Ruder zu bleiben, musste sie sich einen Koalitionspartner suchen. Das waren, weil die FDP den Sprung in den Landtag knapp verfehlt hatte, die Grünen. Es war für Johannes Rau keine Liebesheirat; ihm wird das Bonmot nachgesagt, er habe "lieber ein Haus im Grünen, als einen Grünen im Haus". Neben Liebes- gibt es ja auch ein Pflichtgefühl. Und das verlangte, diese Koalition auf ihre Tauglichkeit für die Bundespolitik zu prüfen. Die erste rot-grüne Koalition hatte es zwar in Hessen gegeben und dort hatte ein grüner Minister in Turnschuhen seinen Amtseid geleistet, aber das Labor für den Bund lag wieder in Düsseldorf. Die Bundes-SPD unterstützte mit Blick auf die Bundestagswahl 1998 das Experiment Rot- Grün am Rhein.
    In Berlin kam in der Folge nicht nur Freude beim Blick in die Provinz auf. Immer wieder gab es Reibereien zwischen den Koalitionspartnern in Düsseldorf: Garzweiler II, Transrapid, Dortmunder Flughafen, Autobahnspange bei Bochum, Besetzung eines Verwaltungsratspostens bei der WestLB. Auf Rau folgte Clement, auf Clement folgte Steinbrück. Die Namen der Ministerpräsidenten änderten sich, die Schwierigkeiten in der Koalition blieben.
    Als ein grüner Abgeordneter zusammen mit der CDU im Verkehrsausschuss des Landtags gegen ein Projekt der Landesregierung stimmte, wurde in der NRW-SPD nicht mehr hinter vorgehaltener Hand, sondern offen vom Ende der rot-grünen Koalition gesprochen. Die Nerven lagen so blank, dass Steinbrück entschlossen schien, nicht mehr unbedingt Rücksicht auf die rot-grüne Bundesregierung unter Schröder/ Fischer zu nehmen. In Berlin schrillten die Alarmglocken, die Drähte nach Düsseldorf glühten. Steinbrück kam den Grünen entgegen und Rote und Grüne vertrugen sich wieder. Für den Rest der Regierungszeit verabredeten sie das "Düsseldorfer Signal".
    Offenbar war das Bild dieser Koalition für die Wählerinnen und Wähler nicht so verlockend, als es im Mai 2005 zu neuen Landtagswahlen ging. Diese NRW-Wahl galt als Testwahl für den Bund: Entweder Bestätigung für Rot-Grün – dann könnte Rot-Grün auch in Berlin weiter machen – oder die Abwahl. Was dann? Wäre das Votum des nordrheinwestfälischen Souveräns ein Fingerzeig für die künftigen Machtverhältnisse im Bund? Alle Spekulationen waren Makulatur, als SPD-Parteichef Franz Müntefering am Wahlabend des 22. Mai 2005 unter dem Eindruck der nordrheinwestfälischen Wahl Bundestagsneuwahlen für den Herbst ankündigte. Viele erwarteten nach dem Düsseldorfer Ergebnis eine christlich-liberale Koalition auch für Berlin. Wie bekannt, entzogen sich die deutschen Wählerinnen und Wähler diesem Kalkül und sorgten für die (zweite) Große Koalition auf Bundesebene.
    Im Rückblick lässt sich sagen: Zwischen Düsseldorf und Bonn (später Berlin) kann von einem simplen Kommandoverhältnis von oben (Bund) nach unten (Land) nicht die Rede sein. Die politische Interdependenz ist komplexer. Mal lösen bundespolitische Entwicklungen den Reflex im Land aus, mal ist NRW Labor – mit dem Risiko, dass der Versuch fehlschlägt – für Koalitionen und Entwicklungen, die auf den Bund ausgreifen.
    Aber es gibt keine einfachen Gesetzmäßigkeiten. Da erscheint ein viel gebrauchtes geflügeltes Wort wie "Bund und Land, Hand in Hand" wie Lyrik. Viel zutreffender sei ein anderes Bild, das der Politologe Ulrich von Alemann so formuliert: "Land und Bund – wie Katz und Hund". Auf neue Kapitel in diesem "Bestiarium Politicum" darf man gespannt sein.
    JK

    ID: LIN02441

  • Das "Höllenfeuer" wurde nicht entfacht.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 17 in Ausgabe 11 - 25.10.2006

    Es war wie das Perpetuum mobile der Energieerzeugung und schien die Lösung aller Versorgungsprobleme zu sein – der SNR 300, der Schnelle Brüter, der ab 1973 unter Federführung der Siemens-Tochter Interatom und unter Beteiligung der Niederlande und Belgiens bei Kalkar am Niederrhein entstand.
    Seine Väter sagten ihm nach, dass er mehr Brennstoff produzieren würde als er verbraucht. Die hohen Temperaturen beim Brutvorgang waren nur mithilfe von Tonnen flüssigem Natriums im Zaum zu halten. Dieses flüssige Natrium als Kühlmittel war äußerst aggressiv und stellte hohe Anforderungen an die Leitungen, durch die es floss. Kurz: Die Technologie dieser Brutmaschine war höchst komplex, Plutonium war als hoch radioaktiver Stoff bekannt. Aber die Aussicht, hier die "Energie der Zukunft" zu gewinnen, bestärkte die Befürworter. Mit Optimismus und dem für die damalige Zeit typischen Fortschrittsglauben ging man davon aus, dass in den Wiesen am Niederrhein alles beherrschbar bleiben würde.
    Und so wurden für das gefeierte Jahrhundertprojekt im Lauf der Jahre 3,5 Milliarden Euro – in D-Mark das Doppelte – verbaut (anfangs waren die Baukosten mit 780 Millionen DM angegeben worden). Dieses Geld wurde durch deutsche, niederländische und belgische Forschungsmittel sowie Beiträge deutscher Energieversorgungsunternehmen und Kraftwerksbetreiber aufgebracht. Das Bundesland NRW war an der Finanzierung nicht beteiligt. Aber bei der Regierung des Landes lag die Federführung des atomrechtlichen Verfahrens.
    1985 war die Anlage fertig gestellt und betriebsbereit. Ohne dass der Brüter eine Kilowattstunde Strom produzierte, verschlang er in jedem Monat seines Wartestands ungefähr fünf Millionen an Betriebskosten. Um den Brüter herum verstärkte sich der Protest von Atomkraftgegnern und Anwohnern.
    Unbeeindruckt vom Widerstand wurde das Genehmigungsverfahren vorangetrieben, es gab schließlich internationale Verträge. Nur ein einziger Tag veränderte die Lage von Grund auf. Am 26. April 1986 explodierte der Reaktor von Tschernobyl und verstrahlte europaweit Menschen, Tiere, Pflanzen, Luft und Boden. Ein Umdenken setzte ein, das Bevölkerung und Politik erfasste.
    Wer konnte und wollte da noch die Verantwortung für einen Stoff (Plutonium) übernehmen, der eine Halbwertzeit von 24.000 Jahren hat? Die Kernenergie sei eine Technik, die sich schlechthin kein Versagen leisten könne, meinte der Redner in der Plenardebatte des NRW-Landtags am 4. Juni 1986, wenige Wochen nach Tschernobyl, und fuhr fort: "Dann muss man aber doch die Frage stellen, ob eine Technik, die sich kein Versagen leisten kann, überhaupt verantwortbar ist". Der Abgeordnete Friedhelm Farthmann, damals Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion und zuvor Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales, signalisierte mit seinen Worten die Wende der SPD in der (Kern-)Energiepolitik: Ablehnung des SNR 300 und einer Wiederaufarbeitungsanlage für Kernbrennstoffe: "Das Risiko dabei ist viel zu groß". Das Atomgesetz des Bundes müsse geändert werden.
    Farthmann hatte zuvor als Sozialminister zwölf von insgesamt 16 Teilerrichtungsgenehmigungen ausgesprochen, aber die Frage der endgültigen Betriebsgenehmigung immer offen gehalten. Es kam der Sinneswandel: "Man fasst sich heute an den Kopf", erklärte er seinerzeit, wenn man die Gründe höre, die Anfang der 70-er Jahre zum Bau des SNR 300 geführt hätten. Nach Störfällen im Natriumkühlsystem gebe es überhaupt keinen vernünftigen Grund mehr, "dieses Höllenfeuer zu entfachen". So Farthmann vor der Presse nach der Kabinettssitzung in Bielefeld vom 12. Februar 1985. Ein "verheerendes" Gutachten seines Hauses machte ihm klar, dass der Brüter nie in Betrieb gehen würde. NRW distanzierte sich vom Projekt ab und setzte den Bund unter Zugzwang, der für immerhin 60 Prozent der Baukosten geradestehen musste. Für die Landesregierung klappte Minister Reimut Jochimsen (SPD), der den SNR 300 als "Irrtum" ansah, die Akte "Schneller Brüter" endgültig zu. Gegen sein Nein zur Einlagerung der Brennelemente hätte die Bundesregierung in einem jahrelangen Rechtstreit klagen können – und damit das Aus für den Kalkar-Brüter nur umso sicherer herbeigeführt. Bundesforschungsminister Heinz Riesenhuber (CDU) zog die Konsequenz und verzichtete am 21. März 1991 endgültig auf das Vorhaben.
    CDU und FDP im Düsseldorfer Landtag kritisierten, die Landesregierung habe "politische Entscheidungen über Recht und Gesetz gestellt" und den Brüter "tot geprüft". Die Landesregierung wies das zurück: Es seien allein nach dem Atomgesetz technische Mängel und Risiken für das Verdikt ausschlaggebend gewesen. Mochte die kleinere Oppositionsfraktion FDP auch monieren, dass ein Wort wie "Höllenfeuer" für eine "solide" Betrachtungsweise nicht ausreiche, als raffiniert einfaches und einprägsames Schlagwort hatte es Wirkung erzielt und die öffentliche Erörterung – damit indirekt auch die politische Entscheidung – in die gewünschte Richtung gedrängt.
    Die Schlachten um den Schnellen Brüter sind Geschichte. Welche Lehren daraus zu ziehen sind, darüber machen sich heute die Besucher auf dem Gelände des ehemaligen Schnellen Brüters keine Gedanken. Sie amüsieren sich im "Kernwasser- Wunderland" des Holländers Henny van der Most, der den Komplex Ende 1995 gekauft und die Atomruine zum Freizeitpark umgebaut hat. Vom nicht entfachten "Höllenfeuer" zum Vergnügungspark an Rheinkilometer 842 – ein ganz spezieller Fall von Konversion, über den die Meinungen geteilt sein dürften.
    JK

    ID: LIN02442

  • "Wir in Nordrhein-Westfalen".
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 18 in Ausgabe 11 - 25.10.2006

    "Wir in Nordrhein-Westfalen haben viel erreicht. Wir in Nordrhein-Westfalen werden noch viel erreichen. Nordrhein-Westfalen kommt wieder. Dessen bin ich mir ganz sicher". Mit diesen Worten beendete am 13. Juli 2005 der frisch gewählte Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) seine Regierungserklärung vor dem Landtag.
    Wir in Nordrhein-Westfalen" – diese Floskel kam vielen bekannt vor. Kein Wunder, denn sie ist 20 Jahre alt. Am 10. Juni 1985 hatte sie in seiner Regierungserklärung der damalige Ministerpräsident Johannes Rau (SPD) ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gehämmert. Er sagte: "Wir in Nordrhein-Westfalen wissen: Wir leben in einem schönen und starken Land. Wir sind fast 17 Millionen Menschen. Unsere Herkunft ist unterschiedlich, unsere Zukunft ist gemeinsam. Wir leben gerne hier. Vielfalt ist unsere Stärke. Wir sind stolz auf unsere Heimat." Die vier Worte verwendete Rau in dieser Rede nicht weniger als sechsmal. Wie ein roter Faden zogen sie sich durch seine Regierungserklärung.
    Es war ein höchst emotionaler Appell. Er fiel auf fruchtbaren Boden: Tausende von Bürgerinnen und Bürgern pappten den von der Staatskanzlei zu einem Aufkleber verarbeiteten Slogan zusammen mit dem Wappenzeichen stolz an die Kofferraumklappen ihrer Autos. Davon waren nicht alle im Lande begeistert. Die Opposition zum Beispiel sah in Raus Sentenz eine seiner typischen Verharmlosungen und Versuche, die allfälligen Konflikte und Probleme des Landes mit der Soße der Harmonie zu überzuckern. Mit einem Wort: Bloße Parteipolitik. Zugegeben geschickt erfunden von Raus Berater, dem SPD-Parteimanager Bodo Hombach, und von Rau im Landtagswahlkampf virtuos eingesetzt.
    Public Relations für ein Land sei wahrscheinlich aus einer Staatskanzlei "nie wirksam zu organisieren", befand Ministerpräsident Jürgen Rüttgers vor kurzem in einem Zeitungsinterview. Das belegen mannigfache Versuche, dem nordrhein-westfälischen Landesbewusstsein auf die Beine zu helfen und es ähnlich robust und nach Möglichkeit ebenso anfechtungsfrei werden zu lassen wie das bayerische. Jüngst bei den öffentlichen Feiern zum 60-jährigen Jubiläum des Landes wurde auf dem Burgplatz in Düsseldorf unter viel Tam-Tam eine neue NRW-Hymne aus der Taufe gehoben – sie ist noch kein Hit geworden. Ähnlich erfolglos endete der Vorschlag des CDU-Ministerpräsidenten Franz Meyers in den 1960-er Jahren, eine Landeshymne komponieren zu lassen.
    Meyers, den die Suche nach der Identität des Landes umtrieb, probierte es mit einem ganzen Bündel von Maßnahmen. 1963: Preisausschreiben für einen neuen Namen anstelle der ungeliebten Bezeichnung "Nordrhein-Westfalen". Ergebnis: Kurios, die Einsender machten Vorschläge wie "Montana" oder "Sachsofrankonien". Da war das von den Briten erfundene Nordrhein- Westfalen, Kurzformel NRW, immer noch besser. Projekt Landesorden NRW: Meyers erntete Spott auf breiter Ebene. Das Vorhaben wurde fallen gelassen und erst viel später von Johannes Rau wieder aufgegriffen. Heute ist der Landesorden eine angesehene und gern genommene Auszeichnung. "Papa Meyers", wie der populäre Ministerpräsident gern genannt wurde, war doch nicht so erfolglos, wie es den Anschein hatte.
    Ein Indiz für den wachsenden Zusammenhalt im Land ist nicht zuletzt, dass sich zu dieser Zeit nach zähem Ringen die beiden getrennten und in herzlicher Animosität zugeneigten Landesverbände der NRW-CDU, Rheinland und Westfalen, zum Zusammenschluss durchgerungen haben. "Schuld" sind aber auch die Medien, etwa die großen Zeitungen im Land und die vielen lokal verbreiteten Blätter. Sie berichten intensiv aus ihrem näheren und weiteren Umfeld. Auch der Rundfunk des Landes, der WDR, ist mit seinen örtlichen Studios, Regionalprogrammen und einer Sendung wie "Westpol" einer der anerkannten Förderer von NRW-Bewusstsein.
    Und wie immer sind in diesem Zusammenhang auch Personen zu nennen, neben Franz Meyers Johannes Rau, über den Ministerpräsident Jürgen Rüttgers urteilt: "Johannes Rau hat uns das Vermächtnis hinterlassen, dass es eines starken ,Wir-Gefühls‘ bedarf, um gemeinsam Erfolg zu haben. Wenn er in seinen Reden und Ansprachen immer wieder von ,Wir in Nordrhein- Westfalen‘ sprach, dann war das nicht nur ein Slogan, sondern ein Lebensgefühl. Aus ihm sprachen ruhige Kraft und Selbstvertrauen, nicht Überheblichkeit. Johannes Rau festigte ein Landesbewusstsein, das nicht auf Ausgrenzung setzte, sondern zur Gemeinsamkeit einlud."
    In dieser Tradition sieht sich Rüttgers. Er hat das Landesbewusstsein, nachdem es unter seinen Vorgängern Steinbrück und Clement eher nachrangig behandelt wurde, wieder auf die Agenda gesetzt. Ein Jahr nach seinem Amtsantritt als Ministerpräsident des Landes hatte er Gelegenheit, zusammen mit Landtagspräsidentin Regina van Dinther die Feiern zum 60- jährigen Jubiläum des Landes auszurichten. Ein großer Erfolg, die Bürgerinnen und Bürger des Landes strömten Ende August nach Düsseldorf. Dabei will man es nicht bewenden lassen: Künftig soll jedes Jahr der Geburtstag des Landes begangen werden – reihum im Land, damit sich niemand ausgeschlossen und jeder einbezogen fühlt.
    JK

    ID: LIN02443

  • Dr. Rüttgers, Jürgen (Ministerpräsident); Dr. Pinkwart, Andreas (FDP); Kraft, Hannelore (SPD); Löhrmann, Sylvia (Grüne)
    Die Zukunft im Blick.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 19-21 in Ausgabe 11 - 25.10.2006

    Von Helmut Breuer

    Rheinländer und Westfalen haben den 60. Geburtstag ihres großen Bundeslandes fröhlich gefeiert; Landesregierung und jetzt auch das Landesparlament haben dieses markante Datum feierlich gewürdigt. Doch wie bei Jubiläen dieser Art üblich, weckt das Fest Gedanken an die Zukunft, und die wirft die Frage auf, wie sich Nordrhein-Westfalen in den nächsten Jahrzehnten entwickeln wird.
    Der neue CDU-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers sieht sich vor besondere Herausforderungen gestellt: Die dramatische Haushaltslage, die immer noch signifikant hohe Arbeitslosigkeit, das durch die PISA-Studien dokumentierte schwache Schulsystem und das gerade erst durch die Wahl der ersten drei Elite-Universitäten im Süden Deutschlands sichtbar gewordene niedrigere Niveau der zahlreichen Hochschulen an Rhein und Ruhr sind große Aufgaben für die Zukunft.
    Was lag näher, als die vier wichtigsten Politiker des Landes zu bitten, ihre Zukunftsperspektive vorzustellen. Der Ministerpräsident und CDU-Landesvorsitzende Jürgen Rüttgers, sein Kabinetts-Stellvertreter und FDP-Landesvorsitzende Andreas Pinkwart, die SPD-Oppositionsführerin Hannelore Kraft und Sylvia Löhrmann, Fraktionsvorsitzende der GRÜNEN, wagen an dieser Stelle einen Blick in die Zukunft.

    Rüttgers: Land der neuen Chancen

    "Wir wollen NRW zum Land der neuen Chancen machen. Unser Ziel ist die Wiederbelebung der sozialen Marktwirtschaft und die Rückbesinnung auf unser Wertefundament, das ihr zugrunde liegt. Deshalb wollen wir gemeinsam die Proportionen wieder zurechtrücken, die aus dem Lot geraten sind. Wir müssen die Wirklichkeit wieder so zur Kenntnis nehmen, wie sie ist. Verteilt werden kann nur das, was vorher erwirtschaftet wird. Das weiß jeder Privatmann. Und auch der Staat muss das wieder beherzigen.
    Deshalb sanieren wir die Landesfinanzen, um neue Spielräume für Investitionen in Infrastrukturen, Innovation und Bildung zu gewinnen. Wir müssen Schulden abbauen und unser Land gleichzeitig für die Zukunft fit machen. Wir haben keinen leichten Weg eingeschlagen. Wir wollen, dass der Landeshaushalt 2010 wieder verfassungsfest ist, das heißt, dass die Summe der Investitionen größer ist als die Neuverschuldung.
    Aber die Sanierung des Haushaltes ist kein Patentrezept, um Zukunft zu gestalten. Deshalb setzt die Landesregierung gezielte Schwerpunkte: Vor allem in der Wirtschaftspolitik. Wir stehen für die Wiederbelebung der Sozialen Marktwirtschaft. Wir setzen auf mehr Selbstbestimmung und Selbstverantwortung und schaffen einen verlässlichen Ordnungsrahmen. Daraus folgt zum Beispiel, dass wir Investitionen in Infrastrukturen ermöglichen, die das Industrieland NRW nach vorne bringen. Wir bauen Bürokratie wirksam ab. Zudem konzentrieren wir die Landesförderung stärker als bisher auf Mittelständler, Existenzgründer und Forschung und Entwicklung. Wir sind "Aufsteiger Nr. 1" in Deutschland. Das sagen nicht wir - das sagen die Wirtschaftsexperten von Ernst & Young, die alle Bundesländer genau unter die Lupe genommen haben.
    Ich will ein Land, in dem Kinder alle Chancen haben. Der Schlüssel dazu liegt in der Bildung. Kinder, die heute geboren werden, machen künftig schnellere und bessere Schulabschlüsse. Und sie werden Universitäten und Berufskollegs besuchen, die international ganz vorne mitspielen. Mit einer umfassenden Schulreform schaffen wir in NRW ein modernes Bildungssystem. Dabei setzen wir auf mehr Selbstbestimmung, mehr Leistung und mehr soziale Gerechtigkeit. Im Mittelpunkt steht die bessere individuelle Förderung aller Schülerinnen und Schüler. Dazu gehört dann auch, dass wir zusätzliche Lehrerstellen gegen den Unterrichtsausfall schaffen.
    Mit dem Hochschulfreiheitsgesetz und dem Studienbeitragsgesetz geben wir unseren Hochschulen endlich die Möglichkeit, starke Profile in Forschung und Lehre zu entwickeln. Zudem setzen wir uns gemeinsam mit der Wirtschaft für zusätzliche außeruniversitäre Forschungskapazitäten ein, damit NRW Innovationsland Nr. 1 wird. Wir wollen NRW zu einem kinderfreundlichen Land machen. Die Familien haben einen Anspruch darauf, dass wir ihnen helfen, Kinder und Beruf zu vereinbaren. Und unsere Kinder haben einen Anspruch darauf, dass wir sie so früh wie möglich so gut wie möglich fördern. Deshalb stellen wir in diesem Jahr für Kinder, Jugend und Bildung über eine viertel Milliarde Euro mehr zur Verfügung als noch im vergangenen Jahr. Deshalb schaffen wir ein flächendeckendes Netz von Familienzentren, die Kinderbetreuung, frühkindliche Bildung und Familienberatung bündeln. Und deshalb verstärken wir die frühkindliche Sprachförderung.
    In Zeiten gravierender Veränderungen helfen Kunst und Kultur, neue Entwicklungen zu verstehen. Daher setzen wir einen besonderen Schwerpunkt auf die Förderung der Kultur. Denn Kunst und Kultur sind ebenfalls Motoren für die Innovationsfähigkeit unserer Gesellschaft. Sie zeigen, was Menschen durch ein gemeinsames Ziel und eine gemeinsame Identität erreichen können. Die erfolgreiche Bewerbung Essens und des Ruhrgebiets um die Kulturhauptstadt 2010 ist dafür ein herausragender Beweis.
    Gesunde Finanzen, moderne Industrien, bessere Schulen und Universitäten, kinderfreundliche Angebote für Mütter, Väter und Kinder, ein Herz für Kunst und Kultur: Damit machen wir unser schönes Land fit für die Zukunft. Mit neuen Chancen für alle."

    Andreas Pinkwart: Ein riesiger Kraftakt

    "Das Land Nordrhein-Westfalen steht vor immensen Herausforderungen. Der Landeshaushalt ist nicht verfassungskonform, die Arbeitslosenquote liegt bei über elf Prozent, die Pisa-Studie attestiert den Kindern schlechtere Bildungschancen als andernorts, wir haben zwar die dichteste, aber leider - Stichwort Exzellenzinitiative - noch lange nicht die beste Hochschullandschaft, Schlüsseltechnologien und zukunftsträchtige Forschungsbereiche wurden jahrelang aus ideologischen Motiven ausgebremst. Besonders dramatisch: Bei den Investitionen in Forschung und Entwicklung (F+E) liegt Nordrhein-Westfalen nicht nur weit hinter dem Lissabon-Ziel von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts, sondern auch mit großem Abstand hinter dem Bundesdurchschnitt. Bund und Land haben hier in NRW in den vergangenen Jahren genau die gleiche Summe in die Subventionierung der Steinkohle investiert wie in Forschung und Entwicklung.
    Dem gegenüber steht ein enormes Potenzial: NRW stünde als eigenes Land auf Platz 14 der wirtschaftsstärksten Staaten in der Welt, jeder vierte Student in Deutschland wird an unseren Hochschulen ausgebildet. Wir haben starke Unternehmen und exzellente Forschungseinrichtungen - nur eben noch nicht genug. Warum ich die Zukunft Nordrhein- Westfalens trotzdem optimistisch beurteile und warum wir als neue Landesregierung große Chancen sehen, unsere ambitionierten Ziele zu erreichen? Weil die Menschen in unserem Land auf einen klaren, zukunftsweisenden Kurs der Politik gewartet haben. Sie wollen den Mentalitätswechsel mittragen, sich beteiligen, ihre neue Gestaltungsfreiheit nutzen und Verantwortung übernehmen.
    Zum Beispiel in der Bildungspolitik. Wir brauchen einen grundsätzlichen Mentalitätswechsel. Nicht Mittelmaß darf der Maßstab sein, sondern Wettbewerb und Exzellenz. Das neue Schulgesetz, Studienbeitragsgesetz und Hochschulfreiheitsgesetz werden viel bewirken: Mehr individuelle Förderung für die Schüler, bessere Studienbedingungen, mehr Gestaltungsspielräume und Leistungsanreize für Schulen und Hochschulen. Zum Beispiel in der Innovationspolitik. Unsere Innovationsstrategie folgt einem klaren Grundsatz: Kreativität freisetzen und Kräfte bündeln. Dazu erhöhen wir die Landesmittel für Wissenschaft und Technologie, und wir werben bei Partnern gezielt für die Stärken unseres Landes.
    Wir haben uns zum Ziel gesetzt, 2015 Innovationsland Nr. 1 in Deutschland zu sein. Dies können wir erreichen, aber wir werden riesige Anstrengungen unternehmen müssen. Dazu gehört, einen ausgeglichenen Haushalt vorzuweisen, damit wieder Gestaltungsspielräume entstehen. Wir müssen so schnell wie möglich raus aus den Steinkohle-Subventionen und das Geld stattdessen in Forschung und Entwicklung investieren. Wir müssen Bürokratielasten abbauen, ideologische Barrieren in der Energie-, Stammzell- und Genforschung aufgeben. Wir müssen strategisch bedeutende Projekte bei der Verkehrsinfrastruktur vorantreiben, auch in der Flughafenpolitik.
    Angesichts der Ausgangslage, die wir nach Jahren der Stillstandspolitik in NRW vorgefunden haben, wird diese Aufholjagd ein riesiger Kraftakt. Wir brauchen einen klaren Kurs, Tatkraft und Begeisterung - und wir brauchen vor allem Partner, die anpacken und gemeinsam etwas bewegen wollen. Die CDU/FDPLandesregierung hat in ihrem ersten Jahr viele wichtige Weichen gestellt, Unternehmen fassen wieder Vertrauen in den Standort. Menschen finden wieder Rahmenbedingungen, die ermutigen. Die Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft kann gelingen - aber Zeit hat unser Land nicht mehr zu verlieren."

    Hannelore Kraft: Land mit Kraft und Gewicht

    "Nordrhein-Westfalen, ein Bundesland mit Kraft und Gewicht: Das industrielle Herz Deutschlands, der wichtigste Wirtschaftsstandort, mit 18 Millionen Einwohnern im Zentrum der EU größer als alle seine Nachbarn, die dichteste Hochschullandschaft Europas. . . Die Liste ließe sich beliebig fortführen. Aber wirklich mit Stolz erfüllt mich, dass die traditionelle Weltoffenheit und Toleranz seiner Menschen Nordrhein-Westfalen in den vergangenen 60 Jahren zu einer sympathischen und dynamischen europäischen Region gemacht haben.
    Doch NRW ist auch ein Bundesland, das große Herausforderungen zu meistern hat: Der Strukturwandel, Arbeitslosigkeit, Wandel zur Wissensgesellschaft - es gibt viel zu tun. Deshalb ist es wichtig, nach vorne zu schauen. Mir liegt das "Unternehmen Zukunft NRW" am Herzen.
    Viele Menschen bedrücken Sorgen. Auf der einen Seite ist das Sicherheitsgefühl früherer Jahre auf vielen Ebenen verloren gegangen. Auf der anderen Seite vermittelt die Zukunft vielen Menschen zu wenig Zuversicht. Das schürt Zukunftsängste. Deshalb erwarten die Bürgerinnen und Bürger Orientierung.
    Wo soll NRW in 20, 40, 60 Jahren stehen?
    Wir müssen dafür arbeiten, dass NRW dann ein Bildungsland ist: Das Wissen in den Köpfen unserer jungen Menschen ist der wichtigste "Rohstoff" für unsere Zukunft. Chancengerechtigkeit ist deshalb eines der obersten Ziele. Wir können es uns schlicht nicht leisten, Talente am Wegesrand zurück zu lassen.
    Die heute viel zu frühe Aufteilung von Jungen und Mädchen nach der Klasse 4 ist in einigen Jahren längst in die schulpolitische Abstellkammer ausrangiert. Schulische Karriere ist allein Ergebnis persönlicher Leistungsfähigkeit jeden einzelnen Kindes - unabhängig von sozialem Hintergrund und Leistungsfähigkeit des Elternhauses. Die Kinder lernen länger gemeinsam, werden gezielt individuell gefördert. Nachhilfeschulen werden nicht mehr gebraucht. Die in den vergangenen Jahren eingeleiteten Schritte zum Ausbau der Ganztagsbetreuung sind inzwischen umfassend umgesetzt. NRW ist nicht mehr Schlusslicht bei den Krippenplätzen, sondern Spitzenreiter.
    Die Wirtschaft hat mit Hilfe des Landes die Fehler der Vergangenheit korrigiert und Ausbildung als Investition in die eigene Zukunft erkannt und angenommen. Die Verbesserung des Bildungssystems hat Früchte getragen. Die Unternehmen konkurrieren um die jungen Menschen als ihr Zukunftskapital schlechthin. Ausbildungslücke ist ein Unwort früherer Zeiten.
    Wir in NRW vergeuden kein Talent. Im Gegenteil, die besten jungen Wissenschaftler aus aller Welt machen NRW zusammen mit exzellenten Hochschulen und international bedeutenden Forschungseinrichtungen zu einer Region mit weltweit beachteten Spitzenleistungen in Zukunftsfeldern der Entwicklung und Forschung. Die Wirtschaft hat dieses innovative Umfeld für sich entdeckt und verstärkt die Forschungsleistungen mit überdurchschnittlichen eigenen Investitionen in diesen Bereich.
    Die Folgen einer konsequent auf Familie und Kinder ausgerichteten Politik sind für das Land erfreulich: Die Anfang des Jahrhunderts noch stark sinkende Geburtenquote steigt wieder deutlich an.
    Essen als Kulturhauptstadt Europas 2010 hat seine Strahlkraft entfaltet. Das Ruhrgebiet wird als international bedeutsame, lebendige Kulturregion wahrgenommen. Insgesamt hat NRW einen guten Namen in der globalen Kulturszene.
    Zu guter Letzt noch mein Wunsch als sportbegeisterte Bürgerin: Das Jahr 2006 hat der internationalen Sportwelt gezeigt, dass NRW ein hervorragender Gastgeber gewesen ist. Die fantastischen Fans haben ihren Beitrag dazu geleistet. So gibt NRW auch im Sport den Ton unter den Bundesländern an - als Gastgeber Olympischer Spiele."

    Sylvia Löhrmann: Die Zukunft ist grün

    "NRW ist ein tolles, attraktives und grünes Land. Die Grünen sind die Garanten dafür, dass das so bleibt. Mit diesem Selbstbewusstsein stellen wir uns den entscheidenden Zukunftsfeldern: Demographischer Wandel, Globalisierung, Übergang zur Wissensgesellschaft sowie die drohende Klimakatastrophe und die Ressourcenverknappung. In all diesen Feldern braucht unser Land Lösungsansätze mit dem sich durchziehenden grünen Faden der Nachhaltigkeit.
    Es kommt darauf an, den sozialen Zusammenhalt zu stärken: In der Gesellschaft, innerhalb einer Generation und zwischen Generationen, zwischen den Metropolen und den ländlichen Regionen, zwischen alten Mehrheiten und neuen Minderheiten. Wir müssen alles dafür tun, die natürlichen Lebensgrundlagen für unsere Kinder und Kindeskinder zu schützen.
    Die Globalisierung löst Ängste aus. Umso dringlicher benötigen wir weiterentwickelte soziale Schutzmechanismen und neues wirtschaftliches Denken. Dazu braucht es Identität stiftende Visionen und ein nachhaltig wirksames, langfristig angelegtes Konzept. Grüne Marktwirtschaft verbindet Solidarität mit Zukunftschancen in innovativen Technologie- und Wirtschaftsfeldern. Grüne Marktwirtschaft ist soziale Marktwirtschaft plus Nachhaltigkeit und plus Innovation.
    Das grüne Kernthema bleibt die Ökologie. Gesundes Essen, weniger Staub und Lärm, mehr Verbraucherrechte: Essentials, für die wir neue Zustimmung gewinnen wollen.
    Angesichts des dramatischen weltweiten Klimawandels steht derzeit gerade für unser Energieland NRW die Energiepolitik im Focus. Wir müssen weg vom Öl - im Sinne einer volkswirtschaftlichen Gesamtstrategie. Das ist unabdingbar mit Blick auf die kommenden Generationen und mit Blick auf den weltweiten Energiebedarf und die Energiepreise. Diese Strategie - "weg vom Öl", hin zu erneuerbaren Energien - löst eine neue wirtschaftliche Entwicklung aus mit einem enormen Potenzial an zukunftsfähigen Arbeitsplätzen. Dazu gehört auch der Ausstieg aus den Milliardensubventionen für die Kohle. Es gibt Wichtigeres, wofür das Land Geld ausgeben muss: Kinder statt Kohle.
    Der Dauerbrenner PISA legt immer wieder den Finger in die offene Wunde: NRW schafft es nicht, die Bildungspotenziale seiner Menschen zu entwickeln. Der Zugang für alle Kinder und Jugendlichen zu einer qualifizierten Bildung ist die wichtigste Ressource der Zukunft. Bessere Leistungen in der Spitze wie in der Breite, darauf kommt es an. Das kann nur gelingen, wenn Vielfalt und individuelle Förderung zusammen kommen, und nicht, wenn Kinder schon mit neun bis zehn Jahren in "Schulform-Schubladen" gesteckt werden. Nur Menschen mit guter Bildung und dem Willen zur Leistung können auf ein hohes Einkommen hoffen - nur ein Land mit sehr gut qualifizierter Bevölkerung und dem politischen Willen zur Spitze kann auf Dauer seinen Menschen ein gutes Auskommen sichern! Nur wenn auch den Migrantinnen und Migranten eine sehr gute Bildung ermöglicht wird, kann die Integration weiter Teile der Bevölkerung gelingen."

    ID: LIN02444

  • NRW im Visier des Terrors?
    Editorial / Kommentar / Blickpunkt;
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 2 in Ausgabe 10 - 27.09.2006

    Die versuchten Anschläge auf Regionalzüge zeigen: Nordrhein-Westfalen ist in den Blick islamistischer Täter geraten. Fünf Jahre nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York hat die Bedrohung durch den Terror unser Land erreicht.
    So weit die Ermittler wissen, sind die Terroristen hierzulande nicht Al Qaida-Mitglieder, die Bin Laden hergeschickt hat, um ihre Untaten zu begehen. Es sind hier lebende junge Leute, zum Teil mit deutschem Pass.
    Das gibt zu denken. War doch in der Vergangenheit oft genug die Bereitschaft, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen, ein augenfälliger Beweis dafür, dass sich Migranten in unsere Gesellschaft integrieren wollen. Wer die Hürden der Einbürgerung genommen hat, der wird auch nicht bomben, so die unausgesprochene Erwartung. Das war vielleicht ein wenig voreilig und durch die Erfahrungen aus den Anschlägen in London und Madrid nicht gedeckt.
    Doppelstrategie
    Die Aufgabe der Beobachtung mit nachrichtendienstlichen Mitteln wird nicht leichter, wenn der Gegner keinem Netzwerk zuzuordnen ist, sondern auf sich allein gestellt agiert. Wenn kein Schatten eines Anfangsverdachts auf ihn fällt.
    Also was tun? Die Videoüberwachung an Bahnhöfen ausweiten, die Öffentlichkeit zur Wachsamkeit mahnen, den Überwachungsdruck durch die gerade beschlossene Anti-Terror- Datei erhöhen? Die Gesetze verschärfen, ihren Vollzug optimieren? Wie passt das alles zu einer demokratischen, freien und im globalen Wettbewerb stehenden Gesellschaft?
    Der Landtag hat sich in jüngster Zeit mehrfach damit auseinandergesetzt - auf seine Weise. An einem Tag der Plenarsitzung wurde über die Änderung des Verfassungsschutzgesetzes beraten und die Regierung gab Auskunft über die Sicherheitslage im Land. Am anderen warben die Abgeordneten darum, mehr Menschen mit Migrationshintergrund in die Polizei und in den öffentlichen Dienst aufzunehmen. In der Ausschussberatung ging es darum, wie islamischer Religionsunterricht zu organisieren ist. So schwer es ist - Generalverdacht gegen eine Gruppe unserer Gesellschaft hilft nicht weiter. Den Extremisten auf die Finger schauen und in den Integrationsangeboten nicht nachlassen, also das eine tun, ohne das andere zu lassen - das ist die "Doppelstrategie", zu der es keine Alternative gibt.
    JK

    ID: LIN02338

  • "Ohne Wenn und Aber".
    Abgeordnete wollen mehr Migranten für den Polizeidienst qualifizieren.
    Titelthema / Schwerpunkt;
    Plenarbericht
    S. 13 in Ausgabe 10 - 27.09.2006

    Mit mehr Migranten wollen die Landtagsfraktionen die Polizei und den gesamten öffentlichen Dienst in NRW verstärken. Darüber diskutierten die Abgeordneten im Plenum auf Antrag von CDU und FDP (Drs. 14/2417). Eine Steigerung der Bewerberzahl von Migranten für den Polizeidienst sei notwendig, um die nationale Identität von Zuwanderern zu fördern. Die Zahlen der Polizeibeamten mit Migrationshintergrund ließen derzeit zu wünschen übrig: Von insgesamt 480 Einstellungen in den nordrhein-westfälischen Polizeidienst entfielen im vergangenen Jahr lediglich 30 auf Migranten. Die Grünen wollen in ihrem Entschließungsantrag (Drs. 14/2545) das nicht bloß auf den Bereich der Polizei beschränkt wissen. Sie verlangen Maßnahmen, um den Anteil von Migranten am gesamten öffentlichen Dienst von derzeit höchstens 2,5 Prozent anzuheben. Einstimmigkeit im Plenum bei der Überweisung der Anträge an den federführenden Innenausschuss.
    Peter Preuß (CDU) betonte, Migranten könnten das Leistungsspektrum der Polizei spürbar durch landeskundliches Wissen und den Abbau von Verständigungsproblemen erhöhen. Die hohe Sach- und Fachkompetenz der Polizei schaffe in der Bevölkerung hohes Vertrauen. Man müsse jetzt die Initiative ergreifen, um die seit 2003 rückläufige Tendenz der ausländischen Bewerber für den Polizeidienst zu stoppen und mehr Menschen für den Polizeidienst zu gewinnen. Da jeder vierte Einwohner in NRW einen Migrationshintergrund habe, forderte Preuß eine "volle Integration" dieser Bevölkerungsgruppe in den Polizeidienst.
    Horst Engel (FDP) verdeutlichte: "Polizist zu sein, heißt Verantwortung für Sicherheit zu übernehmen." Daher werde von den Polizisten verlangt, dass sie Situationen richtig einschätzen und verstehen. Migranten im Polizeidienst seien von großer Bedeutung, besonders im Umgang mit Landsleuten. "Das wichtigste Werkzeug der Polizei ist das Wort", wies Engel auf die Überwindung von Sprachbarrieren hin. Der Landtag müsse künftig die Ressourcen der weltoffenen Gesellschaft in NRW stärker fördern, um so Migranten für den Polizeiberuf zu interessieren.
    Sören Link (SPD) sah dringenden Handlungsbedarf, da der prozentuale Anteil von Migranten im öffentlichen Dienst nicht mit dem Anteil an der Gesamtbevölkerung in NRW übereinstimmt. Er kenne jedoch das Problem, dass viele Migranten die formalen Zugangsvoraussetzungen für den Polizeidienst nicht erfüllten; Bewerber müssen Abitur oder Fachabitur vorweisen können. Link kritisierte in diesem Zusammenhang das Schulgesetz der schwarz-gelben Koalition, welches nach seiner Meinung die sozialen Ungerechtigkeiten in Bildungsfragen zementiere. "Wir müssen bei der Ausbildung mehr Chancen und Perspektiven für alle Kinder schaffen", forderte er.
    Monika Düker (GRÜNE) begrüßte den Antrag von CDU und FDP, da dieser eine "Annäherung an die Einwanderungsgesellschaft" bedeute. Sie kritisierte aber auch, dass der Antrag nicht konkret genug und daher nur ein "Schau-Antrag" sei. Ihre Fraktion habe darum einen eigenen Entschließungsantrag in die Debatte eingebracht. Darin forderten die Grünen, die stärkere Integration von Migranten auch auf andere Berufsfelder zu übertragen. So sei etwa der Anteil von Migranten in der kommunalen Verwaltung mit rund zwei Prozent an der Zahl aller Beschäftigten verschwindend gering. Zugleich forderte die Abgeordnete, die Schulpolitik müsse das Problem stärker berücksichtigen. "An den Hauptschulen hat jeder fünfte Schüler einen Migrationshintergrund, an Gymnasien dagegen nur jeder 20. Jugendliche."
    Innenminister Dr. Ingo Wolf (FDP) verwies darauf, dass in NRW bereits seit 1993 ausländische Bewerber in den Polizeidienst eingestellt werden. Durch eine frühe sprachliche Förderung müsse es gelingen, dass sich mehr Migranten für den Beruf qualifizieren. "Die ethnische Vielfalt unserer Bevölkerung muss sich auch in den Institutionen des Staates wiederfinden", betonte der Minister. Er befürwortet eine Integration ohne Kompromisse: "Wer Polizist in Nordrhein- Westfalen ist, gehört zur Polizei dieses Landes - ohne Wenn und Aber."

    Bildunterschrift:
    Schier allgegenwärtig: Mustafa Müller, Kontaktbeamter "mit Migrationshintergrund" in Münster und Polizeiobermeister, erklärt Kindern die Fußgängerampel, sucht mit Migranten in ihren Gebetsräumen, Freizeiteinrichtungen und Lokalen den Dialog - kurz, er ist gern gesehener und vertrauenswürdiger Ansprechpartner in vielen Alltagsfragen.

    ID: LIN01331

  • Verfassungsschutz erhält mehr Befugnisse.
    Opposition befürchtet zu weitreichende Eingriffe in die Bürgerrechte.
    Titelthema / Schwerpunkt;
    Plenarbericht
    S. 14 in Ausgabe 10 - 27.09.2006

    Die Landesregierung plant die Befugnisse des Verfassungsschutzes auszuweiten, um der Bedrohung durch so genannte "home-grown terrorists" - Islamisten mit deutscher Staatsangehörigkeit - besser begegnen zu können. Der dazu vorgelegte Gesetzentwurf (Drs. 14/2211) soll für Rechtssicherheit sorgen, wenn es darum geht, Kontodaten, Telefone und Computer von Terrorverdächtigen zu überwachen. Die Opposition lehnt den Entwurf als verfassungswidrig ab: Die Unverletzlichkeit der Privatsphäre sei damit nicht mehr gewährleistet.
    Innenminister Dr. Ingo Wolf (FDP) verteidigte den Entwurf, um der gegenwärtigen Bedrohungslage "mit angemessenen rechtlichen Instrumenten" begegnen zu können. Dabei müsse jedoch die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit gewahrt bleiben. Er forderte, die Überwachungsbefugnisse des Verfassungsschutzes zu erweitern. Die Abfrage von Konto-Bewegungen oder die Kontrolle von Telefon-, E-Mail- und Internetverbindungen seien "nur dann zulässig, wenn hinreichend Anhaltspunkte für schwere Gefahren vorliegen". Als für die Sicherheit des Landes verantwortlicher Minister wolle er wissen, "welche Extremisten sich Anleitungen zum Bombenbauen aus dem Internet ziehen und wer in verdeckten Chatrooms über geeignete Anschlagsziele diskutiert". Es sei völlig abwegig, darin einen Verstoß gegen das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung oder "elektronischen Hausfriedensbruch" zu wittern.
    Dr. Karsten Rudolph (SPD) warnte vor zu weitreichenden Eingriffen in die Persönlichkeitsrechte der Bürger. So biete der Hinweis, dass die ausgeweiteten Überwachungsmöglichkeiten "nur in Fällen der schwerwiegenden Gefahr" Anwendung finden dürfen, eine zu große Interpretationsspanne. Darüber hinaus trage der Gesetzentwurf dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht Rechnung, wonach die akustische Wohnraumüberwachung verfassungswidrig ist. An den Minister gewandt: "Sie leisten dem Land keinen Dienst, wenn Sie eine Novelle verabschieden, die offenkundig verfassungswidrig ist." Zudem habe er schwerwiegende Bedenken hinsichtlich des Auslesens von Daten von Privatcomputern: "Sie greifen mit Ihrem Vorschlag zum ersten Mal auf Kommunikationsinhalte zu, die sich auf den Festplatten von privaten PC in Wohnzimmern befinden."
    Peter Biesenbach (CDU) versuchte die Bedenken seines Vorredners zu entkräften: "Sie haben heute ein Beispiel dafür abgeliefert, wie mühsam es für einen Redner ist, Kritik zu finden, wenn es keinen Grund zur Kritik gibt." An dem Entwurf gebe es nichts auszusetzen. Die Befugnisse des Verfassungsschutzes würden lediglich auf die neuen technischen Möglichkeiten erweitert. "Wir wollen nicht, dass der Verfassungsschutz mit dem Fahrrad fahren muss, während die anderen mit dem Auto unterwegs sind." Zudem wies er den Vorwurf, das Gesetz berge die Gefahr von willkürlichen Entscheidungen, mit Nachdruck zurück: Die vom Landtag eingesetzte G 10-Kommission müsse vorab jeder Maßnahme zustimmen, darüber hinaus muss der Verfassungsschutz das parlamentarische Kontrollgremium über jede Maßnahme unterrichten. Dadurch gewinne das gesamte Verfahren an Transparenz.
    Monika Düker (GRÜNE) warf der Landesregierung vor, mit dem Gesetzentwurf "den Boden der Verfassung" zu verlassen. Der Entwurf lasse die Bestimmtheit des Tatbestandes vermissen, um Überwachungsmaßnahmen zuzulassen. "Das heißt übersetzt: Das, was nach den Ereignissen des 11. Septembers 2001 als zusätzliche besondere Befugnisse unter der Voraussetzung einer Gefahrenlage geschaffen wurde, wird hier durch die Hintertür zum Standardinstrument des Verfassungsschutzes." Damit instrumentalisiere der Minister die Terrorismusdebatte zulasten der Bürgerrechte. Der grünen Fraktion gehe es nicht darum, den Staat wehrlos zu machen. "Es geht darum, in einem wehrhaften Staat die rechtsstaatlichen Leitplanken zu beachten." Diese Sorgfaltspflicht und Sensibilität lasse der Entwurf nicht erkennen.
    Dr. Robert Orth (FDP) forderte mehr Sachlichkeit in der Debatte. "Natürlich kann man darüber streiten, ob es sinnvoll ist, Extremisten und Terroristen gleich zu behandeln." So, wie der Übergang zwischen inländischen und ausländischen Terroristen fließend sei, so sei auch der Übergang zwischen Terrorismus und Extremismus fließend. "Es gibt keine saubere Definition und Abgrenzung an dieser Stelle." Der Gesetzentwurf sehe bis 2009 eine Evaluierung vor. "Dann werden wir sehen, ob sich einzelne Maßnahmen bewähren", so Orth. Bei dem Gesetzentwurf könne es sich nur um eine Momentaufnahme handeln, die immer wieder nachjustiert werden müsse. "Ich erhoffe mir, dass sich die Bedrohungslage so entwickelt, dass wir wieder der Freiheit an der einen oder anderen Stelle mehr Raum geben können."

    Bildunterschrift:
    Besonders aktuell - der Bericht des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes. Sein Leiter Dr. Hartwig Möller präsentiert die aktuelle Ausgabe, die sich auf das Jahr 2005 bezieht. Der Bericht stand jüngst auf der Tagesordnung des Hauptausschusses.

    ID: LIN01333

  • NRW schiebt "islamistische Gefährder" ab.
    Innenminister warnt vor Generalverdacht gegen Muslime in Deutschland.
    Titelthema / Schwerpunkt;
    Plenarbericht
    S. 15 in Ausgabe 10 - 27.09.2006

    Durch die Anschlagsversuche in Dortmund und Koblenz sah sich die Landesregierung veranlasst, den Landtag über die derzeitige Sicherheitslage in NRW zu informieren. Im Anschluss an die Unterrichtung durch den Innenminister diskutierten die Abgeordneten Möglichkeiten, den Anti-Terror-Kampf zu optimieren.
    Innenminister Dr. Ingo Wolf (FDP) versicherte, die Landesregierung tue alles, was notwendig ist, um den Herausforderungen des internationalen Terrorismus zu begegnen. Deutschland sei nicht nur Ruhe- und Rückzugsraum für islamistische Terroristen, sondern Teil eines weltweiten Gefahrenraums. Die jüngsten Anschlagsversuche hätten dies konkretisiert. Im Rahmen eines ganzheitlichen Ansatzes zur Bekämpfung ausländischer islamistischer Gefährder gelte es, aufenthaltsrechtliche Handlungsmöglichkeiten möglichst frühzeitig, umfassend und konsequent zu nutzen. Eine dieser Personen konnte bereits ausgewiesen und abgeschoben werden, weitere Fälle seien in der Vorbereitung, so der Innenminister. Die konsequente Bekämpfung islamistischer Terroristen dürfe jedoch nicht dazu führen, dass Muslime in Deutschland unter Generalverdacht gelangen. Ebenso warnte er vor einem schon reflexartigen Ruf nach verschärften Gesetzen und Sicherheitsmaßnahmen. An einem solchen "Überbietungswettbewerb" werde er sich nicht beteiligen. "Bei uns gilt der Grundsatz: Gesetzesvollzug geht vor Gesetzesverschärfung." So komme auch eine flächendeckende Videoüberwachung für ihn nicht in Betracht. "Wir wollen keinen Orwellschen Überwachungsstaat!" Stattdessen müsse die Vernetzung von Informationen der Sicherheitsbehörden verbessert werden. "Deshalb brauchen wir möglichst schnell eine Antiterrordatei."
    Dr. Karsten Rudolph (SPD) sprach von großem praktischen Handlungsbedarf zur Verbesserung der Terrorismusbekämpfung: Die Einrichtung eines zentralen Terrorabwehrzentrums in Berlin sei ein wichtiger Schritt nach vorn. Zudem sprach er sich in Zusammenhang mit der Antiterrordatei für eine "mit einigen Personendaten kombinierte Indexdatei", für eine Intensivierung des Dialogs mit den moderaten islamischen Gruppen und für die Einrichtung einer neuen Notrufnummer 113 aus, über die sich Bürger direkt an die Terrorbekämpfung wenden können, wenn sie beispielsweise herrenlose Koffer entdecken. Rudolph betonte: "Die beste Sicherheitspolitik besteht nach wie vor in einer klugen Außenpolitik."
    Theo Kruse (CDU) bezeichnete den islamistischen Terrorismus als vollkommen neue Herausforderung und Art der Bedrohung: "Die Terroristen sind keine religiös verführten Menschen, die man mittels Sozialpolitik von ihrem Weg abbringen kann. Es handelt sich um Feinde. Sie sind gefährliche Individuen, nicht falsch handelnde Bürger." Zudem habe sich das einst festgefügte, weltweite Netzwerk zunehmend in kleine, lokale, autonome Terrorzellen umgewandelt, die für die Sicherheitsbehörden schwer auszumachen seien. Er forderte daher zusätzliches Personal und eine bessere Ausbildung und Ausstattung für die Beamten, um "potenziellen Straftätern auf Augenhöhe begegnen zu können".
    Monika Düker (GRÜNE) warf der Landesregierung und den Koalitionsfraktionen vor, mit widersprüchlichen Vorschlägen eher zur Verunsicherung beigetragen, statt der Bevölkerung klare Leitlinien zur Terrorbekämpfung in NRW deutlich gemacht zu haben. Ein Mehr an Sicherheit gehe meist auch zulasten der Freiheit. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit müsse jedoch gewahrt bleiben. Sie forderte, Bürgerrechtseingriffe auf "konkrete Gefahrenlagen" einzugrenzen, zeitlich zu befristen und ihre Wirksamkeit kontinuierlich zu überprüfen. Zudem müsse bei der Sicherheitsdebatte vermehrt über präventive Maßnahmen nachgedacht werden.
    Horst Engel (FDP) betonte: "Wir halten eine ausufernde Überwachung der Bürger unter massiver Beschränkung ihrer Freiheitsrechte für falsch." Der Beweis, dass eine verschärfte Überwachung zu mehr Sicherheit führe, sei noch nie erbracht worden. Vor dem Hintergrund lehnte er die Forderungen nach einer flächendeckenden Videoüberwachung sowie dem Einsatz von bewaffneten Zugbegleitern - so genannten "Rail-Marshals" - ab. Das den NRW-Sicherheitsbehörden zur Verfügung stehenden Instrumentarium reiche aus. Es müsse nur konsequent angewandt und allenfalls "verfeinert" und "nachjustiert" werden.

    ID: LIN01337

  • "Es ist nichts mehr, wie es war".
    Der 11. September hat auch in NRW eine neue Lage geschaffen.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 16 in Ausgabe 10 - 27.09.2006

    Fünf Jahre ist es her, dass Flugzeuge ins World Trade Center rasten und die Terroristen der Al Qaida über 3.000 Menschen in den USA töteten. Die Angst vor Anschlägen ist seitdem gegenwärtiger denn je, erst recht nach den Bombenattentaten von Madrid (2004) und London (2005). Dass der Terror auch vor NRW nicht Halt macht, mussten die Bürger mit den misslungenen Anschlägen auf zwei Regionalzüge erfahren. Es steht fest: Seit dem 11. September 2001 muss sich unser Land auf die neue Bedrohung einstellen.
    Mit den Bildern der einstürzenden Zwillingstürme in New York hielt auch hierzulande das gesellschaftliche und politische Leben inne. So gedachten am Tag darauf die Abgeordneten im Landtag mit einer Schweigeminute der Opfer der Anschläge. "Seit dem gestrigen Tag ist nichts mehr, wie es war", erklärte der damalige Parlamentspräsident Ulrich Schmidt in seiner Trauerrede. "Seit dem gestrigen Tag sind wir aufgewühlt, sind wir fassungslos, hilflos und auch wütend über das Ausmaß von Gewalt und Hass, zu dem Menschen fähig sein können."
    Das Geschehen machte betroffen, lähmte aber nicht den Willen der Politik, Maßnahmen zur Gefahrenabwehr zu ergreifen. Schon wenige Tage nach dem 11. September stimmte der Landtag zusammen mit dem Innenministerium, den Bezirksregierungen und dem nordrhein-westfälischen Landeskriminalamt (LKA) ein neues Sicherheitskonzept ab. Alle amerikanischen, jüdischen und israelischen Einrichtungen im Land wurden ab sofort verstärkt gesichert. Die Passagiere auf den Flughäfen mussten sich auf verschärfte Kontrollen einstellen. Zudem nahm eine neue Informationsstelle zur Terrorismusbekämpfung beim LKA ihre Arbeit auf.
    In der Folge passte der Landtag das nordrhein- westfälische Verfassungsschutzgesetz der neuen Gefahrenlage an. Dabei wurden den Verfassungsschützern mehr Rechte bei der Bekämpfung terroristischer Aktivitäten eingeräumt. Seit Januar 2003 sind Banken, die Post, Telekommunikationsgesellschaften und Fluglinien verpflichtet, dem Verfassungsschutz Daten zu verdächtigen Personen zur Verfügung zu stellen. Datenschützer kritisierten zwar das Gesetz, da auch untadelige Bürger ins Visier der Fahnder geraten könnten. "Das rechtliche Instrumentarium wurde aufgerüstet – die Bewährungsprobe steht aber noch aus", urteilte seinerzeit das Innenministerium. Spätestens vier Jahre nach Einführung soll das Gesetz auf seine Wirksamkeit hin untersucht werden.
    Das Land NRW beteiligt sich außerdem am Gemeinsamen Terrorismusabwehr-Zentrum (GTAZ) in Berlin, in dem die Sicherheitsbehörden seit knapp zwei Jahren Erkenntnisse zur Entwicklung des terroristischen Potenzials zusammentragen. Insgesamt arbeiten rund 180 Experten an der Auswertung der Gefahrenlage, darunter 50 Mitarbeiter der Länder.
    Mit der jüngst von der Innenministerkonferenz beschlossenen Anti-Terror-Datei unternehmen die Länder einen weiteren Schritt, um den Datenaustausch zwischen ihren Behörden zu beschleunigen. Die Index-Datei zu verdächtigen Personen sei ein "Riesenfortschritt", verdeutlichte Innenminister Dr. Ingo Wolf (FDP) den Abgeordneten im Innenausschuss des Landtags. NRW sprach sich als einziges Bundesland allerdings gegen die Einrichtung eines so genannten Freitextfeldes aus, in das die ermittelnden Behörden zusätzliche Informationen zu Terrorverdächtigen eintragen können. Das NRW-Innenministerium befürchtet unter anderem, dass durch ein solches Freitextfeld die Datei mit unbrauchbaren Informationen überlastet werden kann.
    Dass die Behörden in NRW längst zur großflächig koordinierten Gefahrenabwehr fähig sind, haben die Einsätze bei den 16 Spielen der Fußball-WM im Land und auch während des Weltjugendtages gezeigt. Allein zum Papstbesuch in Köln im vergangenen Jahr sorgten neben Spezialeinheiten bis zu 3.700 Beamte für die Sicherheit des Kirchenoberhauptes sowie der meist jugendlichen Pilgerinnen und Pilger.
    Dagegen, dass sich terroristisches Gedankengut verbreitet und festsetzen kann, gibt es neben der Beobachtung und Verfolgung von Verbrechen ein weiteres Mittel, an dem alle mitwirken können: Die Integration von Menschen, die zu uns gekommen sind und hier leben möchten. Dafür zu werben, hat sich Integrationsminister Armin Laschet (CDU) zum Ziel gesetzt, egal ob er in den Medien ein Interview gibt oder im Landtag das Wort ergreift. Sein Motto: "NRW setzt auf eine moderne und realistische Integrationspolitik, die neue Integrationschancen für Frauen und Männer eröffnet, die fördert und fordert, die den Zugewanderten mit Respekt begegnet, ihnen aber gleichzeitig Respekt vor der Verfassung und ihren Grundwerten, vor dem Gesetz, der Sprache, der Geschichte und der Kultur des Landes abfordert, das ihren Lebensmittelpunkt bildet."
    SW

    ID: LIN01375

  • Modell startet in Köln und Duisburg.
    Islamischer Religionsunterricht an nordrhein-westfälischen Schulen.
    Titelthema / Schwerpunkt;
    Ausschussbericht
    S. 17 in Ausgabe 10 - 27.09.2006

    Der Radikalität den Nährboden zu entziehen, ist das Ziel des islamischen Religionsunterrichts, den die Landesregierung derzeit auf den Weg bringt. In Köln und Duisburg soll der Startschuss für zwei Modellversuche fallen. Bis es zur flächendeckenden Einführung kommt, muss allerdings noch eine Reihe von Problemen bewältigt werden. Das vielleicht größte davon: Die Muslime in Deutschland werden von mehreren Dachorganisationen vertreten, die teilweise untereinander zerstritten sind.
    Der Dialog mit den unterschiedlichen islamischen Interessenverbänden ist am Ende der Fahnenstange angelangt", bedauerte Schulministerin Barbara Sommer, die gemeinsam mit Integrationsminister Armin Laschet (beide CDU) den Ausschuss für Generationen, Familie und Integration (Vorsitz Andrea Milz, CDU) über den Stand der Entwicklung informierte: "Deswegen müssen wir jetzt handeln."
    Die Zweifler des Vorhabens seien zahlreich und fänden sich auch in den eigenen Reihen der Koalitionsparteien. Es fehle auch nicht an Warnungen an die Adresse der Landesregierung: "Aber wir gehen das nicht blauäugig an", ist sich die Schulministerin sicher.
    Um eine gemeinsame Gesprächsbasis mit den Islamorganisationen bemüht sich seit der Landtagswahl die interfraktionelle Arbeitsgruppe für den Dialog mit dem Islam.
    Ausschussmitglied Britta Altenkamp (SPD) sieht die Arbeit des Gremiums durch die Initiative der Landesregierung gefährdet. "Es muss klar gemacht werden, dass der Druck zur Bildung eines zentralen Ansprechpartners nicht verringert werden wird," forderte sie von der Ministerin.
    Diese konnte die Kritik am Islamunterricht zum Teil nachvollziehen. "Ich bin normalerweise kein Fan von Modellversuchen", bekannte Sommer. "Sie gelingen, wenn man es nur genug will." Aber in diesem Fall habe man keine Wahl gehabt, als sich auf diese Weise auf den schwankenden Boden der komplizierten Ansprechpartner- Struktur zu begeben. In den ausgewählten Städten soll es losgehen, da dort die islamische Population besonders groß ist.
    "Wir hoffen, dass die Modellversuche eine Signalwirkung entfalten und die Wertschätzung für die Mitbürger mit Migrationshintergrund dokumentieren."
    Die konkreten Bemühungen stünden aber noch am Anfang. "Wir ermuntern die 70 Kölner Moscheegemeinden, sich zu einer Schura (gemeinsame Ratsversammlung) zusammen zu finden." Der nächste Schritt bestehe in der Gründung eines theologischen Beirats aus Islamwissenschaftlern. Aus den beiden Gremien bilde sich dann die Lehrplankommission. "Die Schura wird als Interessenvertretung aller Muslime von unten wachsen", hofft Integrationsminister Laschet. Die Moscheegemeinden sollten dabei die treibende Kraft bilden.
    Nicht in Vergessenheit geraten lassen mochte Monika Düker (GRÜNE) das Projekt rotgrüner Regierungsarbeit auf diesem Gebiet, die religionskundliche Unterweisung: "Die Islamkunde sollte gestärkt werden, solange der Unterricht noch nicht flächendeckend eingeführt ist." Dabei dachte die Abgeordnete auch an mehr finanzielle Zuwendungen. "Die Lehrerinnen und Lehrer aus diesem Bereich können sich als wichtige Brückenbauer erweisen."
    "Das Endziel lautet, die Kunde durch den Unterricht zu ersetzen", so die Antwort. Die Unterweisung sei kein reguläres Fach und werde deshalb auch nicht entsprechend besoldet. "Wir versuchen, die Lehrer des neuen Fachs aus den Islamkundlern zu rekrutieren und so den Personalmangel auszugleichen", umriss die Ministerin das Vorhaben.
    Seit dem Wintersemester 2004/05 wird an der Universität Münster das Fach Islamunterricht angeboten. Ein einziger Lehrstuhl reicht jedoch nicht aus, um eine Fülle an Lehrerinnen und Lehrern auszubilden. Dem neuen Schulfach fehle außerdem noch der theoretische Unterbau. Der Lehrplan sei noch nicht fertig gestellt, räumte die Schulministerin ein. Auch die Frage, welche Schulen in Köln und Bonn den Anfang machen werden, sei noch nicht geklärt. "Das macht aber nichts", findet Sommer, "wichtig ist, dass in den beteiligten Ministerien der Wille zum Erfolg vorhanden ist." Die Weichen hätten längst gestellt sein können und müssen, warf Michael Solf (CDU) der Vorgängerregierung vor und meinte: "Aber besser spät als nie."
    YV

    Bildunterschrift:
    Wer sich seiner sicher ist, dem fällt es leichter, das Fremde zu verstehen und zu akzeptieren. Islamischer Religionsunterricht soll daher eines nicht allzu fernen Tages an den Schulen des Landes so selbstverständlich sein wie die Unterweisung in den christlichen Konfessionen. Daran arbeitet das Schulministerium und erwartet von der islamischen Seite Mitwirkung und Entgegenkommen

    ID: LIN01377

  • Der Landtag - das unbekannte Wesen?
    Editorial / Kommentar / Blickpunkt;
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 2 in Ausgabe 9 - 30.08.2006

    Landtage - was machen die eigentlich? Die Menschen erleben hautnah die Politik in ihrer Stadt, ihrer Gemeinde. Sie lesen in der Zeitung und hören und sehen in den elektronischen Medien, was in Berlin geschieht. Sie reiben sich manches Mal die Augen über das, was in Brüssel ausgedacht wird. Aber der Landtag? Für was ist der überhaupt zuständig?
    Da sind wir mitten beim Thema. Bildung, Kultur und Medien, Polizei sind in unserem föderal verfassten Staat Ländersache. Das bringt im Prinzip Vielfalt und im Alltag Abstimmungsnotwendigkeiten. Dann gibt es noch Bereiche, in denen die Länder Ausführungsbestimmungen erlassen können, weil sie an Bundes- oder europäisches Recht gebunden sind.
    Das mag auf den ersten Blick unübersichtlich erscheinen. Beim zweiten Hinschauen kann es interessant werden: Wie entscheidet sich unser Land und wie das Nachbarland? Beispiel Studienbeiträge. Im Land A werden sie eingeführt, Land B verzichtet darauf - welche Folgen hat das?
    Information aus erster Hand
    Landespolitik und damit Landtagspolitik kann durchaus spannend sein. Nur muss dafür das Bewusstsein geweckt und gehalten werden. Der Landtag informiert die Öffentlichkeit mit seinen eigenen Möglichkeiten. Die Medien berichten aus Plenum und Kabinett. Das geschieht, und das ist wichtig. Aber für die Menschen sind es Informationen aus zweiter Hand.
    An Informationen aus eigenem Erleben ist für Bürgerinnen und Bürger etwas schwieriger zu kommen. Die Vollversammlung der Abgeordneten tagt öffentlich. Für Ausschusssitzungen sind Zuhörer zugelassen. Aber hier gibt es mitunter Terminschwierigkeiten.
    Ganz ohne Terminzwänge geht es dagegen bei den Tagen der offenen Tür zu, wie am vergangenen Wochenende. Da strömten die Menschen aus Nah und Fern herbei und nahmen ihr Haus in Beschlag. Offen, interessiert, wissensdurstig, neugierig.
    Politikverdrossenheit? An diesen Tagen war wenig davon zu spüren. Über 60.000 Menschen machten sich auf den Weg, hörten zu und fragten nach, vertraten ihre Meinung, hielten mit kritischen Anmerkungen nicht hinter dem Berg, suchten den persönlichen Austausch mit Mandatsträgern und Beschäftigten. "Die große Besucherzahl hat mich gefreut", sagt Landtagspräsidentin Regina van Dinther in ihrer Bilanz. "Für mich ist das ein Zeichen für ein lebendiges Interesse an unserer Demokratie".
    JK

    ID: LIN02305

  • Bürgerfreundlicher und sicherer.
    Umbaumaßnahmen rechtzeitig abgeschlossen.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 9 in Ausgabe 9 - 30.08.2006

    "Punktlandung", freut sich Anita Drensek. Zufrieden blickt die Leiterin des Gebäudemanagements des Landtags auf die letzten Handwerker im Eingangsbereich des Parlamentsgebäudes. Und tatsächlich packen die - pünktlich zum Tag der offenen Tür - ihre Sachen. Nach zwei Monaten sind die Sanierungsarbeiten am Eingang und in der Bürgerhalle abgeschlossen.
    Insgesamt sieben Wochen war die Bürgerhalle komplett gesperrt, konnten Parlamentarier, Besucher und Mitarbeiter das Gebäude nur auf verschlungenen Wegen betreten. 150 Handwerker werkelten am Ende fast rund um die Uhr, allein im Eingangsbereich wurden 15 Kilometer Kabel verlegt, für die neue Sprinkleranlage hat man tausend Meter Wasserleitung in der Hallendecke verbaut, 187 Kernbohrungen vorgenommen.
    "Endlich müssen wir keine Eimer mehr aufstellen", berichtet die Bauexpertin rückblickend. Bei der 1,2 Millionen teuren Maßnahme handelt es sich nämlich ganz und gar nicht um eine bloße Schönheitsreparatur. Bereits seit drei Jahren leckt die in der Bürgerhalle vorgeschriebene Sprinkleranlage. "Die neuen Leitungen liegen jetzt offen unter der Deckenverkleidung. So werden auch eventuelle Reparaturen einfacher", sagt Anita Drensek.
    Auch das Beleuchtungssystem wurde bei der Gelegenheit erneuert. Statt teurer Speziallampen gibt es nun ganz normale Standardröhren. Die sind übrigens nicht nur billiger, sondern leuchten auch kräftiger als die alten. So wirkt der Eingangsbereich insgesamt freundlicher.
    Für 600.000 Euro bekam das Parlament zudem eine moderne Drehtür und einen komplett neuen Empfang. Der Eingang für Besuchergruppen wurde deutlich vergrößert. Immer mehr Menschen aus NRW wollen ihr Parlament besuchen, in der Vergangenheit bildete sich vor der obligatorischen Sicherheitsschleuse oftmals eine lange Schlange. Nun können größere Gruppen gleichzeitig den Landtag betreten, müssen mit den Mitarbeitern am Empfang nicht mehr durch dicke Glasscheiben reden. "Man fühlt sich nicht mehr wie an der Grenze", schmunzelt ein regelmäßiger Besucher. Trotz aller (neuen) Offenheit: Die Sicherheitsvorschriften werden eingehalten.
    "Ein diesmal richtig anstrengendes Sommerloch für das Team", bilanziert die Referatsleiterin Gebäudemanagement. 1.500 zusätzliche Stunden sind da locker zusammen gekommen, wie sie ausgerechnet hat. Das ist etwa so viel wie beim Besuch der englischen Königin vor knapp zwei Jahren. Aber: "Für die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes machen wir das fast noch ein bisschen lieber als für die Queen."
    vok

    Bildunterschriften:
    Bis zu den Knien in der Arbeit - für die neue Eingangstür war eine Menge Stemmarbeit erforderlich.
    Die Rohre der neuen Sprinkleranlage sollen deutlich langlebiger sein als die alten, die undicht geworden sind.

    ID: LIN02313

  • "Durchatmen und weiter geht’s".
    Im Landtag ist die Geburtstagsfeier für NRW noch nicht zu Ende.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 9 in Ausgabe 9 - 30.08.2006

    Die letzten Kartons zum Tag der offenen Tür sind noch nicht weggeräumt, da blicken Werner Sesterhenn und sein Team bereits wieder nach vorn. 60 Jahre NRW - das Jubiläum im August (Landesgründung) und im Oktober (erste Landtagssitzung) wird im Parlament mit Veranstaltungen begangen, die sich über das ganze Jahr verteilen: Hochbetrieb für Leute im Referat Veranstaltungsmanagement.
    Beteiligt sind aber alle Referate im Haus", stellt Werner Sesterhenn richtig. Er leitet das vierköpfige Kernteam und sieht seine Aufgabe in Koordination und Moderation. Begonnen hat der Veranstaltungsmarathon mit dem ersten der von Landtagspräsidentin Regina van Dinther initiierten Regionalabende: Ostwestfalen- Lippe stellte sich vor. Es folgten Sauer- und Siegerland, die Region Aachen und Eifel sowie das Ruhrgebiet. Das Münsterland ist am 13. September dran. Bald kommen Niederrhein (15. November), Köln/Bonn nebst Siebengebirge am 6. Dezember an die Reihe. Anfang Januar 2007 beschließt das Bergische Land die Vorstellung.
    Dr. Wolfgang Gärtner, Landtagsarchivar, erläutert die Geschichte des Landes in Vorträgen. Ende August heißt das Thema "Die Schlacht im falschen Saale und dreißig Jahre Schweden - Über die konstruktiven Misstrauensvoten von 1956 und 1966". Am 14. September steht "Der Kraftakt - die kommunale Neugliederung der sechziger und siebziger Jahre" auf dem Programm. Am 28. September schließlich zeichnet Gärtner den Weg "Vom nebenberuflichen Abgeordneten zum Berufsparlamentarier" nach.
    Höhepunkte des Geburtstagsprogramms sind auch die Ausstellung zum Gedenken an Dietrich Bonhoeffer (19. September bis 6. Oktober) und die des Landesarchivs NRW zur Geschichte des Landes mit wissenschaftlichem Begleitprogramm (26. Oktober bis 10. November). Darüber hinaus hat der Landtag das Buch "Das Land und seine Abgeordneten" erneuert, eine Videodokumentation erstellt und den Landtagsfilm mit Szenen aus den letzten zehn Jahren ergänzt.
    Der offizielle Festakt mit Vertretern des englischen Königshauses, des Bundes und der Länder ist für den 25. Oktober in der Tonhalle geplant. Sesterhenn: "Arbeit genug." Zumal auch die ganz "alltäglichen" Veranstaltungen weiter gehen. So ist die Landesfeuerwehr zu Gast. Auf der Fensterbank stapeln sich schon wieder die Anfragen bildender Künstler, die im Parlament ausstellen möchten. Der Landtag ist halt einer der beliebtesten Veranstaltungsorte im Land - eben ein echtes Bürgerparlament.
    vok

    Bildunterschrift:
    Die Rohre der neuen Sprinkleranlage sollen deutlich langlebiger sein als die alten, die undicht geworden sind.

    ID: LIN02314

  • Zeichen für lebendige Demokratie.
    Rekordbesuch: 62000 Bürger beim Tag der offenen Tür.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 10-11 in Ausgabe 9 - 30.08.2006

    "Ist ja schon beeindruckend." Seit seiner Geburt lebt Andreas Peterwerth in Düsseldorf. Den Landtag kannte er bisher nur von außen. Hatte sich halt nie ergeben. Anneliese Meyer zu Altenschildesche aus dem fernen Emsdetten hingegen fühlt sich im Parlament am Rhein schon fast zu Hause. Sozusagen zwischen zwei Auftritten führte sie ihre Singschwestern vom Mädchen- und Frauenchor durch Plenarsaal, Wandelhalle und Fraktionen: "Wir haben schon den Ministerpräsidenten getroffen und ein paar Worte mit Landtagspräsidentin Regina van Dinther wechseln können", zeigte sich auch die Chorsängerin zufrieden und zugleich erstaunt, "wie einfach es war, mit prominenten Politikern ins Gespräch zu kommen." Zwei Impressionen von über 62.000. So viele Bürger fanden nämlich am Samstag und Sonntag den Weg in "ihr" Parlament. NRW feierte 60 Jahre Land und Landtag, und die Volksvertretung lud ihre Bürger ein zum Tag der offenen Tür.
    Bereits am Samstag machten mehr als 24.000 Menschen einen Abstecher von der Bürgermeile zum Landtagsgebäude, sonntags war zwischen Plenarsaal, Sitzungsräumen und Bürgerhalle dann kaum mehr ein Bein an den Boden zu bekommen. "Ich denke, dass wir den Menschen zeigen konnten, dass wir ein modernes und bürgerfreundliches Parlament haben", war die Gastgeberin, Landtagspräsidentin Regina van Dinther, nach zwei Tagen "voller interessanter Gespräche" zufrieden. Ihr persönliches Highlight? "Mit dem Ruhrgebietsdichter Peter Erik Hillenbach Geschichten vorlesen. Das war wie eine Zeitreise in die eigene Kindheit."
    Nicht die einzige Reise in die eigene Vergangenheit. So hatten zahlreiche Besucher ganz unterschiedliche Erinnerungsstücke im Gepäck - alte Grußkarten, Landtagsaufkleber aus den 70-er Jahren, oder auch nur Geschichten über die ersten Jahrzehnte des Bindestrich- Landes. "Als der Landtag noch im Ständehaus tagte..." Für andere erfüllten sich auch lang gehegte Wünsche: "Ein Niedersachse auf dem Stuhl der Präsidentin", genoss Elmar Koetz die ungewöhnliche Perspektive über das Rund, in dem sonst um Gesetze gerungen und über die bessere Politik gestritten wird. Währenddessen legten die Mädels der Kreismusikschule Warendorf mitten in der Bürgerhalle eine kleine Verschnaufpause ein. "Hier ist viel mehr los als bei unserem Auftritt in der Rhein-Oper-Mobil", meinte Svenja Spannuth und blickte ein wenig neidisch auf die Bühne, auf der gerade das Bonner Saxophon-Ensemble die Menschen zum Swingen brachte.
    "Es war wohl die Verbindung aus Information und Unterhaltung. Und natürlich hat auch das Wetter zumindest hier in Düsseldorf mitgespielt." Landtagsdirektor Peter Jeromin zollte am Ende aber vor allem den Mitarbeitern Respekt. Teilweise über ein Jahr hatten sie das Großereignis geplant. "So viele Menschen auf einmal waren noch nie hier. Toll gelaufen." Auch oder gerade weil es die Feuertaufe für den neuen Eingangsbereich und die renovierte Bürgerhalle war.
    Dort ließen die einzelnen Fachreferate die Besucher einmal hinter die Kulissen der Arbeit im Landtag blicken: vom Schauschreiben der Stenografen über die technischen Finessen der Rohrpost bis hin zur Frage, wie man denn im Parlament einen Raum buchen kann. Der absolute Renner: Individuell gestaltete Einkaufschips und Taschen mit Landtagsemblem. Abgegeben gegen eine kleine Spende für das Kinderhilfswerk Unicef. Auch wenn die Scheine und Münzen noch nicht ausgezählt sind, lässt sich schon eines feststellen: Die Menschen in Nordrhein-Westfalen haben am Landesgeburtstag die Spendierhosen angehabt. Dafür ein herzliches Dankeschön!
    Überaus bunt ging es auch bei den Fraktionen zu: So fand man sich im Büro des CDU-Fraktionsvorsitzenden Helmut Stahl auf einmal mitten im Wald wieder. Der bekennende Hobby-Ornithologe hatte seinen Schreibtisch zu Gunsten einer grünen Oase zumindest vorübergehend geräumt. Oppositionsführerin Hannelore Kraft stellte sich den Bürgern im Rahmen der SPD-Zeitreise inmitten von 99 Luftballons. Und während im Fraktionssaal der Grünen Kasperle zwei Tage den Müllsünder jagte und Politiker wie Gäste mal ordentlich den Lukas hauen konnten, stand bei der FPD alles im Zeichen des Sports. Von Handball-Weltmeister Volker Zerbe über Franz Fritzmeier von den Krefeld Pinguins bis hin zu Reinhard Saftig gaben sich beim Talk Promis Klinke und Mikrofon in die Hand.
    Eine besonders schöne Aufgabe hatte Olaf Thon: Auf der großen Bühne nahm er 5.600 Euro für die Aktion "Respect" entgegen - den Erlös aus einer Versteigerung handsignierter Bälle. "Respect" hat es sich zur Aufgabe gemacht, über den Fußball Toleranz und Achtung für Menschen anderer Religion, Hautfarbe oder Geschlecht zu fördern. Eine wichtige Aufgabe - besonders in einem so spannenden Land wie NRW. Wie viele Facetten unser Land hat, machten insbesondere auch die Akteure in Plenarsaal, Sitzungsräumen und auf der zentralen Bühne in der Bürgerhalle deutlich: Von der Lesung der Landesverfassung über Märchen, Klezmer- Musik bis hin zu Magie und interessanten Gesprächsrunden reichte das Spektrum.
    Ein Beispiel für viele: "Die Nachbarskinder" aus dem westfälischen Ennepetal sind ein Chor, bestehend aus Kindern und Jugendlichen aus Asylbewerberfamilien. "Und eben auch ein Teil von NRW", darum hatte sich die Truppe um Daniel Igwe besonders über die Einladung gefreut. Auch wenn sie mit ein wenig Sorgen an den Rhein gereist waren. "Wir würden gern regelmäßiger proben. Brauchen aber dazu die Hilfe der Stadt", berichteten die jungen Leute der Moderatorin Dorothea Dietsch. Die entdeckte Ennepetals stellvertretenden Bürgermeister im Publikum und sorgte für einen kurzen Draht. So einfach kann manchmal Politik sein - wenn man nur miteinander redet.
    Das taten Politiker wie Bürger am Wochenende ausgiebig. "In deutlich entspannterer Atmosphäre als noch vor einem Jahr im Wahlkampf", genoss auch Monika Düker (GRÜNE) das Fest sichtlich. "Wenn sie ein Anliegen haben, werden wir aber voll in Haftung genommen. Egal ob nun Landes-, Bundes- oder Kommunalpolitik zuständig ist", erfuhr nicht nur der CDU-Abgeordnete Hubert Kleff. "Besonders Schule und Bildung lagen den Menschen am Herzen", resümierte Christian Lindner (FDP). Eine Erfahrung, die auch Thomas Trampe- Brinkmann (SPD) machte, der ansonsten begeistert war, "wie viele bekannte Gesichter aus dem Wahlkreis den weiten Weg gemacht haben."
    Ein Zeichen für lebendige Demokratie. Wie lebendig, das konnte man besonders gut an insgesamt 15 Projekten ablesen, die im Plenarsaal im Rahmen der Aktion "Demokratie leben" ausgezeichnet wurden. 1.300 Schüler waren dem Aufruf der Landeszentrale für politische Bildung gefolgt und hatten 90 ganz unterschiedliche Initiaitven auf die Beine gestellt, sich mit Rassismus, Zwangsarbeit aber auch mit Demokratie in Vereinen, bei der Schulhofgestaltung oder mit dem Zusammenleben von Jung und Alt beschäftigt.
    "Eine tolle Sache", fanden am Ende ihres Rundganges auch die Sangesschwestern von Anneliese Meyer zu Altenschildesche sowie Landtagsdebütant Andreas Peterwerth. Der Düsseldorfer hat sich übrigens fest vorgenommen, jetzt mal öfter "im Parlament um die Ecke" vorbeizuschauen - nicht nur zum Tag der offenen Tür. Willkommen ist er in jedem Fall. Wie fast hunderttausend andere Besucherinnen und Besucher des Landtags Jahr für Jahr auch.
    vok

    Bildunterschriften:
    Ein ununterbrochenes Kommen und Gehen in den Wandelhallen und auf den Treppen
    Viele junge Gäste informierten sich im Landtag
    Das sieht man nicht alle Tage - die Unterschrift der englischen Queen im Gästebuch des Landtags. Landtagsmitarbeiterin Melanie Brenzke (l.) gab gerne Auskunft
    Schminken für die Kleinen - mit Geduld, Farbe und Kosmetikpinsel ging Nicole Esser (l.) gekonnt zu Werk.

    ID: LIN02315

  • Weltoffen, aber auch wehrhaft.
    Editorial / Kommentar / Blickpunkt;
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 2 in Ausgabe 8 - 21.06.2006

    Die WM-Vorrunde ist noch nicht beendet und schon gibt es einen Sieger: Nordrhein-Westfalen. Die drei Austragungsorte, die Fans, die Gastgeber und die zahllosen Helferinnen und Helfer haben dafür gesorgt, dass die Vorrundenspiele in Dortmund, Gelsenkirchen und Köln bisher so fröhlich, harmonisch und so reibungslos und sicher verlaufen sind. Wenn es so bleibt - und warum sollte es nicht? - dann hat unser Land bis zum Halbfinale in Dortmund am 4. Juli seine Chance genutzt, aller Welt zu zeigen, was es heißt, zu Gast bei Freunden zu sein.
    Dass vor und in den Stadien, auf den Anund Abmarschwegen, vor den Großbildleinwänden und auch anderswo nichts passiert, das ist eine große Sicherheitsleistung, auf die sich die Polizei des Landes, verstärkt durch Beamte und Experten aus mehreren Ländern, die Justiz, die Städte und die Hilfsdienste penibel vorbereitet haben. Die Sicherheit ist präsent, auch wenn die Menschen, die dafür sorgen, nicht immer und überall zu sehen sind.
    Werbung für NRW
    Nordrhein-Westfalen ist ein weltoffenes Land. Die Menschen hier kennen die Welt, als Touristen oder als Beschäftigte von Unternehmen, die ihre Güter und Dienstleistungen auf die Märkte aller Herren Länder exportieren. Jetzt, zur WM, ist Gelegenheit, dass auch die Welt Nordrhein-Westfalen kennen lernt: Das bevölkerungsreichste deutsche Bundesland auf dem Weg zu alter Stärke, mit all seinen Vorzügen und Problemen.
    Vielleicht sehen die Gäste aus dem Ausland auch, dass unser Land nicht nur ein weltoffenes, sondern auch ein stabiles, demokratisches Gemeinwesen ist. 60 Jahre besteht in diesen Tagen Nordrhein-Westfalen. Wir blicken zurück und feiern diesen Anlass. Aber wir müssen wachsam bleiben: Der Ungeist der Vergangenheit spukt noch in manchen Köpfen herum.
    In der Rückschau wird sich bald kein Mensch mehr an den verlorenen Haufen von Rechtsextremisten erinnern, die glaubten, zur WM in Gelsenkirchen das Bild vom hässlichen Deutschen neu zeichnen zu müssen. "Wir sind Deutschland, und ihr nicht", brüllten sie den vielen ausländischen Fans zu. Lächerlich, umgekehrt wird ein Schuh draus! Wenn jemand recht zu dieser groben und unfeinen Behauptung hätte, dann die 5.000 Gegendemonstranten, die an diesem Tag diszipliniert und engagiert Flagge gegen Rechts zeigten und sich den Neonazis in den Weg stellten.
    JK

    ID: LIN02247

  • Die Welt zu Gast bei Freunden.
    Das Parlament lud zum WM-Abend in den Landtag ein.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 9 in Ausgabe 8 - 21.06.2006

    Torwandschießen in der ehrwürdigen Wandelhalle, überdimensionales Tip-Kick gegenüber dem offiziellen Empfangsraum der Landtagspräsidentin - so etwas macht die Fußball-Weltmeisterschaft möglich. Während an diesem Maiabend Ballack & Co. nur ein paar Kilometer entfernt in der Düsseldorfer LTU-Arena letzte Finessen für das Sportereignis der Superlative probten, drehte sich im Parlament am Rhein bereits alles um das WM-Motto "Die Welt zu Gast bei Freunden".
    Nach einem langen Plenartag "pfiff" Landtagspräsidentin Regina van Dinther gemeinsam mit Helmut Otto vom mitveranstaltenden Deutschen Hotel- und Gaststättenverband (DEHOGA) die "dritte" Halbzeit mit über 700 Gästen an. Alles auch ein Dankeschön an die ehrenamtlichen Funktionäre, Trainer, Betreuer und Helfer, ohne die Fußball in NRW nicht das wäre, was er heute ist.
    150 von ihnen waren auf Einladung des Parlaments an den Rhein gekommen, plauderten mit Fußballgrößen wie Toni Schumacher, Siggi Held, Schalke-Präsident Gerd Rehberg, BVB-Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke oder DFB-Vize Wolfgang Holzhäuser über T-Frage, die Wade der Nation... Sind wir nicht alle ein bisschen Bundestrainer? Das aber lieber am Stehtisch mit leckerem Getränk - maximal am Kicker. Denn beim Torwandschießen sahen Politiker und Prominente ihren Platz eher in der zweiten Reihe. Auch wenn die "ganz große Koalition" um Dr. Michael Vesper, Holger Müller, Theo Peschkes und Christof Rasche zumindest in der Theorie Legenden wie Kalle del’ Haye, Rolf Rüssmann, Thomas Allofs und Norbert Nigbur durchaus das Wasser reichen konnte. Beim WM-Quiz hatten die Politiker die Nase vorn.
    Kapitän und Schiedsrichter in einer Person: Sportreporter Manfred "Manni" Breuckmann, der sich in der Bürgerhalle den ein oder anderen Kommentar sichtlich verkniff und sich auf die Moderatorenrolle beschränkte. Dass er in dieser Funktion WM-Botschafter Rainer Calmund ausgerechnet auf die Bühne bat, als ein paar Meter weiter die Riesentorte in Form eines Fußballfeldes angeschnitten wurde, nahm der nicht wirklich übel. "Obwohl Kalorienzufuhr hier ja doppelt sinnvoll ist", hatte Calli die gute Sache hinter der leckeren Nascherei fest im Visier. Wurde doch der Erlös aus Kuchenverkauf gemeinsam mit den Einnahmen aus einem Benefizspiel des FC Landtag zugunsten heimischer Nachwuchskicker verlost: Drei Vereine freuen sich über einen "Landeszuschuss" von jeweils 800 Euro. Ob das schwergewichtige Leverkusener Original am Ende doch noch ein Stück Rasentorte - oder vielleicht sogar den ein oder anderen Marzipanspieler - bekommen hat, ist nicht überliefert.
    Die Welt zu Gast bei Freunden. Das galt an diesem Abend für alle. Und so begrüßte "Spielführerin" Regina van Dinther ausdrücklich auch Vertreter solcher Nationen, die ansonsten bei der WM 2006 fehlen. Für einen der internationalen Gäste erfüllte sich am Rhein ein lang gehegter Traum: Lord David Triesman, WM-Beauftragter der britischen Regierung und bekennender Fan des Ex-Klinsmann-Clubs Tottenham Hotspurs, traf Altnationalspieler Siggi Held. Worüber die beiden gesprochen haben? Natürlich Wembley! Ob sie sich 40 Jahre danach einig wurden? Darüber schweigen die Diplomaten.
    Auf zur WM 2006 - auf nach NRW. Das gilt in diesen Tagen auch für fußballbegeisterte Menschen mit geistiger Behinderung. Zum dritten Mal, so berichtete Organisator Theodor Zühlsdorf, findet diese ganz besondere Weltmeisterschaft statt - die Endrunde in diesem Jahr komplett in Nordrhein-Westfalen. Und wenn da so viel Stimmung aufkommt, wie beim Titelsong, präsentiert von Amy Elaine, ist NRW um eine tolle Veranstaltung reicher.
    Ein Fußball ist zum Kicken da - oder? Dass es nicht nur Kunst am sondern auch mit dem Ball gibt, zeigte eine Ausstellung des Kunstvereines Gelsenkirchen: Gemeinsam mit der Aktion "fair play - fair life" haben die Initiatoren Künstler aus ganz NRW eingeladen, aus alten "Pillen" neue Kunstwerke zu gestalten. Entstanden ist eine beeindruckende Mauer aus leuchtenden Bällen, Ball-Mobiles, solchen aus Federn, Globen.
    Besonders beeindruckend: Die Installation "Handmade" des Ex-Bundesligaprofis Yves Eigenrauch. Erinnert sie doch daran, dass die überwiegende Mehrzahl aller Spielbälle in Pakistan von Kinderhänden gefertigt wird. Das muss, das kann nicht sein. Da waren sich Gastgeber und Gäste beim parlamentarischen Abend einig. Zumal es fair hergestellte Bälle gibt, die sich mindestens so gut treten lassen wie jeder andere auch. Und zum Autogrammsammeln eignen die sich ebenfalls, konnte nicht nur Landtagspräsidentin Regina van Dinther feststellen, die mit gutem Beispiel voran ging.
    vok

    Bildunterschriften:
    Knifflige Quizfragen: Dr. Michael Vesper, Christof Rasche, Holger Müller und Theo Peschkes (v.l.)
    Talkrunde (v.l.): Manni Breuckmann, Rainer Calmund, Theodor Zühlsdorf, OB Schramma (Köln) und OB Baranowski (Gelsenkirchen)
    Die Frage von Wembley: Siggi Held (l.) und Lord Triesman.

    ID: LIN02256

  • Ein Fest - friedlich und erlebnisreich.
    Viel Einigkeit beim großen Thema "Fußball-Land Nordrhein-Westfalen".
    Titelthema / Schwerpunkt;
    Plenarbericht
    S. 10-11 in Ausgabe 8 - 21.06.2006

    Seltene Einmütigkeit herrschte im Plenum des Landtags, als es um die Fußball-WM 2006 in Nordrhein-Westfalen ging. Es gab zwei Anträge, die von allen vier Fraktionen gemeinsam eingereicht worden waren: "Willkommen im Sport- und Fußball-Land NRW" (Drs. 14/1565 neu) und "Anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft bekräftigt der Landtag Nordrhein-Westfalen sein Nein zu Fremdenfeindlichkeit und Rassismus" (Drs. 14/1994).
    Innenminister Dr. Ingo Wolf (FDP) sagte: "Wir in Nordrhein-Westfalen haben das besondere Glück, mit drei Spielorten, 16 Spielen und acht Mannschaftsquartieren in den Fokus der Weltöffentlichkeit gerückt zu werden. Wir haben uns intensiv vorbereitet." Man wolle beitragen, dass die Menschen in Nordrhein-Westfalen sich ihrer Rolle als Gastgeber bewusst seien und NRW als weltoffenes, freundliches, lebens- und liebenswertes Land präsentierten.
    Darüber hinaus wolle das Innenministerium, soweit möglich, eine sichere Weltmeisterschaft gewährleisten. Die WM solle in NRW zu einem erlebnisreichen Fest für alle - auch für die einheimische Bevölkerung - werden. "Wir wollen die weltweite Aufmerksamkeit nutzen, um zu zeigen, dass Nordrhein-Westfalen ein herausragendes Sportland ist", so der Minister weiter. "Insbesondere unsere Vereine vor Ort sollen langfristig von der WM profitieren."
    Gemeinsam mit den WM-Städten habe das Ministerium den offiziellen NRW-Guide zur Fußball-Weltmeisterschaft herausgegeben (siehe Kasten). Auf 124 Seiten finde man dort alle wesentlichen Informationen rund um die Weltmeisterschaft in NRW.
    Den Kern bilden die großen, kostenlos zugänglichen FAN-Feste in den WM-Städten. "NRWM - Das Festival!" sei ein landesweites Open-Air-Festival, das die WM-Spiele auf Großbildleinwänden mit einem hochkarätigen, internationalen Musikprogramm verbindet. 47 Bands und Tanzensembles aus den WM-Teilnehmerländern wurden eingeladen, die an den 25 WM-Spieltagen mehr als 300 Auftritte absolvieren werden. Das Artistik-, Sound- und Lichtevent "Kicks & Balances" wird an insgesamt 15 Abenden den Spieltag in den Ausrichterstädten spektakulär beschließen. Ein etwas anderes WM-Erlebnis ist "WM in Concert" bei den Liveübertragungen des Spiels um Platz 3 und des Endspiels. Stellvertretend für die vielen touristischen Aktivitäten nannte Wolf die "Deutsche Fußball-Route NRW".
    Unter den Slogans: "Wir bringen Farbe ins Spiel" und "Im Westen treffen sich die Besten" hat sich die Landesregierung gemeinsam mit den WM-Städten auf Messen, Kongressen und ähnlichen Veranstaltungen präsentiert, erinnerte Wolf. Von der internationalen Filmschule in Köln wurde der WM-Clip mit dem Titel "A time to make friends" produziert. Dieser Clip wird bei allen "Public Viewings" als visuelle NRW-Signatur gezeigt.
    "Ich habe mit Verantwortlichen anderer Länder, unter anderem mit meinem niederländischen Kollegen, enge Abstimmungen zur Gefahrenlage und Fanszene getroffen. Verbindungsbeamte aus allen WM-Teilnehmerstaaten werden in Neuss gemeinsam mit Polizeibeamtinnen und -beamten aller Länder und des Bundes rund um die Uhr polizeiliche Lagebilder erstellen und an die Polizeibehörden in ganz Deutschland weitergeben", so Wolf. Er lobte die Fraktionen, die landesweit eine völlige Freigabe des Ladenschlusses an den Werktagen und an den Sonn- und Feiertagen von 14-20 Uhr beschlossen hatten - außer am spielfreien Sonntag, dem 2. Juli.
    Andreas Becker (SPD) sah Konsens sogar über den fraktionsübergreifenden Antrag hinaus: "Wir könnten uns sogar auf einen gemeinsamen Antrag einigen, dass wir bei der WM gewinnen." Trotz aller gemeinsam beschworenen Freude über die WM hatte Becker aber auch Kritik an den Regierungsfraktionen anzumelden: "Sie wollen gleichzeitig die integrative Rolle des Sports stärken und die Übungsleiterpauschale kürzen. Wie wollen Sie den Menschen die Lücke zwischen Sonntagsreden und Montagshandeln erklären?" Becker monierte zudem, dass die Schülerinnen und Schüler des Landes nicht freibekommen hätten, um an der Fußballweltmeisterschaft für Menschen mit geistiger Behinderung teilzunehmen. Das sei angesichts der Kampagne nicht zu verstehen, bei der es darum gehe, Sympathie zu erzeugen und die Integration zu fördern sowie bürgerschaftliches Engagement einzubeziehen.
    Peter Preuß (CDU) erläuterte, die Fußball-WM habe über das Ereignis an sich hinaus eine ganz besondere Bedeutung für den Leistungs- und Breitensport, für die Wirtschaft und für die Gesellschaft. "Wir knüpfen an den friedlich verlaufenden Weltjugendtag an, aber auch an allen unseren positiven Erfahrungen, die das Land mit sportlichen und anderen Großereignissen hat", so der Abgeordnete. "Es gibt keinen Grund, in NRW irgendeinen Flecken Erde zu meiden." Globale Ereignisse des Spitzensports seien der Motor des Breitensports. Der Abgeordnete weiter: "Wenn der Motor läuft, ist er auch in der Lage, Spitzenleistungen zu erzeugen und insbesondere die Jugend zu motivieren. Spitzenleistungen sind die innovative Kraft, die Idole hervorbringt. Jugend braucht sportliche Vorbilder. Deshalb sind solche Ereignisse für uns alle und für eine funktionierende Gesellschaft sehr wichtig."
    Dr. Michael Vesper (GRÜNE) griff die Bemerkung auf, man könne einen Antrag auf Teilnahme des deutschen Teams am Finale stellen. "Die Gefahr besteht, dass das holländische Parlament einen ähnlichen Beschluss fassen könnte", scherzte er. "Aber auf das Gewinnen kommt es ja nicht an. Fan sein heißt, mit Vergnügen leiden können", zitierte er den Autoren Nick Hornby. Der Fußball, so Vesper weiter, sehe heute anders aus als noch vor Jahrzehnten. "Wäre es 1990 denkbar gewesen, das in der deutschen Mannschaft Gerald Asamoah, David Ondonkor oder Oliver Neuville zur Stammelf gehören werden?" Dass es in fast jeder größeren Stadt des Landes öffentliche Angebote gebe, begrüßte Vesper ausdrücklich. "Weg vom heimischen Fernseher, hin zu Gemeinschaftserlebnis vor Großbildleinwänden." Fußball sei nach wie vor Volkssport: "Er führt alle zusammen: Akademiker und Analphabeten, Alte und Junge, Christen und Moslems, Kinderreiche und Kinderlose, sogar Düsseldorfer und Kölner und Liberale und Grüne."
    Christof Rasche (FDP) sah das Team von Jürgen Klinsmann vor gewaltigen Herausforderungen und das Land ebenso. Die nordrhein-westfälischen Stadien gehörten zu den modernsten Sportstätten weltweit. Sämtliche Investitionen für die WM seien nachhaltig und nützen NRW langfristig. Der Abgeordnete sagte: "Deutschland und Nordrhein-Westfalen freuen sich, die besten Fußballer der Welt zu Gast zu haben. Wir freuen uns auf interessante und faire Spiele in einer friedlichen und entspannten Atmosphäre." Diese WM sei übrigens nur der Auftakt zu einem imposanten und hochklassigen Sportjahr: "Es folgen die Weltreiterspiele in der Reitsportmetropole Aachen, anschließend die Hockeyweltmeisterschaften im modernsten Hockeystadion in Mönchengladbach, danach die vierte Fußball-WM der Menschen mit Behinderung mit der kompletten Hauptrunde und dem Endspiel in Nordrhein-Westfalen. Auch das Sportjahr 2007 mit der Handballweltmeisterschaft wirft bereits seine Schatten voraus. Auch hier findet das Endspiel in Nordrhein-Westfalen, in der Kölnarena, statt."
    Dr. Karsten Rudolph (SPD) kam auf einzelne Punkte zu sprechen, "die das Gesamtbild trüben". Er erwähnte die starken kommerziellen Interessen, die die WM prägten und teilweise im Gegensatz zu den Sicherheitsinteressen stünden. Der Abgeordnete dankte in diesem Zusammenhang den Helfern, ohne die ein solches Großereignis nicht zu bewältigen wäre: Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienste, Bundeswehr und Hilfsorganisationen. Besonderes Augenmerk richtete er auf den Umstand, "dass offensichtlich die Neonazis die internationale Aufmerksamkeit während der Fußball-WM nutzen möchten, um zu provozieren und ihre Gesinnung offensiv zur Schau zu stellen". Diese Einstellung richte sich gegen alle in einer demokratischen und offenen Gesellschaft. "Wir möchten in Nordrhein-Westfalen ohne Angst, ohne Fremdenfeindlichkeit und ohne Hass leben", verlangte Rudolph.

    Zusatzinformation:
    Informationen im Netz
    Der NRW-Guide erscheint in einer Auflage von 1,3 Millionen teils in deutscher, teils in englischer Sprache. Er enthält alle Informationen rund um die WM in Nordrhein-Westfalen - vom WM-Spielplan, ÖPNV-Fahrplan bis zum Kultur-Rahmenprogramm und touristischen Tipps. Der Guide wird kostenlos verteilt. Infos unter http://www.im.nrw.de
    - Neues zu den WM-Spielorten, dem Team, zu Veranstaltungen, Übernachtungen und vielem mehr findet man im Internet auf der Seite http://www.wm2006.nrw.de
    - Für die Einsätze der Polizei anlässlich von Fußballspielen ist der Informationsaustausch zwischen den nationalen und internationalen Polizeibehörden von besonderer Bedeutung. Wer macht was und was rät die Polizei den Fans? Das steht auf der Internetseite http://www.polizei-nrw.de/wm2006/Start
    - Speziell zu den WM-Veranstaltungen im Ruhrgebiet findet man Infos unter http://www. metropolregionruhr.de/
    - Fotos, Tickets, Tabellen, Spielpläne, Videos und Fanartikel gibt es auf der offiziellen Seite http://www.fifaworldcup.yahoo.com/06/de/
    - Weitere Infos zur WM auch unter: http://www.eurosport.de/fussball/fifa-wm/2006/ http://wm2006.deutschland.de/

    ID: LIN02257

  • Größer, schöner, sicherer.
    Blick auf die Fußball-WM-Stadien in Dortmund, Gelsenkirchen und Köln.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 12 in Ausgabe 8 - 21.06.2006

    FIFA WM-Stadion Dortmund
    (Signal Iduna Park, ehemals Westfalenstadion) Baujahr: 1974, gefolgt von zahlreichen Umbaumaßnahmen
    (Um-)Baukosten: ca. 45,5 Millionen Euro
    WM-Kapazität: 66.000 Plätze
    Zahl der WM-Spiele: 6 (darunter ein Halb- und ein Achtelfinale)
    Heimatverein: Borussia Dortmund
    Internet: www.bvb.de
    Das FIFA WM-Stadion Dortmund ist hierzulande vielen besser bekannt als die "Fußball-Oper der Bundesliga". Mit sagenhaften 1,4 Millionen Zuschauern in der Bundesligasaison 2004/2005 – also im Schnitt über 70.000 pro Spiel – hält Deutschlands größtes Stadion, das 2005 von Westfalenstadion in "Signal Iduna Park" umbenannt wurde, den Besucherrekord in Europa. Doch auch was internationale Fußballturniere betrifft, blicken die Dortmunder mit Stolz auf eine lange Tradition ihres Stadions zurück: So wurde das Westfalenstadion bereits zur Fußball- WM 1974 erbaut. Bis heute wurde es ständig erweitert und modernisiert, zuletzt als Vorbereitung auf die jetzige WM. Die Planungsphase für den Bau begann bereits in den frühen 60-er Jahren. Das zunächst bevorzugte Modell einer Erweiterung des alten Dortmunder Stadions, der "Kampfbahn Rote Erde", wurde 1965 gekippt. Nach der Fertigstellung des Westfalenstadions im Jahre 1974 schwärmte der damalige Bundestrainer Helmut Schön: " Dieses Fußball-Stadion wird auf der ganzen Welt nur noch durch das Azteken- Stadion in Mexiko-City übertroffen."

    FIFA WM-Stadion Gelsenkirchen
    (VELTINS-Arena, ehemals Arena AufSchalke)
    Baujahr: 2001
    (Um-)Baukosten: ca. 191 Millionen Euro
    WM-Kapazität: 53.900 Plätze
    Zahl der WM-Spiele: 5 (darunter ein Viertelfinale)
    Heimatverein: FC Schalke 04
    Internet: www.veltins-arena.de
    Die Arena ist zweifellos ein Stadion der Superlative. Allein schon aufgrund seiner technischen Ausstattung wie herausfahrbarem Rasen, verschließbarem Dach, elektronischer Zugangskontrolle, riesigem Videowürfel und einer beweglichen Tribüne zählt die Multifunktionsarena zu den modernsten Stadien der Welt. Seit der Eröffnung im Jahre 2001 wurde es immer wieder mit Lob überhäuft: Begeisterung bei FIFA-Präsident Joseph S. Blatter, der auf der Eröffnungsfeier urteilte: "So ein Stadion hat die Welt noch nicht gesehen. Dieses Stadion ist ein Pilotprojekt für die ganze Welt." Und auch der europäische Fußballverband UEFA stufte die Arena in seine höchste zu vergebende Kategorie als "Fünf-Sterne-Stadion" ein. In der Begründung heißt es: "Der Veranstaltungsort wird den Anforderungen mehr als gerecht und könnte sogar als ‚Sechs-Sterne-Stadion‘ bewertet werden." Dass die Begeisterung für die Arena nicht nur auf Expertenseite hoch ist, verrät ein Blick auf die Zuschauerzahlen: Über acht Millionen Menschen besuchten bis Anfang 2005 die rund 150 Veranstaltungen in der Arena seit ihrer Eröffnung.

    FIFA WM-Stadion Köln
    (RheinEnergie Stadion, ehemals Müngersdorfer Stadion)
    Baujahr: 2004 (Um-)Baukosten: ca. 119,5 Millionen Euro
    WM-Kapazität: 44.700 Plätze
    Zahl der WM-Spiele: 5 (darunter ein Achtelfinale)
    Heimatverein: 1. FC Köln
    Internet: www.stadion-koeln.de
    Auf dem Gelände des legendären Müngersdorfer Stadions gebaut, wurde das RheinEnergie Stadion am 31. März 2004 mit dem Länderspiel Deutschland gegen Belgien eröffnet. Deutschland gewann damals 3:0. Hoffentlich ein gutes Omen für das Abschneiden des deutschen Teams bei der WM, obwohl weder die Nationalelf ein Spiel in Köln bestreiten wird noch Belgien an der WM teilnimmt. Für die Kölner bedeutet die Auswahl ihrer Heimatstadt als WM-Spielort sicherlich eine späte Wiedergutmachung dafür, dass Köln bei der Fußball-WM 1974 leer ausgegangen war. Der Umbau des alten Müngersdorfer Stadions dauerte zwei Jahre und erfolgte bei laufendem Spielbetrieb. Dabei wurden nacheinander alle vier Tribünen abgerissen und wieder neu aufgebaut. Gegenüber dem alten Stadion mit seiner Leichtathletik-Bahn hat das neue Stadion wesentlich an Atmosphäre gewonnen. Und wer eine wirkliche "rheinische Frohnatur" ist, der lässt sich die Fußballbegeisterung auch nicht dadurch vermiesen, dass die Saison des Heimatvereins 1. FC Köln mit dem Abstieg in die 2. Bundesliga endete.
    ax

    ID: LIN02258

  • Der dornige Weg zu einem neuen Image.
    Editorial / Kommentar / Blickpunkt;
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 2 in Ausgabe 7 - 31.05.2006

    Au, das war ein Bauchklatscher! Man weiß nicht, wie bedröppelt der Oberbürgermeister der Stadt Essen dreingeschaut hat, als ihn das Echo auf seine Schelte des zeitgenössischen Revier-Humors erreichte. Die Comedians, so hatte der OB öffentlich geseufzt, präsentierten veraltete Bilder vom Revier. Das brauche schließlich keinen Vergleich mit Metropolen wie Paris oder London zu scheuen.
    Der Trabbel und der Stunk, den das gab, erschütterte die Szene zwischen Emscher und Ruhr. Leute wie Dr. Stratmann rieben sich die Klüsen und wurden kiebig. Sollten Kumpel Anton, Taubenvatta Jupp oder (Gott hab ihn selig) Adolf Tegtmeier samt ihrer Verdienste ums deutsche, ja weltweite Ansehen des Ruhrgebiets beerdigt werden? Und der schmuddelige Tatort-Kommissar Schimmi im Filmarchiv verschwinden?

    Andere Bilder

    Metropolregion oder Pott - ist das hier die Frage? Kann man sich in vier Jahren als Europas Kulturhauptstadt nur dann präsentieren, wenn man seine Vergangenheit "bewältigt" hat? Mit dem Bewältigen ist das so eine Sache. Und ein Image kann man sich nicht backen. Das hat man weg, "ääährlich" und einerseits.
    Andererseits: Mit einem Image, das nicht mehr passt, muss sich niemand abfinden. Das kann verändert werden, Schritt für Schritt und nicht von heute auf morgen. Strukturwandel, dichteste Kultur- und Hochschullandschaft, das Grün der Revierparks und der ehemaligen Halden, die still gelegten Eisenbahntrassen, die Stätten der Kunst, in denen früher die Industriearbeiter malochten - das ist heute der Alltag.
    Diese neuen Bilder müssen sich setzen, vor allem draußen. Die Gelegenheit ist günstig, denn die alten Klischees vom Ruß, von rauchenden Schloten und ärmlich hausenden Menschen verblassen kräftig, weil sie mit der Realität nichts mehr zu tun haben. Alles Mummpitz von vorgestern.
    Von der kraftvollen Gegenwart gab der Regionalabend Ruhrgebiet im Landtag einen guten Eindruck. Die Menschen an der Ruhr haben, bei allen liebevoll gepflegten örtlichen Animositäten, ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt. Das macht stark und gibt Selbstvertrauen. Die Ernennung zur Kulturhauptstadt hat dem ganzen noch einmal einen ordentlichen Schub verliehen. Dem Ruhrbewusstsein werden sich eines Tages auch die Verwaltungsgrenzen anpassen. Vielleicht belächelt man draußen die Leute im Pott und bemitleidet sie auch ein wenig. Aber man sollte sie nicht unterschätzen. Und Mitleid haben sie noch nie gemocht.
    JK

    ID: LIN02164

  • Kultur als Motor des Wandels.
    Fraktionen gratulieren Essen zur Nominierung durch EU-Kommission.
    Plenarbericht;
    Titelthema / Schwerpunkt;

    S. 14 in Ausgabe 7 - 31.05.2006

    Als großen Tag für die Menschen in Essen, im Ruhrgebiet und darüber hinaus hat Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) den Vorschlag der Jury der Europäischen Kommission bezeichnet, Essen und das Ruhrgebiet zur Kulturhauptstadt 2010 zu benennen. Mit besonderem Engagement werde sich die Landesregierung daran beteiligen, "dass die Kulturhauptstadt 2010 ein großer Erfolg für ganz Nordrhein-Westfalen wird", versprach der Regierungschef in seiner Unterrichtung des Landtags Anfang des Monats im Plenum.
    Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) erläuterte: "Das Ruhrgebiet ist heute eine der dichtesten und vielseitigsten Kulturlandschaften Europas, obwohl es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts noch kein Kunstmuseum und kein Theater im Ruhrgebiet gab". Es habe seinen kulturellen Reichtum nicht ererbt, sondern erarbeitet. Heute zähle das Ruhrgebiet nicht weniger als 200 Museen, 100 Kulturzentren, 100 Konzerthäuser, 120 Theater, 250 Festivals und Feste, 3.500 Industriedenkmäler und 19 Hochschulen.
    Der Ministerpräsident schlug vor, dass das Land zusammen mit der Stadt Essen, dem Regionalverband Ruhrgebiet (RVR) und dem Initiativkreis Ruhr eine Kulturhauptstadt GmbH gründet. Oberstes Prinzip sollte das der Nachhaltigkeit sein. "Wir sollten 2010 kein Strohfeuer abbrennen, sondern bis 2010 Strukturen schaffen, die auch über das Kulturhauptstadtjahr hinaus fortwirken, sich möglicherweise auf ganz Nordrhein-Westfalen übertragen lassen". Wie für das gesamte Land benötige man auch für die Kulturhauptstadt eine systematische Marketing- und Tourismusstrategie, die im Sinne von Nachhaltigkeit Teil der landesweiten Strategie sein sollte.
    Basis für eine nachhaltige Kulturentwicklung sei die kulturelle Bildung der Kinder und Jugendlichen, betonte Rüttgers: "Ich schlage vor, bis zum Jahr 2010 das Ruhrgebiet zu einer Modellregion zu entwickeln, in der möglichst jeder Schüler und jede Schülerin im Laufe der Schulzeit die Chance erhält, auf einem Instrument zu spielen oder in einer anderen Kunstsparte aktiv tätig zu werden, um anschließend - ganz im Sinne von Nachhaltigkeit - die Erfahrungen mit diesem Modell auf das ganze Land zu übertragen."
    Der Ministerpräsident weiter: "Ich bin sicher: Der Stolz und das Selbstwertgefühl in der Region werden zunehmen, das spornt alle zu neuen Innovationen an. Und es wird die gemeinsame regionale Identität festigen, die das Ruhrgebiet mehr denn je nötig hat." Zur Finanzierung sagte Rüttgers, Essen habe ein Basisbudget von 48 Millionen Euro angegeben. Bisher sehe die Planung vor, dass vom Bund neun Millionen Euro, von der Wirtschaft des Ruhrgebiets 8,5 Millionen Euro, von der Stadt Essen sechs Millionen Euro und vom RVR zwölf Millionen Euro aufgewandt würden. Der Ministerpräsident: "Das Land wird sich ebenfalls mit zwölf Millionen beteiligen."
    Claudia Nell-Paul (SPD) zitierte das Motto der Kulturhauptstadt: "Wandel durch Kultur - Kultur durch Wandel" und freute sich, dass "das Kirchturmdenken" durch die gemeinsame Bewerbung der Kommunen durchbrochen worden sei. "Hier ist bereits ein kleines Wunder passiert." Das Ruhrgebiet sei stark und werde weiter stark werden. Aber sie warnte auch: "Wir sollten uns deshalb davor hüten, Essen das Zepter bei der Kulturhauptstadtplanung aus der Hand zu nehmen".
    Manfred Kuhmichel (CDU) freute sich ebenfalls: "Das war ja mal eine gute Nachricht aus Brüssel!" Essen sei seit 57 Jahren seine Heimatstadt und gelegentlich sei er bemitleidet worden: "Diese Zeiten sind vorbei!" Zur Finanzierung merkte er an, im Ruhrgebiet sei über Jahre soviel Kohle gefördert worden, da werde es auch gelingen, die "Kohle" zu fördern, die für die Kulturhauptstadt nötig sei.
    Sylvia Löhrmann, GRÜNE-Fraktionsvorsitzende, meinte, Europa habe sich mit dieser Entscheidung selbst einen Gefallen getan. "Essen und die Region haben Europa verführt und werden Europa weiter verführen." Die Dimension der Bewerbung, so die Jury, sei mit der aller anderen Projekte unvergleichbar gewesen. Aber: "Die Kulturhauptstadt ist keine Medaille, die man sich anhängt, sondern eine große Herausforderung", mahnte sie. Deshalb dürfe der Prozess nicht schöne Schminke für ein Jahr sein, sondern müsse den Strukturwandel neu definieren und weiterentwickeln. Kultur sei nicht das Sahnehäubchen, sondern die "Hefe im Teig".
    Ralf Witzel (FDP) lobte, es sei einzigartig, dass eine Region so geschlossen darum gekämpft habe, Kulturhauptstadt zu werden. "Mit den Essenern zitterten 5,3 Millionen Menschen - 600.000 von ihnen haben keinen deutschen Pass und sie stammen aus 140 Nationen." Er titulierte die Ruhrregion als "Mona Lisa Europas" und sagte: "Ruhrkultur ist eben nicht Weimarer Klassik. Auch Mona Lisa ist nicht nur im klassischen Sinne schön. Essen wird es gelingen, mit seinem eigenen Profil zur Mona Lisa Europas zu werden."

    Bildunterschrift:
    Zum Symbol des kulturellen Wandels geworden ist die Essener Zeche Zollverein. Sie atmet den Geist der Bauhaus-Architektur und wurde von der UNESCO zum Weltkulturerbe ernannt. Bei ihrem Bau Anfang der 30-er Jahre des vorigen Jahrhunderts galt sie als die modernste Schachtanlage. In der Blütezeit arbeiteten hier 5.000 Menschen. Weihnachten 1986 wurde Zollverein stillgelegt. Auf dem Bild das markante Fördergerüst im Essener Stadtteil Katernberg.

    ID: LIN02170

  • "Töffte und Trallafitti".
    Parlamentarischer Abend Ruhrgebiet: Informativ und unterhaltsam.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 15 in Ausgabe 7 - 31.05.2006

    Endlich Ende der Debatte. Die Abgeordneten hatten lange argumentiert, taktiert und gestritten. Über Stunden und ohne Pause, zuweilen hart und unversöhnlich. So ist das eben bei der dritten Lesung eines Landeshaushalts. Abends war dann alles gesagt und alle hätten eilig auseinander gehen können, ohne sich noch etwas zu sagen.
    Aber nicht an diesem Tag: Da war auf Einladung der Präsidentin das Ruhrgebiet im Landtag zu Gast. Und so kam es, dass die politischen Gegner bei einem Pils zusammenstanden, sich einträchtig über die Häppchen hermachten und manchmal gemeinsam schwiegen, um dem abwechslungsreichen Bühnenprogramm zu lauschen. Ein Parlamentarischer Abend mit integrierender Wirkung, dem Ruhrgebiet sei Dank.
    Integrieren kann nämlich das Ruhrgebiet seit jeher. Sonst hätte es die Bewerbung um die europäische Kulturhauptstadt 2010 nicht geschafft und wäre nicht gemeinsam so stolz auf den Erfolg. Das war den Akteuren auf der Bühne deutlich anzumerken (und zu gönnen), gleich ob es sich um die Oberbürgermeister von Hamm und Dortmund, Thomas Hunsteger- Petermann und Gerhard Langemeyer, den Direktor des Regionalverbands Ruhr, Heinz- Dieter Klink, Peter Melerski vom Initiativkreis Ruhrgebiet oder den unermüdlichen Promoter des Projekts, Oliver Scheytt, handelte. Scheytt ist im Hauptberuf Kulturdezernent in Essen.
    Kultur wechselte auf der Bühne mit Information und Interview, Kabarett und Comedy. Der Obel aus Hamm behauptete von sich, das Wunder von Bern zu sein. Fritz Eckanga gab den Deutschen mit westfälischem Migrationshintergrund. Bodo Berg berichtete unter dem Motto "Dem Ball is. egal wer ihn tritt" über Fanarbeit gegen Rassismus und Gewalt in den Fußballstadien. Musicalstar Janine Brinkert brachte Ausschnitte aus "Elisabeth" und "Mozart" zu Gehör. Junge Leute von der Folkwang-Hochschule sangen erfrischend aus ihrem Repertoire und Günter Papendell vom Musiktheater im Revier gab eine Kostprobe.
    Die Künstlerinnen und Künstler des Abends hatten mit einem gewissen Hintergrundrauschen von rund 1.000 geladenen Gästen zu kämpfen. Souverän ignorierten sie es oder setzten sich gegen den Pegel durch. Zu Hilfe kam ihnen sicherlich, dass mit Fortschreiten des Programms der eine oder andere Besucher im Hohen Hause der Stimme seines Magens folgte - das Herz (es schlägt ja ohnehin für das Revier) ließ er vor der Bühne zurück. Aus dem Souterrain des Landtags duftete es gar zu verführerisch. Die regionale Küchenkunst, nachdem sie in der Bürgerhalle schon mit Fingerfood ("Bochum kulinarisch") Appetit gemacht hatte, bot im Restaurant eine Treppe tiefer an, was sie hergab: Ruhrzander auf jungem Wirsing, Brot mit Zwiebelmettwurst, die so genannte "Steigerknifte", und - Klischees müssen bedient werden - Currywurst Schranke, wie die Landtagspräsidentin launig angekündigt hatte.
    Wer seinen ersten Durst und Hunger gestillt hatte, der konnte aus den an diesem Abend weit offen stehenden Glastüren aus dem Restaurant nach draußen treten. Dort hatte der Deutsche Schaustellerbund ein paar Proben seiner Kirmeskunst aufgefahren: einen historischen Schaustellerwagen, der besichtigt werden konnte, eine Wurfbude, ein Stand mit gebrannten Mandeln, Orgeln und - Inbegriff mannhaften Kirmesvergnügens - einen "Haut den Lukas". Der hatte viel einzustecken, die Rufe der Schadenfreude oder der Anerkennung aus dem Publikum schallten an diesem Abend weit über den Rhein.
    Da waren die Worte aus der Eröffnungsrede von Landtagspräsidentin Regina van Dinther schon verklungen. Sie hatte ein "töffte" Programm angekündigt und damit Recht behalten. Kein Wunder, gehörte die Präsidentin doch zu den 38 Abgeordneten aller Fraktionen aus dem Ruhrgebiet, die als "Kinder des Reviers" Verantwortung für den Abend übernommen hatten. Regina van Dinther vergaß auch nicht die Sponsoren, darunter die Sparkassen und das Werkarztzentrum in Recklinghausen: Die seien nicht "kniepig" gewesen und hätten dafür gesorgt, "dass heute Abend hier richtig Trallafitti ist". Das war.s dann auch, bis kurz nach Mitternacht.
    JK

    Bildunterschriften:
    Die OB.s aus Hamm und Dortmund mit Moderator Karl-Martin Obermeyer (r.)
    Robert Meier (109), ältester NRW-Bürger
    Soulsänger Nelson aus Essen
    Melodien aus "Elisabeth" und "Mozart": Janine Brinkert

    ID: LIN02171

  • Kuhmichel, Manfred (CDU); Töns, Markus (SPD); Steffens, Barbara (Grüne); Witzel, Ralf (FDP)
    Das Revier – eine Region im Wandel.
    Interviews mit Abgeordneten aus dem Ruhrgebiet.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 16-17 in Ausgabe 7 - 31.05.2006

    Gestärkt durch die Kulturhauptstadt-Ehre trat das Ruhrgebiet zur Leistungsschau im Rahmen des Parlamentarischen Abends im Landtag an. Grund für die Vorstellung der Regionen ist das 60-jährige Landesjubiläum Nordrhein-Westfalens. Doch allein die Freude über den ersehnten Titel löst nicht die strukturpolitischen und demographischen Probleme im Revier. Jetzt geht es darum, aus der derzeitigen Siegesstimmung einen Schub für die gesamte Region abzuleiten. Wie der aussehen kann, darüber sprach "Landtag intern" mit Manfred Kuhmichel (CDU), Markus Töns (SPD), Barbara Steffens (GRÜNE) und Ralf Witzel (FDP).

    Am vierten Regionalabend hat sich das Ruhrgebiet im Landtag vorgestellt: Lästige Lobbyarbeit oder nachhaltige Werbung fürs Revier?

    Kuhmichel: Eindeutig das Letztere! Das war ein ganz toller Abend. Es waren sehr viele Gäste da, auch die Stimmung war gut. Man merkte, dass das Wir-Gefühl im Ruhrgebiet wächst und gedeiht. Die erfolgreiche Kulturhauptstadtbewerbung tut das ihrige dazu. Abgeordnete aller Fraktionen waren zahlreich vertreten und haben deutlich gemacht, dass das Ruhrgebiet keiner Partei gehört, sondern den Menschen aus dem Revier. An dieser Stelle möchte ich übrigens auch der Landtagsverwaltung ein großes Lob aussprechen, ohne deren Engagement der Abend so nicht hätte ablaufen können.
    Töns: Ich bin fest davon überzeugt, dass das nachhaltige Werbung fürs Revier war. Wir hatten das Glück, dass der Regionalabend zeitlich mit der Entscheidung über die Kulturhauptstadt 2010 zusammenfiel. Für Essen und das gesamte Ruhrgebiet ist das eine historisch einmalige Entwicklung, die der gesamten Region einen Schub geben wird. Auf den Abend bezogen möchte ich sagen, dass wir eine tolle Veranstaltung hatten. Erfreulich fand ich, dass es gelungen ist, den Landtag an diesem Abend im wahrsten Sinne des Wortes als offenes Haus zu präsentieren und am Rheinufer eine für das Revier typische Atmosphäre mit Pils und Currywurst aufkommen zu lassen. Doch zudem haben wir auch gezeigt, was das Ruhrgebiet sonst noch zu bieten hat. So haben wir beispielsweise bewusst auf den Bergmannschor verzichtet und dafür einen Soulsänger aus Essen ins Programm aufgenommen.
    Steffens: Der Abend war mehr als nur eine Werbeveranstaltung. Sicherlich, er diente einerseits dem Ruhrgebiet, um sich und seine Stärken nach außen hin zu präsentieren. Darüber hinaus diente er aber auch als Kommunikationsplattform für die Menschen aus dem Ruhrgebiet. Ich habe den Eindruck, dass Kommunikation und Austausch der Ruhrgebietsstädte untereinander nicht so funktioniert, wie es funktionieren müsste. Von daher kann so ein Abend für viele Seiten hilfreich sein. Insgesamt gesehen muss der Landtag jedoch Acht geben, mit solchen Veranstaltungen nicht inflationär umzugehen und in der Bevölkerung als "Partybude" wahrgenommen zu werden.
    Witzel: Ich habe den Regionalabend als gute Werbung für das gesamte Revier empfunden. Natürlich kann ein solcher Abend immer nur einzelne Ausschnitte einer Region herausstellen. In den Bereichen Wissenschaft, Forschung und Sport hätten wir noch mehr zu bieten gehabt. Insgesamt ist es jedoch gut gelungen, eine ansprechende Mischung aus ernsten Themen wie Wirtschaft, Kunst und Kultur auf der einen sowie Tradition und lockerem Ambiente auf der anderen Seite herzustellen.

    Das Ruhrgebiet kann den Strukturwandel nicht aus eigener Kraft schaffen. Muss es bei der Bewilligung von Fördermitteln künftig die Konkurrenz anderer Regionen fürchten?

    Kuhmichel: Das Ruhrgebiet ist in der Vergangenheit ein Stück weit politisch bevormundet worden. Gegenüber anderen Regionen haben wir einige strukturelle Schwächen, an denen wir Arbeiten. Wir wollen die Bürokratie abbauen, wir wollen die Selbststeuerung fördern und die Region von Bevormundung befreien. Aber das gelingt nicht von heute auf morgen. Dabei muss sich das Ruhrgebiet nach Meinung der CDU-Fraktion ganz klar dem Wettbewerb stellen. Einfach nur auf Bewilligungsbescheide zu warten und darauf zu hoffen, für politisches Wohlverhalten belohnt zu werden – das kann es nicht sein. Wir sind daher bereit uns daran messen zu lassen, inwieweit Steuergelder sinnvoll genutzt werden, um das Ruhrgebiet nach vorne zu bringen, statt zig Millionen Euro für unrentable Leuchtturmprojekte wie zum Beispiel HDO zu vernichten. Die Förderung des Mittelstandes hat oberste Priorität.
    Töns: Damit muss das Ruhrgebiet rechnen, weil es ab 2007 eine Umstellung der Förderrichtlinien geben wird. Es entspricht dem Willen des Landtags, künftig alle Bereiche des Landes in diese Förderung mit einzubeziehen. Trotzdem werden wir darauf achten müssen, dass das Ruhrgebiet nicht benachteiligt wird, da der Förderbedarf weiterhin hoch sein wird. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass die Europäische Kommission bei der Mittelverteilung ein gewichtiges Wort mitreden wird und nicht dem Wunsch einiger politischer Vertreter aus dem ländlichen Raum entsprechen wird, die Fördermittel nach dem Gießkannenprinzip übers Land zu verteilen. Trotzdem muss sich das Ruhrgebiet darauf einstellen, dass die Höhe der Mittel zurückgehen wird.
    Steffens: Man muss Rahmenbedingungen schaffen, die auch nach den ab 2007 gültigen Richtlinien finanz- und strukturschwachen Kommunen die Möglichkeit einräumen, in bestimmte Förderbereiche mit hereinzukommen. Derzeit steht die Frage im Raum, wie diese Förderbedingungen aufgestellt werden sollen, um die zukünftigen Ziel-2-Mittel allen erschließbar zu machen. Wir haben bei allen EU-Förderprogrammen das Problem der kommunalen Kofinanzierung. Das wiederum stellt ein besonderes Problem für das Ruhrgebiet dar, da viele Städte und Gemeinden unter Haushaltssicherung stehen. Hier darf es keine Regelung geben, die Haushaltssicherungs-Kommunen bei Fördermaßnahmen außen vor lässt, weil diese kein Geld für die Kofinanzierung haben. Wenn man diesen Gemeinden den Geldhahn zudreht, würde das bedeuten, das Kind mit dem Bade auszuschütten.
    Witzel: Selbstverständlich kann und muss die Ruhrregion einen nachhaltigen Beitrag zu ihrer eigenen strukturpolitischen Modernisierung leisten. Bei der Verteilung von Fördermitteln sind in der Vergangenheit viele Fehler gemacht worden. Beispiel HDO: Hier sind Millionensummen versenkt worden. Zudem leidet das Ruhrgebiet bis heute unter standortpolitischen Fehlentscheidungen jahrzehntelanger Monostrukturen. So haben wir die niedrigste Selbstständigenquote in ganz NRW. Hier muss die Region neue Prioritäten setzen. Zum zweiten Teil der Frage: Unterstützungshilfen für Regionen in Phasen struktureller Anpassung halte ich für richtig und notwendig. Selbstverständlich muss sich auch das Ruhrgebiet der Konkurrenz bei der Mittelverteilung stellen. Interessanter ist jedoch eine andere Frage: Wie ist es zu rechtfertigen, dass wir die Haushalte von Ruhrgebietskommunen durch Solidaritätszahlungen in die neuen Bundesländer immer weiter verschulden, obwohl die wirtschaftlichen Indikatoren dort zum Teil besser sind als in manchen Bereichen des Ruhrgebiets? Da müssen wir einen neuen Verteilungsschlüssel zugrunde legen.

    Was ist dran an der Befürchtung, das Ruhrgebiet sei im Begriff, zum Armenhaus und Altersheim der Nation zu verkommen?

    Kuhmichel: Ich weiß um die Vorurteile, halte sie aber für hoffnungslos übertrieben. Das Ruhrgebiet ist keine sterbende Region, sondern eine Region, die sich im Wandel befindet. Das Ruhrgebiet hat in den letzten Jahren unheimlich an Attraktivität gewonnen. Ich lebe lange genug im Ruhrgebiet um zu wissen, wie es früher hier einmal ausgesehen hat. Auf der anderen Seite weiß ich natürlich um die Probleme im Revier. Es hat in der Vergangenheit viele Planungssünden gegeben. Diese gilt es nun gezielt anzugehen. Dafür müssen wir Investoren suchen. Die Abschaffung der Fehlbelegungsabgabe ist ein Schritt in die richtige Richtung, um eine soziale Durchmischung in bestimmten Problemgebieten zu erhalten. Darüber hinaus müssen wir die Kinder-, Schul- und Jugendbildung weiter ausbauen, um auch für junge Eltern Anreize zu schaffen, sich im Ruhrgebiet niederzulassen beziehungsweise zu bleiben.
    Töns: Das sehe ich nicht so. Es gibt längst Städte im Ruhrgebiet, die den demographischen Wandel als Herausforderung und Chance begreifen. Städte können sich auch einer veränderten gesellschaftlichen Entwicklung anpassen und neue Wege gehen. Hierzu zählen beispielsweise Wohnkonzepte, wo Alt und Jung sowie Menschen mit und ohne Migrationshintergrund zusammenleben und einander helfen. Wenn wir diese Ideen weiter verfolgen, dann läuft das Ruhrgebiet nicht Gefahr, sich zum Armenhaus zu entwickeln. Fakt ist, das Ruhrgebiet wird älter und bunter. In puncto gelebte Integration ist das Ruhrgebiet vielen anderen Städten und Regionen weit voraus. Zudem hat die hohe Lebensqualität im Ruhrgebiet dazu geführt, dass sich der Trend der Abwanderung ins Umland mittlerweile ins Gegenteil verkehrt hat.
    Steffens: Das Ruhrgebiet hat im Vergleich zu den übrigen Regionen in NRW den höchsten Altersdurchschnitt. Demnach ist das Ruhrgebiet eine Art Modellregion, wenn es darum geht, die Probleme der demographischen Entwicklung zu bewältigen. Als solche sollte sie auch vom Land angesehen und unterstützt werden. Eine zusätzliche Herausforderung ist die Tatsache, dass das Ruhrgebiet mit einem hohen Migrationsanteil alt wird. Einige Ruhrgebietsstädte haben bereits hervorragende Modelle und Projekte entwickelt, um dieser Entwicklung städtebaulich, sozial- und integrationspolitisch zu begegnen. Es kann und darf nicht sein, dass wir unsere Mitmenschen ab einem gewissen Alter in Altenheime abschieben. Wir müssen vielmehr Voraussetzungen für ein gutes und menschenwürdiges Zusammenleben schaffen, unabhängig von Alter, Nationalität und sozialer Herkunft. Das Revier geht hier mit gutem Beispiel voran.
    Witzel: Die Bevölkerungsprognosen zeigen, dass es in NRW eine regional unausgewogene Entwicklung gibt. Bezogen auf das Ruhrgebiet sehe ich die Gefahr, dass wir hier im negativen Sinne abgekoppelt werden. Wir haben aber Gestaltungsmöglichkeiten, um dieser Entwicklung vor Ort aktiv entgegenzuwirken. Wir brauchen mehr Kinder- und Familienfreundlichkeit, damit junge Familien die Ruhrregion nicht verlassen. Das Revier könnte zudem mehr attraktives Bauland als Zuzugsort ausweisen. Ansonsten gehören ein qualitativ hochwertiges Bildungssystem und ein gut ausgebautes Netz von Betreuungsangeboten zu den wichtigsten Voraussetzungen, um eine Region für junge Menschen attraktiv zu gestalten. Hier ist die Koalition mit dem neuen Schulgesetz, der Einrichtung von Familienzentren und der Ausweitung der Sprachförderung sowie der Betreuungsplätze für unter Dreijährige auf einem guten Weg.
    Die Interviews führten Jürgen Knepper und Axel Bäumer

    ID: LIN02172

  • Raus aus dem Tal der Tränen.
    Das Ruhrgebiet besinnt sich auf seine Stärken.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 18 in Ausgabe 7 - 31.05.2006

    Wer heute einmal des Nachts über das Ruhrgebiet fliegt und bei klarem Wetter aus dem Flugzeug nach unten schaut, der sieht ein riesiges Lichtermeer, durchzogen von den leuchtenden Bändern des Autoverkehrs. Eine der größten Stadtlandschaften der Welt, eine einzige Metropole, so sieht es aus der Vogelperspektive aus.
    Aber das Ruhrgebiet war nie ein zentralisierter Ballungsraum wie Paris oder London. Diese Region besteht aus einer Ansammlung größerer und kleinerer Städte, Stadtteilen, ja Dörfern. Grenzen sind von oben nicht auszumachen. Aber die unterschiedliche Mentalität der Menschen, die Konkurrenz und die Zugehörigkeit zu mehreren Verwaltungsräumen haben bisher bewirkt, dass ein Zusammengehörigkeitsgefühl nur schwer entstehen konnte.
    "Es kommt auf jede Tonne Kohle an" hatte es 1948 geheißen. Jedermann war klar: Wenn das zerstörte Deutschland wieder auf die Beine kommen wollte, dann brauchte es dazu viel Energie. Sie lag in Form mächtiger schwarzer Flöze unter den Füßen der Menschen im Kohlenpott und musste nur ans Tageslicht geholt werden. Das taten zur Blütezeit der Montanindustrie an Rhein und Ruhr mehr als eine halbe Million Menschen in 173 Zechen. Der Höhepunkt der Förderung war 1957 erreicht: 149 Millionen Tonnen.
    1966 wehen schwarze Fahnen an der Ruhr. Die erste Kohlekrise ist auf dem Höhepunkt. Öl verdrängt die Kohle: Ein Stoff, der – damals jedenfalls – sauberer, einfacher, billiger und massenhaft vorhanden war. Das Wort vom Zechensterben macht die Runde. Die Politik ist angesichts des Zorns der Menschen und der Heftigkeit des Protestes fast hilflos. Ein Anpassungsplan nach dem anderen versucht, die Entwicklung in halbwegs erträgliche Bahnen zu lenken.
    Schnitt. Heute beschäftigt der Steinkohlenbergbau an der Ruhr noch 42.000 Menschen auf neun Schachtanlagen (Ende 2005). Die jährliche Förderung liegt bei gut 25 Millionen Tonnen. Im Gespräch ist die weitere Absenkung auf einen Fördersockel von 16 Millionen Tonnen, der für 2012 geplant ist.
    Bergbau ade, ganze Kokereien und Stahlwerke nach China verfrachtet – das Ruhrgebiet ist längst nicht mehr das "Revier", auch wenn es immer noch so genannt wird. Die Montanindustrie dominiert nicht länger das wirtschaftliche Geschehen. Dienstleistung, Innovation, Wissen und Bildung, Kultur und Logistik, Medien und Sport, Umwelt und Sonnenenergie bestimmen das Bild. Nicht nur wirtschaftlich, sondern auch im Alltag und im Bewusstsein der Menschen, die hier leben.
    Schon vor den 60-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hatten die Planungen zu den Universitäten Bochum und Dortmund begonnen, später folgten die als Reformhochschulen gegründeten Standorte Duisburg, Essen und Hagen mit seiner Fernuniversität. Die Folkwang-Hochschule genießt Weltruf. Zahlreiche Museen zeigen ihre Schätze. Der Regisseur Helmut Zadek, vor kurzem 80 geworden, schockiert am Bochumer Schauspielhaus mit viel beachteten Inszenierungen und produziert entsprechende Schlagzeilen. In Recklinghausen und darüber hinaus machen die Ruhrfestspiele (wieder) von sich reden. Die Ruhr-Triennale unter ihrem Intendanten Jürgen Flimm holt Orchester, Schauspieler, Tänzer und Kreative aller Richtungen in ehemalige Kraftwerkszentralen, Gebläsehallen, Waschkauen.
    Aus aller Welt landen Waren und Güter per Bahn, per Schiff oder per Lkw im Logport Duisburg und werden dort auf der "Warendrehscheibe Europas" verteilt. Das Ruhrgebiet ist auf einmal, scheint es, wieder "in". Thyssen- Krupp überraschte vor kurzem mit dem Entschluss, seinen Sitz von Düsseldorf nach Essen zu verlegen. Siemens investiert in ein neues Turbinen- Testzentrum in Duisburg. Der Aufbruch ist mit den Händen zu greifen.
    Strukturwandel ist das Zauberwort. Vor Jahren wäre ein Einkaufszentrum wie das Centro in Oberhausen undenkbar gewesen. Internationale Bauausstellungen haben das Gesicht des Reviers stärker verändert als die Bomben des Zweiten Weltkriegs und der Tod der Zechen. Im Norden des Reviers wird ein Jahrhundertprojekt angepackt, die Renaturierung der Emscher, die von den Anwohnern nur "Köttelbecke" (Übersetzung nicht nötig) genannt wurde. Die alten Halden werden mit Kunstwerken gekrönt, im Bottrop rutscht man auf Kunstschnee den Berg herunter oder sucht im Moviepark Ablenkung. Im Ruhrgebiet sind die Menschen wieder optimistisch, draußen reibt man sich die Augen: Das soll der "kranke Mann an der Ruhr" sein? Der strotzt ja auf einmal vor Selbstbewusstsein!
    JK

    Tabelle:
    Das Revier in Zahlen
    Bewohner 5,4 Millionen - davon mit Migrationshintergrund 0,64 Millionen
    - Arbeitslose (März 2006) 376.203
    - Arbeitslosenquote 15,1 Prozent
    Fläche 4.434 km2
    Ausdehnung
    - West-Ost 116 km
    - Nord-Süd 67 km
    Höchster Punkt 420 m über NN (Breckerfeld)
    Niedrigster Punkt 14 m über NN (Xanten)
    Kreisfreie Städte 11
    Kreise 4
    Regierungsbezirke 3
    Landschaftsverbände 2
    Regionalverband Ruhr 1
    Überörtliche Straßen 4.700 km
    Schienennetz Personenverkehr Bahn 1.470 km
    Wasserstraßennetz 250 km

    ID: LIN02173

  • Zusammenarbeit über alle Grenzen.
    Editorial / Kommentar / Blickpunkt;
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 2 in Ausgabe 6 - 03.05.2006

    Die Reihe der parlamentarischen Abende, bei denen sich im Landtag acht Regionen vorstellen, hat gut begonnen. Erinnern wir uns: Wenn sich Ostwestfalen und Lippe, das Sauerland und Siegerland präsentiert haben und jetzt Aachen und die Eifel dran sind, dann passiert das, um einen Eindruck von der Leistungskraft und den Besonderheiten der jeweiligen Region zu vermitteln. Aber es soll die Aufmerksamkeit auch darauf lenken, was in den 60 Jahren, die das Land Nordrhein-Westfalen jetzt existiert, zwischen Rur und Weser, Ems und Sieg entstanden ist.
    Aachen und die Eifel - das ist mehr als Dreiländereck, Karlspreis, Wissenschaft, Printen, Karneval, Natur und Landschaft. Das sind die Römer, Karl der Große, die deutschen Kaiser, die hier gekrönt worden sind, das ist die Zeit der französischen Besatzung und die Epoche der frühen Industrialisierung der Eifel.
    Neubeginn
    Aber auch in der jüngsten Geschichte haben Aachen und Eifel ihren Platz: Hier überschritten die alliierten Truppen im Herbst 1944 zum ersten Mal die Grenzen des Reichs. Hier wurde im nahen Hürtgenwald eine der letzten großen und vergeblichen Abwehrschlachten mit vielen Opfern geschlagen. Hier war der Anfang vom Ende des nationalsozialistischen Unrechtsstaates auf deutschem Boden. In Aachen erschien die erste demokratische Zeitung. In dieser Region begann der demokratische Neuanfang, der schließlich zur Gründung des Landes führte.
    Heute hat sich vieles entwickelt, aber noch nicht alles zum Guten gewendet. Eine Region arbeitet an ihrem Profil. Im Norden rackert sie sich mit der Bewältigung der Folgen des eingestellten Bergbaus ab. Im Süden putzt sie sich auf dem Areal eines ehemaligen Truppenübungsplatzes mit dem Nationalpark Eifel heraus. Dazwischen der Gürtel wissenschaftlicher Einrichtungen, vom Forschungszentrum in Jülich über die Fachhochschulen zur Technischen Hochschule. Hart an der Grenze zum niederländischen Nachbarn die "Gesundheitsfabrik", Klinikum mit internationalem Ruf.
    Die Grenzen von früher haben für die Menschen diesseits und jenseits ihre Bedeutung verloren. In Vaals wohnen und in Aachen arbeiten - längst ist das Alltag. Politik und Wirtschaft organisieren mit Selbstverständlichkeit Zusammenarbeit zwischen Deutschland, Belgien und den Niederlanden. Was soll man noch mehr sagen? Aachen und Eifel, das ist Europa auf deutschem Boden.
    JK

    ID: LIN01915

  • Auch Hemingway war schon da.
    Geschichtsträchtige Landschaft und innovationsfreudige Menschen.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 9 in Ausgabe 6 - 03.05.2006

    Ganz am Rande Nordrhein-Westfalens, sozusagen der westlichste Zipfel des Landes - aber mitten im Herzen Europas. Und das seit weit mehr als tausend Jahren. Schon für Karl den Großen hatte die Region Aachen-Eifel eine ganz besondere Bedeutung. Und selbst wenn Aachen lange nicht mehr Kaiserstadt ist, trifft sich einmal im Jahr hier das "Who is Who" der Weltpolitik - zur Verleihung des Karlspreises, der seinen Namen dem ersten deutschen Kaiser verdankt.
    Auch in der jüngeren Vergangenheit lässt sich die politische Lage Europas an Ereignissen in dieser Landschaft spiegeln. Ende 1944 standen sich im Hürtgenwald deutsche und amerikanische Soldaten in einer der verlustreichsten Schlachten des Zweiten Weltkriegs in Westeuropa gegenüber. Ernest Hemingway, der als Kriegsberichterstatter Augenzeuge der Schlacht wurde, wandelte sich hier vom Befürworter zum Kriegsgegner. In "Über den Fluß und in die Wälder" verarbeitet der Autor seine Erlebnisse: "In Hürtgen gefroren die Toten, und es war so kalt, dass sie mit roten Gesichtern gefroren..." Auf dem Kriegsgräberfriedhof "Hürtgenwald" steht auch das einzige Denkmal für einen deutschen Soldaten, das von den ehemaligen Gegnern errichtet wurde: Ein Gedenkstein für den deutschen Leutnant Friedrich Lengfeld, der beim Versuch, einen verletzten amerikanischen Soldaten aus einem Minenfeld zu retten, sein Leben ließ.
    Heute sind die Region Aachen und die Eifel - die in NRW und Rheinland-Pfalz liegt - Musterbeispiele einer friedlichen Zusammenarbeit auf allen Ebenen. Während die grenzüberschreitende Kooperation von Polizei und Justiz ganz aktuell den Düsseldorfer Landtag (Drs. 14/1578) beschäftigt, hat die wirtschaftliche und kommunalpolitische Zusammenarbeit in der Region Maas-Rhein bereits Tradition. Seit Jahren gibt es enge Kontakte und gemeinsame Projekte zwischen den der Industrie- und Handelskammer Aachen sowie der niederländischen Kamer van Koophandel en Fabrieken voor Zuid-Limburg.
    Gemeinsam präsentierte man sich auf der Expo-Real in München, organisiert Business- Clubs, einen Technologietransfer. In Weisweiler bei Aachen wird der Müll aus deutschen und niederländischen Haushalten verbrannt. Das Trinkwasser der Aachener stammt aus Einzugsgebieten in Belgien. Kies und Sand für die Region Limburg und Gelderland kommen aus dem Kreis Kleve, sodass Maßnahmen zu Umweltschutz und Rohstoffsicherung Teil des ständigen zwischenstaatlichen Abstimmungsprozesses sind. Eine Zusammenarbeit, die der Landtag gerade auch beim Naturschutz weiter ausbauen möchte. Zuletzt diskutierten die Landtagsabgeordneten darüber Ende März im Umweltausschuss.
    Aachen und Eifel, das ist auch eine Region zwischen Hochtechnologie auf der einen, Tourismus und Naturschutz auf der anderen Seite. Die RWTH Aachen gehört zu den renommiertesten Universitäten im Land, diverse hoch dekorierte Erfinderclubs, das Holzkompetenzzentrum Nettersheim - soweit nur ein paar Beispiele für die Wirtschafts-, Technologie- und Wissenschaftsregion Aachen. Dabei ist die Region wirtschaftlich alles andere als homogen. So lagen die Arbeitslosenzahlen im März im Schnitt bei 13,7 Prozent, differierten aber von 7,6 Punkten in Monschau bis zu 16,6 in Stolberg.
    Knapp zwei Millionen Menschen lassen sich Jahr für Jahr von den Attraktionen in die Gesamtregion Eifel locken. Und auch wenn es viele von ihnen in den rheinland-pfälzischen Teil der Region zieht, gehören die Kunstschätze der Abtei Kornelimünster, der Aachener Dom und die Stauseen in der Eifel zu den Höhepunkten des touristischen Angebotes. Seit diesem Jahr ist die Region um eine Attraktion reicher: Auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz Vogelsang stehen mehr als 50 Kilometer Wanderwege zur Verfügung. Geplant sind eine Plattform zur Wildbeobachtung, Gastronomie, Jugendzentrum und regelmäßige Ausstellungen. Der Nationalpark Eifel ist der einzige seiner Art in NRW.
    Einen einzigartigen Ruf genießt Aachen auch bei Pferdesportfreunden: Das CHIO ist eine feste Größe, in diesem Jahr richtet man darüber hinaus auch die Weltreiterspiele aus. Und seit kurzem ist man in Sachen Fußball wieder in der ersten Bundesliga. Das Team von Alemannia Aachen gibt sich im Jahr der Fußball-WM, unterstützt von den vielen treuen Fans, jedenfalls alle Mühe, den Klassenerhalt zu sichern.
    vok

    ID: LIN01924

  • Wirtz, Axel (CDU); Schultheis, Karl (SPD); Priggen, Reiner (Grüne); Dr. Wolf, Ingo (FDP)
    Hier ist Europa Alltag.
    Interviews mit Abgeordneten aus der Region Aachen-Eifel.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 10-11 in Ausgabe 6 - 03.05.2006

    Kaum eine andere Region in Nordrhein-Westfalen gestaltet sich gegensätzlicher als die Region Aachen-Eifel: Hier der Großraum Aachen - das Vorzeigezentrum in puncto Wissenschaft, Forschung und Innovation im Land; dort die Eifel - eine landschaftlich überaus reizvolle und touristisch erschlossene, ansonsten aber eher strukturschwache Region. Doch wie heißt es im Volksmund: Gegensätze ziehen sich an. Inwiefern dies auch im Fall der Region Aachen-Eifel zutreffend ist, darüber sprach "Landtag intern" mit vier Landtagsabgeordneten, die im Bereich Aachen-Eifel ihre Wahlkreisbüros haben: Axel Wirtz (CDU), Karl Schultheis (SPD), Reiner Priggen (GRÜNE) und Dr. Ingo Wolf (FDP).

    Was macht Aachen zum Symbol für die "Vision Europa"? Welchen Nutzen kann man andernorts aus dem Vorbild Aachen ziehen?

    Wirtz: Die grenzüberschreitende Arbeit in Aachen gelingt ganz besonders gut. Dabei spielen natürlich auch die Hochschule und die Innovation, die von der Hochschule ausgeht, eine gewichtige Rolle. Es gibt intensive Kooperationen, die die Stadt und der Kreis Aachen mit dem deutschsprachigen ostbelgischen Bereich sowie mit den Niederlanden pflegen. Exemplarisch möchte ich auf die enge Zusammenarbeit mit den Industrie- und Handelskammern sowie in Fragen des grenzüberschreitenden Verkehrs hinweisen. Ein weiteres wichtiges Projekt für eine intensivere Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn ist die EuRegionale 2008, eine Entwicklungsinitiative in der Dreiländer-Region. Dabei geht es nicht um den Bau von "Olympischen Dörfern". Die hierfür bereit gestellten Mittel fließen in nachhaltige Projekte, die mit der Folgelandschaft des Bergbaus, mit der Hochschule sowie mit Aachen als Standort für Kunst und Kultur zu tun haben.
    Schultheis: Geschichtlich gesehen ist Aachen als Schnittstelle zu Westeuropa immer von großer Bedeutung gewesen. Allein die Nachbarschaft zu den Niederlanden und Belgien hat das Europabewusstsein der Aachener Bevölkerung stärker ausgeprägt als anderswo. Ein Beispiel hierfür ist der 1950 in Aachen ins Leben gerufene Internationale Karlspreis, der an Persönlichkeiten vergeben wird, die sich in besonderer Weise um Europa verdient gemacht haben. Insoweit kommt der Region Aachen eine Vorbildfunktion zu, wenn es darum geht, wie sich der europäische Alltag organisieren lässt: Dabei geht es nicht nur um die großen politischen Ideen und Konzepte, die Europa zusammenführen sollen, sondern vielmehr darum, im alltäglichen, Ländergrenzen überschreitenden Miteinander Europa erfahrbar zu machen.
    Priggen: Die hervorragende internationale Lage macht Aachen zu einem Symbol für den Europagedanken. Ich selbst bin gebürtiger Emsländer, bin in Münster zur Schule gegangen, habe in Aachen studiert und in Ostwestfalen gearbeitet, bevor ich wieder nach Aachen zurückgekehrt bin. Ich habe also viele verschiedene Landesteile kennen gelernt. Aachen bietet das einmalige Lebensgefühl, von meinem Zuhause aus in drei Minuten in Belgien, in fünf Minuten in Holland, und mit dem Zug in drei Stunden in Paris zu sein. Aachen ist insgesamt eine sehr aufgeschlossene Stadt. Durch die geografische Lage im Dreiländereck lässt sich die Besonderheit Aachens natürlich nicht einfach auf andere Regionen im Land übertragen. Darum geht es aber auch nicht. Wir müssen vielmehr dafür sorgen, dass die Besonderheiten jeder einzelnen Region herausgestellt und als Teil des gesamten Landes NRW nach außen transportiert werden.
    Dr. Wolf: Die Euregio Maas-Rhein ist in der Tat vorbildlich für eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Im Aachener Dreiländereck werden viele Themen behandelt: Innovation, Wirtschaft und Berufsförderung; gleichzeitig sorgt man auch für soziale Begegnungen zwischen Bürgerinnen und Bürgern. Hier sollten wir anknüpfen und die Grundsätze weiter ausbauen: Der Euro-Distrikt könnte ein Modell für ein neues Forum der Zusammenarbeit zwischen Nationalstaaten sein.

    Nach vier Jahrzehnten spielen Aachens Fußballer wieder in der ersten Bundesliga. Sind Wissenschaft, Forschung und Innovation im Raum Aachen ebenso erstklassig?

    Wirtz: Es ist wohl unbestritten, dass von der Hochschule Aachen ausgehend der Bereich der Wissenschaft und der Innovation europaweit eine herausragende Position einnimmt. Das beweisen auch zahlreiche internationale Hochschul-Rankings. Insbesondere in den Bereichen Naturwissenschaften, Medizin und Ingenieurswesen zählen die Absolventen der RWTH zur deutschen Elite. Erfreulicherweise haben sich in der Vergangenheit immer mehr Firmen aus dem Technologiebereich in und um die Region Aachen angesiedelt - eine Entwicklung, die insbesondere im Hinblick auf den Niedergang des Bergbaus im Nordkreis Aachen wichtig ist. Insofern steht die Region Aachen als Forschungs- und Innovationsstandort sicherlich ebenso erstklassig da, wie unsere Alemannia, die nach 36 Jahren endlich wieder den Aufstieg in die erste Fußballbundesliga geschafft hat.
    Schultheis: Die Bereiche Wissenschaft, Forschung und Innovation sind im nationalen wie internationalen Vergleich auf sehr hohem Niveau. Wir haben mit der Aachener Gesellschaft für Innovation und Technologietransfer AGIT gute Erfahrungen gemacht bei der Umsetzung von Forschungsergebnissen in neue Produkte, Verfahren und Dienstleistungen. Die RWTH Aachen ist eine herausragende Bildungs- und Forschungsstätte, die Kontakte zu Unternehmen in ganz Deutschland, Europa sowie im nichteuropäischen Ausland unterhält. Erst seit Beginn der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts sind wir jedoch auch verstärkt dazu übergegangen, das, was vor Ort erforscht und entwickelt wird, auch vor Ort wirtschaftlich zu nutzen. Mittlerweile hat unter Mitwirkung der RWTH, der Fachhochschule Aachen sowie des Forschungszentrums Jülich ein Strukturwandel stattgefunden, aus dem heraus tausende neuer Arbeitsplätze in der Region entstanden sind. In Zukunft wird es vor allem darum gehen, diese positive Entwicklung auch auf die Euregio Maas-Rhein zu übertragen.
    Priggen: Es ist wohl unbestritten, dass die RWTH Aachen, die Fachhochschule und das Forschungszentrum Jülich in den genannten Bereichen eine Spitzenposition einnehmen. Leider haben Nordrhein- Westfalen und die Stadt bisher zu wenig mit Aachen als international exzellenten Studienort geworben. Hier besteht Nachholbedarf. Dafür müssten die Hochschule und die Stadt künftig noch enger zusammenarbeiten. Der jetzige Rektor der Hochschule hat das offensichtlich erkannt und befindet sich hier auf einem guten Weg.
    Dr. Wolf: Die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen spielt schon viel länger auf internationalem Spitzenniveau. Bei der Exzellenzinitiative hat sie hervorragend abgeschnitten. In fast allen Hochschul-Rankings belegt sie einen Spitzenplatz. Das spiegelt sich auch in der Region Aachen wider, die über eine starke Mittelstands- Wirtschaft verfügt und damit eng in einem starken Nordrhein-Westfalen eingebunden ist. Ein weiteres Beispiel für die Innovationskraft ist auch das Forschungszentrum in Jülich. Im internationalen Standortwettbewerb hat sich Aachen jedenfalls durchgesetzt: EON wird demnächst sein neues Energy-Institut mit der RWTH Aachen verwirklichen.

    Der neue "Nationalpark Eifel" hat zu einem Entwicklungsschub in der Tourismusbranche geführt. Profitiert davon die gesamte Region oder vornehmlich die Nordeifel?

    Wirtz: Den Nationalpark darf man nicht isoliert betrachten. Auch die umliegenden Städte und Gemeinden wie zum Beispiel Schleiden, Simmerath, Monschau sowie der Kreis Euskirchen profitieren von dem Entwicklungsschub durch den bislang einzigen Nationalpark in NRW. Man spürt, dass wir schon wenige Monate nach Eröffnung des Parks einen enormen Touristenzulauf aus den Niederlanden und Belgien haben. Um diesen Trend entsprechend fördern zu können, hoffen wir natürlich weiterhin auf Unterstützung des Landes für den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur.
    Schultheis: Bei der touristischen Vermarktung spielt der Nationalpark Eifel zweifellos eine wichtige Rolle, um in der gesamten Region neue Potenziale zu erschließen und neue Zielgruppen anzusprechen. Insofern binden sich hier die ökonomischen Interessen der gesamten Eifel. Was den Nationalpark betrifft, so gibt es auch hier noch unbeantwortete Fragen - beispielsweise die der Nutzung der Nazi-Ordensburg Vogelsang. So muss durch Bildung, Aufklärung und eine zukunftsorientierte Nutzungskonzeption verhindert werden, dass Rechtsextreme die Burg als "Pilgerstätte" missbrauchen.
    Priggen: Der Nationalpark ist eindeutig ein Werbeträger für die gesamte Eifelregion. Wir haben daher auch bewusst den Namen Nationalpark Eifel gewählt. Trotz einiger noch nicht endgültig geklärter Detailfragen ist die Entstehungsgeschichte des Nationalparks Eifel eine Erfolgsstory. Eine Perspektive für die Zukunft ist die Ausweitung des Nationalparks auf das angrenzende belgische Gebiet und die Fortentwicklung zu einem grenzüberschreitenden Nationalpark Eifel-Ardennen. Das wäre ein echtes Prunkstück! Hier können wir von den Bayern lernen, die eng mit Tschechien zusammengearbeitet haben und deren Nationalpark Bayerischer Wald unmittelbar an den Nationalpark Sumava auf tschechischem Gebiet grenzt.
    Dr. Wolf: Ich glaube, dass auch die übrige Eifel von dem Entwicklungsschub profitieren wird. Wen der neue Nationalpark anzieht, den wird auch die landschaftlich reizvolle Umgebung mit ihren touristischen Attraktionen nicht unberührt lassen.
    Die Interviews führten Jürgen Knepper und Axel Bäumer.

    ID: LIN01925

  • Auf der Suche nach Ermessensspielraum.
    Editorial / Kommentar / Blickpunkt;
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 2 in Ausgabe 5 - 05.04.2006

    Letzte Instanz, Kummerkasten - das Vertrauen und die Erwartungen der Menschen in den Petitionsausschuss sind schier überwältigend. Das schlägt sich in der stetig anschwellenden Flut von Eingaben an dieses parlamentarische Gremium des Landtags nieder. Die Männer und Frauen im Ausschuss tun ihr Bestes, um dieses Vertrauen zu rechtfertigen. Oft haben sie Erfolg, aber nicht immer.
    Denn die Erwartungen dürfen nicht unrealistisch sein. Der Petitionsausschuss kann keine Urteile kassieren, auch wenn sie dem Betroffenen als himmelschreiendes Unrecht erscheinen. Der Petitionsausschuss schwebt nicht über Justiz und staatlicher Verwaltung. Er ist wie alle anderen an die Gesetze gebunden.
    Macht und Dialog
    Es sind oft aussichtslos erscheinende Fälle, an denen sich die betroffenen Menschen die Zähne ausgebissen und die Fachleute resigniert haben - die Abgeordneten des Ausschusses nehmen sich der Sache an, ermitteln den Sachverhalt, fordern die beteiligten Stellen zur Auskunft auf und finden dann doch die Lösung.
    Ein Wunder, ein Trick? Nein, es ist viel einfacher. Es ist das Gespräch, zu dem der Ausschuss einlädt: Am runden Tisch und ohne Vorfestlegungen. Bürger und Ämter auf gleicher Augenhöhe, moderiert von den Abgeordneten des Petitionsausschusses. Sie entkrampfen das Klima und leiten dann einen Dialog ein, der fast schon nicht mehr möglich schien. Und auf einmal tun sich Ermessensspielräume auf, die sich im Sinne der Bürgerinnen und Bürger nutzen lassen.
    Die Mitglieder des Petitionsausschusses kümmern sich. Sie lassen sich nicht nur die Akten kommen, sondern sie gehen auf Reisen und beraumen Ortstermine an. Sie gehen zu den Menschen. Und sie sind mit Macht ausgestattet. Das Petitionsrecht ist in der Landsverfassung niedergelegt. Die staatlichen Behörden sind dem Petitionsausschuss gegenüber zu Auskunft und Offenlegung verpflichtet.
    Es kommt vor, dass auch der Petitionsausschuss keine Lösung findet, die im Sinne des hilfesuchenden Bürgers liegt. Jetzt hofft er auf die Lösung durch den Ausschuss. Aber der muss feststellen, dass es diese Lösung nicht gibt. Vergebliche Liebesmüh? Nein, die Abgeordneten machen in solch einem Fall immer wieder die Erfahrung, dass ihr Tätigwerden auch einen Schlusspunkt setzt. Der Petent sieht, es geht nicht weiter. Er hat alles versucht, jetzt ist das Ende gekommen. Nicht in seinem Sinne, "aber irgendwie gut, dass es nun vorbei ist".
    JK

    ID: LIN01654

  • "Wir stehen voll im Leben".
    Petitionsausschuss berichtet über stetige Flut von Eingaben.
    Plenarbericht;
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 7 in Ausgabe 5 - 05.04.2006

    Fast 2.000 Petitionen sind in den wenigen Monaten vom Beginn der 14. Wahlperiode bis zum Ende des vergangenen Jahres beim Petitionsausschuss des Landtags NRW eingegangen. Davon hat der Ausschuss bereits 1.790 abschließend bearbeitet. Das berichtete die Vorsitzende des Ausschusses, Inge Howe (SPD), in der Plenarsitzung des Landtags Mitte vergangenen Monats. "Mit der Petitionsarbeit steht man wirklich voll im Leben", erklärte sie bei der Vorstellung des ersten Halbjahresberichts der neuen Wahlperiode.
    Die meisten Petitionen gingen im Bereich Soziales (20,5 Prozent) ein, gefolgt vom Ausländerrecht (10,8 Prozent), wobei letzteres eine deutlich rückläufige Tendenz aufweist: Im ersten Halbjahr 2005 hatten ausländerrechtliche Petitionen noch einen Anteil von 18,4 Prozent. Andere wichtige Schwerpunkte sind die Bereiche der Rechtspflege (ohne Strafvollzug) mit zehn und Bauen und Wohnen mit 8,4 Prozent. Weiter intensivieren, so Inge Howe, will der Petitionsausschuss seine Öffentlichkeitsarbeit und den direkten Kontakt zu den Bürgern. Neben den monatlichen Bürgersprechstunden in der Düsseldorfer Villa Horion werden die Ausschussmitglieder auch künftig durchs Land reisen. Fortsetzen will man auch die erfolgreichen Telefonaktionen in Zeitungsredaktionen.
    Deutlich kritisierte die Vorsitzende bei ihrem Bericht das Verhalten einer Bauaufsichtsbehörde. Die versuchte nämlich eine Petition dadurch zu konterkarieren, dass sie gegen den Bürger, der sich gegen einen so genannten Schnäppchenmarkt in einem allgemeinen Wohngebiet wandte, wegen seines angeblich illegalen Gartenhäuschens auf seinem Grundstück einschritt. Dieses Verhalten könne nicht hingenommen werden, zumal dadurch das Recht, eine Petition einlegen zu können, unterlaufen werden solle.
    Für Hilfe sorgte der Petitionsausschuss im Bereich der sozialen Sicherung. So hat er dafür gesorgt, dass ein Streit über die Übernahme der Kosten zwischen einer Krankenkasse und einem Sozialhilfeträger eines schwer behinderten Kindes und nicht auf dem Rücken der Mutter ausgetragen wurde. Nach einem Erörterungstermin konnte eine kontinuierliche Weiterbehandlung des Jungen gewährleistet werden. Der Streit um die Kostenträgerschaft wird nun zwischen den beiden Trägern untereinander geklärt.
    Erfolgreich war der Petitionsausschuss auch in der Angelegenheit einer Familie, in der der 37-jährige Sohn im Jahre 2001 plötzlich aufgrund eines Herz-Kreislauf-Stillstandes ins Wachkoma fiel. Die Eltern hatten vorher für die aufstrebende Firma des Sohnes gebürgt und wurden nun nach dessen Ausfall und der eingetretenen Insolvenz der Firma mit Verbindlichkeiten in Höhe von rund 300.000 Euro konfrontiert. Die Zwangsversteigerung des Hauses drohte. Durch Vermittlung des Ausschusses gelang es, der Familie nicht nur den Wohnraum zu erhalten, sondern auch eine tragbare Regelung zur Tilgung der Rechtsverbindlichkeiten zu finden.
    Viele Eingaben erhielt und erhält der Petitionsausschuss zum Thema "Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht". Nach Inkrafttreten des achten Rundfunkänderungsstaatsvertrages werden viele Menschen trotz geringer Einkünfte nicht mehr von den Rundfunkgebühren befreit. Hier scheint es Regelungsbedarf zu geben. Die Ausschussvorsitzende Howe äußerte die Hoffnung, dass sich die geschilderten Probleme nur als Startschwierigkeiten herausstellen.
    Ganz konkret beschweren sich Bürgerinnen und Bürger aber auch über die Arbeits- und Verhaltensweise der GEZ (Gebühreneinzugszentrale). Gerügt wird insbesondere die schwere Erreichbarkeit der Stelle, das Nichteingehen auf konkrete Anliegen, aber auch der zum Teil unfreundliche Umgang. Der Petitionsausschuss wird die weitere Entwicklung aufmerksam beobachten und hat bereits die für diesen Bereich zuständige Staatskanzlei des Landes auf die vorgetragenen Missstände hingewiesen.
    Unter den zahlreichen Eingaben, die den Ausschuss erreichen, gibt es immer wieder auch einmal Anlass zum Schmunzeln. So zum Beispiel im Falle eines Autofahrers, der sich gegen ein Bußgeld wegen Geschwindigkeitsüberschreitung mit dem "durchschlagenden" Argument wandte, er sei nicht sehr groß und könne deshalb den Tacho seines Wagens nicht erkennen, weil das Lenkrad seine Sicht behindere. In dieser verfahrenen Angelegenheit sah sich der Petitionsausschuss allerdings nicht zur Hilfe imstande.

    Bildunterschrift:
    Die Ausschussvorsitzende Howe (SPD)

    Systematik: 1100 Parlament

    ID: LIN01661

  • Sendker, Reinhold (CDU); Veldhues, Elisabeth (SPD); Beer, Sigrid (Grüne); Ellerbrock, Holger (FDP)
    So vielfältig wie das Leben selbst.
    Interviews mit Mitgliedern des Petitionsausschusses.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 8-9 in Ausgabe 5 - 05.04.2006

    Der Soziologe Max Weber bezeichnete vor rund 100 Jahren das Parlament als "letzte Appellationsinstanz der von der Bürokratie geknechteten Bürger". Mit Blick auf den Petitionsausschuss des Landtags scheint das heute so aktuell wie damals zu sein. Dieses Gremium ist immer noch und immer stärker gefragt, das zeigt die Vielzahl an Eingaben, die das nordrhein-westfälische Landesparlament erreichen - rund 4.000 pro Jahr. Über den Aufgabenbereich des Petitionsausschusses, seine Handlungsmöglichkeiten sowie auch seine Kompetenzgrenzen sprach "Landtag intern" mit den Sprecherinnen und Sprechern des Ausschusses Reinhold Sendker (CDU), Elisabeth Veldhues (SPD), Sigrid Beer (GRÜNE) und Holger Ellerbrock (FDP).

    Die Zahl der beim Landtag eingehenden Petitionen steigt. Woran liegt das? Mangelt es Ämtern und Behörden zunehmend an Bürgerfreundlichkeit oder werden die Bürger selbstbewusster?

    Sendker: Ich erlebe, dass die Behörden im Gegensatz zu früher schon deutlich mehr Bürgerfreundlichkeit zeigen. Bürgerinnen und Bürger sind heutzutage aber tatsächlich eher bereit, ihren Ärger über Ämter und Behörden offen auszusprechen und einfach mal Dampf abzulassen. Der Petitionsausschuss stellt hier eine willkommene Anlaufstelle dar. Der Ausschuss samt seiner Verwaltung leistet aber auch hervorragende Öffentlichkeitsarbeit. Dazu gehören die monatlichen Bürgersprechstunden in der Villa Horion ebenso wie die auswärtigen Sprechstunden sowie die Telefonaktionen in Zusammenarbeit mit lokalen Tageszeitungen. Und die hohe Zahl an Rückmeldungen auf diese Aktionen zeigt, dass wir hiermit auf einem guten Kurs liegen. Ich möchte an dieser Stelle die Bürgerinnen und Bürger ermutigen, ihre Rechte auch weiterhin wahrzunehmen.
    Veldhues: In erster Linie hängt das sicherlich mit dem gewachsenen Selbstbewusstsein der Bürgerinnen und Bürger zusammen. Die wissen, dass es bei der Auslegung von Gesetzen oftmals einen Ermessensspielraum der Behörden gibt. Und dass sie diesen in ihrem Sinne positiv nutzen wollen, ist nur legitim. Darüber hinaus ist die zunehmende Zahl an Eingaben aber auch auf die Niedrigschwelligkeit der Hilfsangebote zurückzuführen. Dazu gehören beispielsweise die Bürgersprechstunden oder Telefonaktionen des Petitionsausschusses. Ich erinnere mich an eine Außensprechstunde in Bielefeld, zu der rund 50 Bürgerinnen und Bürger erschienen waren. Die wären wahrscheinlich niemals auf die Idee gekommen, sich hinzusetzen und ihre Anliegen schriftlich zu verfassen. Aber das direkte Gesprächsangebot vor Ort hat sie dann doch dazu bewogen. Diesen Weg muss der Ausschuss auch weiterhin verfolgen, um eventuell vorhandene Hemmschwellen so weit wie möglich abzubauen.
    Beer: Ich glaube, dass das Bedürfnis der Bürgerinnen und Bürger nach einem Anlaufpunkt, an den sie sich mit ihren Problemen wenden können, sehr groß ist. Dass die Menschen hierzulande immer häufiger von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, hängt mit der guten Öffentlichkeitsarbeit des Petitionsausschusses während der letzten Jahre zusammen. Sicherlich lässt sich die Kommunikation aber noch weiter optimieren. Wir stellen jedoch fest, dass der Petitionsausschuss in NRW ein hohes Ansehen genießt. Das merken wir beispielsweise bei den Bürgersprechstunden vor Ort, die wir über die Regionen verteilt anbieten und die immer sehr gut angenommen werden.
    Ellerbrock: Beides ist sicherlich richtig. Es kommt aber noch ein dritter Faktor hinzu: Die Zahl der Bürgerinnen und Bürger nimmt zu, denen der geringste Anlass genügt, um sämtliche Rechte ungeachtet der Notwendigkeit und Sinnfälligkeit bis ins Letzte auszuschöpfen. Wir leben in dieser Hinsicht in einem negativ verstandenen Rechtsstaat. Jeder verlangt nach seinem Recht. Und wenn er es auf normalem Wege nicht bekommt, dann wendet er sich beispielsweise an den Petitionsausschuss. Mir persönlich mangelt es dann an Verständnis, wenn sich Petenten rechthaberisch an den Ausschuss wenden, um gegen eindeutig geklärte Rechtstatbestände nochmals vorgehen zu wollen. Nur damit man mich nicht missversteht, ich möchte das verfassungsrechtlich verbürgte Petitionsrecht der Bürger nicht in Frage stellen. Die Eingriffmöglichkeiten des Petitionsausschusses haben jedoch Grenzen.

    Auf der Suche nach Hilfe setzt so mancher Petent seine letzte Hoffnung in den Petitionsausschuss. Fungiert der Ausschuss als eine Art "Überinstanz", wenn der Rechtsweg bereits ausgeschöpft ist?

    Sendker: Sicher nicht als Überinstanz, sondern als Vertrauensinstitution und Ansprechpartner für die Bürgerinnen und Bürger. Kein anderer Ausschuss ist dem Bürger so nahe wie der Petitionsausschuss. Unsere Aufgabe ist es, zunächst einmal den Grund einer Beschwerde aufzunehmen, um dann in einem zweiten Schritt detailliert zu prüfen, ob und wie dem Petenten mit seinem konkreten Anliegen geholfen werden kann. Der Ausschuss nimmt hier in eine Art anwaltliche Funktion wahr. Dabei sind wir in der guten Position, dass wir bei der Bearbeitung von Eingaben auch auf den Sachverstand der Fachministerien zurückgreifen können. Allerdings sind dem Petitionsausschuss rechtliche Grenzen gesetzt. Wenn es sich beispielsweise um laufende Verfahren handelt, ist die Sache für uns beendet. Ohne Gesetze aushebeln zu können oder zu wollen, lässt sich aber auch bei rechtlich eindeutigen Sachlagen noch einiges über Gespräche bewegen.
    Veldhues: Die Bezeichnung Überinstanz weckt sicherlich falsche Assoziationen. Natürlich ist auch der Ausschuss an geltende Gesetze gebunden. Ich selbst bezeichne uns gerne als "die Kümmerer des Parlaments". In den Bürgersprechstunden bin ich immer um ein Gespräch auf gleicher Augenhöhe bemüht. Und wenn wir Außentermine mit Behörden verabreden, ist mir persönlich daran gelegen, die Gespräche nicht konfrontativ sondern kooperativ zu gestalten. Es gibt jedoch auch Fälle, bei denen der Petitionsausschuss an seine Einflussgrenzen stößt. Und selbst wenn eine Petition letztendlich scheitern sollte, hilft vielen Bürgerinnen und Bürgern allein schon die Gewissheit, restlos alle Möglichkeiten ausgeschöpft und nichts unversucht gelassen zu haben, über ihren Ärger hinweg.
    Beer: Der Petitionsausschuss wird zwar oft als "letzte Instanz" bezeichnet. Ich will aber nicht verhehlen, dass auch die Rechte des Petitionsausschusses an Grenzen stoßen. Wir haben in der Bundesrepublik eine klare Gewaltenteilung, über die sich selbstverständlich auch der Ausschuss nicht hinwegsetzen kann. So können wir beispielsweise keine Gerichtsbeschlüsse außer Kraft setzen oder in laufende Verfahren eingreifen. Jede eingegangene Petition wird sehr genau auf ihre Zulässigkeit geprüft. Es kommt aber durchaus vor, dass wir die Grundlage eines Verfahrens nochmals genauer unter die Lupe nehmen. Sollte sich hierbei herausstellen, dass das Verfahren auf einer falschen Ausgangslage fußt, dann gibt es gegebenenfalls die Chance, Fälle erneut aufzurollen. Ein Großteil der Arbeit des Petitionsausschusses fällt auch in den Bereich der Moderation. Konkret bemüht sich Ausschuss darum, die oftmals verhärteten Fronten zwischen Petenten und Behörden aufzuweichen und überhaupt wieder eine Gesprächsbereitschaft herzustellen. In diesen Fällen ist das diplomatische Geschick der Ausschussmitglieder gefragt.
    Ellerbrock: Der Petitionsausschuss ist keine Überinstanz, da auch er an Recht und Gesetz gebunden ist. Leider gibt es jedoch immer wieder schwarze Schafe, die den Ausschuss missbrauchen wollen, um persönlich Profit daraus zu schlagen. Und dagegen müssen wir uns wehren. Wir setzen kein eigenes Recht. Wir sind auch kein Obergericht, das abgeschlossene Verfahren wieder aufrollen könnte. Da, wo es möglich ist und es eine noch so kleine Aussicht auf Erfolg gibt, wird der Petitionsausschuss alle Mittel ausschöpfen, um dem Petenten zu helfen. Hilfe, wem Hilfe gebührt, aber nicht Hilfe für diejenigen, die die Not der Petenten ausnutzen, um sich daran zu bereichern. An dieser Stelle muss ich übrigens ein Lob an unsere Verwaltung aussprechen, die solche zum Scheitern verurteilten Eingaben meist von Anfang an deutlich kennzeichnet.

    Welche Petition ist Ihnen in besonderer Weise in Erinnerung geblieben?

    Sendker: Natürlich erlebt man im täglichen Geschäft viele tragische Fälle. Umso mehr bereitet es innere Genugtuung, wenn man gerade in solch einem Fall helfen konnte. Gott sei Dank erleben wir hin und wieder aber auch Petitionen, die Anlass zum Schmunzeln bieten. Ich denke da beispielsweise an den Fall eines zur Bundeswehr einberufenen Studenten, der seine Eingabe vor dem Hintergrund der Einführung von Studiengebühren ab 2007 verfasst hatte. Durch den Wehrdienst gingen ihm jetzt zwei beitragsfreie Semester verloren und er bat darum, ihm diese Beitragsfreiheit für den Zeitraum nach 2007 gutzuschreiben.
    Veldhues: Zu den kuriosesten Petitionen gehörte zweifellos der auch im Halbjahresbericht erwähnte Fall eines Pkw-Fahrers, der einer Bußgeldforderung wegen Geschwindigkeitsüberschreitung zu entgehen versuchte, indem er auf seine geringe Körpergröße anspielte, die es ihm nicht ermögliche, den Tacho seines Wagens abzulesen. Wirklich belastend waren für mich hingegen Fälle, bei denen sich Menschen - insbesondere Eltern samt ihren Kindern - mit Abschiebebescheiden an den Petitionsausschuss gewandt haben und uns rechtlich die Hände gebunden waren.
    Beer: Ohne auf konkrete Fälle näher eingehen zu wollen, finde ich grundsätzlich all die Fälle besonders tragisch, bei denen es um die Entscheidung geht, ob Menschen abgeschoben werden oder nicht. Insbesondere dann, wenn es um Menschen geht, die bereits seit vielen Jahren im Land leben und gut integriert sind. Das gilt besonders für Kinder, die hier aufgewachsen sind und NRW als ihre Heimat begreifen, ihre sozialen Kontakte in unserer Gesellschaft und im Prinzip keinen direkten Bezug mehr zu dem Heimatland ihrer Eltern haben. Das sind in jedem Einzelfall ganz harte Entscheidungen, die niemals zur Routine werden dürfen.
    Ellerbrock: Der Petitionsausschuss befasst sich wie kein anderer Ausschuss mit dem prallen Leben. Wir erleben die 64-jährige Bordellinhaberin, die angibt mittellos zu sein, wenn sie ihr Bordell nicht noch bis zur Rente weiterführen darf. Wir erleben den Immigranten, der sich hierzulande wohl fühlt und aus nachvollziehbaren Gründen gegen eine Abschiebung zu wehren versucht. Wir beschäftigen uns mit Versicherungsentscheidungen oder Fragen des Baurechts. Die Liste ließe sich beliebig fortführen. Die Mischung dieser sehr unterschiedlichen Bereiche macht letztendlich den Reiz der Arbeit im Petitionsausschuss aus.
    Die Interviews führten Jürgen Knepper und Axel Bäumer.

    Systematik: 1100 Parlament

    ID: LIN01662

  • Probleme lösen im Gespräch.
    Petitionsausschuss kümmert sich um wachsende Zahl von Eingaben.
    Titelthema / Schwerpunkt;
    Ausschussbericht
    S. 10 in Ausgabe 5 - 05.04.2006

    "Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden", heißt es im Grundgesetz Artikel 17. Auf dieses Grundrecht bezieht sich auch die NRW-Verfassung. Sie regelt seit 1969 in Artikel 41a die Pflicht der Landesbehörden zur Auskunft in Petitionssachen. Jährlich erreichen den Petitionsausschuss des Landtags rund 4.000 Petitionen. Anhand eines tragischen Falles soll die Arbeit des Ausschusses nachgezeichnet werden.
    Paul B. wurde Opfer der Willkür des nationalsozialistischen Regimes. In der Schule deklassierte ihn sein Rektor als "erheblich minderwertig" und als "Schulbeispiel für asoziales Verhalten infolge Erbanlage". Paul war ein Heimkind, das aus schwierigen Familienverhältnissen stammte. Später wurde er von einem Provinzialmedizinalrat als geisteskrank eingestuft. Die Behörde ordnete die Unterbringung in einer Anstalt für Geisteskranke an. Demütigungen, körperliche Misshandlungen, katastrophale hygienische Verhältnisse und Mangelernährung gehörten dort zum Alltag. Die Sterberate in den so genannten "Heilanstalten" war hoch. Paul B. überlebte. Viele Jahrzehnte nach den erlebten Demütigungen wandte sich er schließlich im Jahr 2000 Hilfe suchend an den Petitionsausschuss des Landtags.
    Der Petitionsausschuss behandelt alle Anliegen, die sich auf Verwaltungsmaßnahmen von Ämtern und Landesbehörden beziehen. Dazu gehören Ministerien, Bezirksregierungen, Gemeinden, Kreise und Städte sowie die Landesversicherungsanstalten, die Polizei und die Schulen. Die 22 Abgeordneten des Ausschusses kümmern sich, unterstützt von 20 Verwaltungsangestellten und Beamten der Petitionsabteilung, um die Belange der Bürgerinnen und Bürger. Bei der Formulierung einer Petition (lateinisch petitio = Ersuchen) gibt es keinerlei Formvorschriften. Jeder soll sein Anliegen so vortragen können, wie es ihm seine Ausdrucksmöglichkeiten erlauben.
    Seit jüngstem gibt es einen Modellversuch, Petitionen über ein Formular im Internet einzureichen, wenngleich auch eine schriftliche Ausführung mit Unterschrift nachgeschoben werden muss. Ziel ist es, Hemmschwellen abzubauen und den Kontakt zum Ausschuss zu erleichtern. Diese Öffentlichkeitsarbeit des Ausschusses macht sich bezahlt: Entgegen dem Bundestrend ist der Eingang von Petitionen in NRW stetig gestiegen und hat sich auf hohem Niveau eingependelt.
    Nach Eingang einer Petition wird sie auf ihre Zulässigkeit geprüft. Petitionen, die anonym gestellt worden sind oder gegen geltendes Recht verstoßen, werden zurückgewiesen. Nach einer ersten Prüfung kann der Ausschuss von den beteiligten Ministerien Stellungnahmen einholen oder die für den Fall relevanten Akten einsehen. Er kann auch vor Ort ermitteln und Gespräche führen.
    Im Fall von Paul B. wurden mehrere Anhörungstermine anberaumt, bei denen der Petent über seine menschenunwürdige Behandlung berichtete. Ein Experte, der sich mit der Psychiatrie im Dritten Reich befasst und die Krankenakte des Petenten begutachtet hatte, wertete dessen Aussagen als plausibel und glaubwürdig.
    Nachdem sich der Petitionsausschuss durch Einsicht in die Akten, der Anhörung des Opfers und der zuständigen Behörden informiert hatte, empfahl er dem Innenministerium, nach den Richtlinien der Landesregierung für den Härtefonds zur Unterstützung von Opfern des Nationalsozialismus Paul B. eine laufende Beihilfe zu bewilligen. Dieser Empfehlung folgten das Innenministerium und der Beirat. Paul B. erhält jetzt eine monatliche Beihilfe von 260 Euro. Doch der Ausschuss erreichte noch etwas anderes: So entschuldigte sich der Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe persönlich für das Unrecht, das Paul B. in Anstalten des Dritten Reiches widerfahren ist, die heute im westfälischen Landesteil liegen.
    TNK

    Bildunterschrift:
    Erörterungsgespräch des Petitionsausschusses mit Petenten. Der Ausschuss wird auf diesem Bild vertreten durch Cornelia Ruhkemper (SPD, r.) und Franz Muschkiet (2.v.r.)

    Systematik: 1100 Parlament

    ID: LIN01663

  • Eine Region von Ruhe und Fleiß.
    Editorial / Kommentar / Blickpunkt;
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 2 in Ausgabe 4 - 15.03.2006

    Hand aufs Herz - wann waren Sie zum letzten Mal im Land der tausend Berge und der roten Erde? Nicht dienstlich oder im Auto über die Sauerlandlinie, sondern privat, zum Ausspannen, Erholen und Auftanken? Es ist schon eine ganze Weile her, geben Sie es zu. Der sonnige Süden liegt näher: Kurze Fahrt zum Flughafen, rein in den Jet und aussteigen in der Sonne. Warum in die Ferne schweifen? Diese Frage stellt sich für viele überhaupt nicht.
    Sieh, das Gute liegt so nah. Du sitzt auf der Bank am Härdtler, auf dem Rücken des Rothaargebirges zwischen Oberhundem und dem idyllischen Flecken Jagdhaus. Unten liegt der Weiler Milchenbach, geradezu die Buchen des Lennegebirges. Überall Wälder, nichts als Wälder. Der Wind zischt durch die Fichten, rüttelt an den Laubbäumen. Kein menschlicher Laut ist zu hören. Erholung pur.
    So sieht es der Tourist, so erlebt es der Besucher. Für die Menschen, die hier zu Hause sind, stellt sich die Sache ein wenig anders und weit weniger romantisch dar. Das Klima ist rau, der Boden mager. Der Ackerbau hat seine Grenzen, Forst- und Viehwirtschaft bieten ein Auskommen. Der Verkehr quält sich durch enge Täler.
    Brauchtum
    Die Menschen zwischen Lüdenscheid und Siegen, Warstein und Bad Berleburg haben den Wandel bewältigt - und dabei die Fakten auf ihrer Seite: Eine unterdurchschnittliche Arbeitslosigkeit und eine mittelständische Wirtschaft, die sich mit ihren Produkten zu behaupten weiß.
    Neben das verarbeitende Gewerbe tritt die weiße Industrie, der Tourismus. Erholung, Gesundheit, Sport - dieses Standbein wird immer stärker. Zahlreiche Luftkurorte, die beiden Bäder Berleburg und Laasphe, Wanderwege und Skiloipen, der Wintersportzirkus in Winterberg. Die Talsperren, die Vergnügungsparks, die Tropfsteinhöhlen, die schwarz-weiße Fachwerkarchitektur, das gute Bier.
    "Glaube, Sitte, Heimat" hat der Sauerländer Schützenbund auf seine Fahnen geschrieben. Das ist eine Lebenseinstellung. Egal, ob sie draußen gutgeheißen oder verstanden wird - die Menschen machen sich nichts daraus, wenn sie unterschätzt oder belächelt werden.
    Seit Turin wissen sie wieder einmal, wie schnell Spott sich in Jubel verwandeln kann. Da gab es die erste Goldmedaille in der 96-jährigen Geschichte des Winterberger Bob- und Schlittensports. Merke: Man versteht hier zu warten, und, wenn es so weit ist, eiskalt zu genießen.
    JK

    ID: LIN01551

  • "Wir in Südwestfalen".
    Porträt einer fleißigen und ruhigen Region.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 11 in Ausgabe 4 - 15.03.2006

    Wer bei Sauerland und Siegerland nur an unendliche Wälder, hohe Berge und einsame Landstriche denkt, liegt falsch: Es sind uralte Industrieregionen. Holzreichtum, Bodenschätze und das reichlich vorhandene Wasser haben schon vor dem 19. Jahrhundert Erzgruben und Schmieden, Hochöfen, Mühlen und Hämmer in den Tälern des Mittelgebirges entstehen lassen.
    Auch heute noch ist das Sauerland mit dem höchsten Anteil an Beschäftigten im produzierenden Gewerbe die "heimliche" Industrieregion Nordrhein-Westfalens. Das Siegerland zählt zu den ältesten Montanregionen Europas. Überall im Land finden sich die Zeugen dieser Vergangenheit. Trotzdem sind beide Regionen nicht zu Museen verkommen. Fleiß, Wissen und Fähigkeiten der Menschen haben sich über Generationen entwickelt und bis heute erhalten. Mit diesem Kapital lässt sich die Zukunft gewinnen.
    Die später folgenden industriellen Gießereien und Walzwerke haben oft metallverarbeitende Betriebe nach sich gezogen: Armaturen, Schalter, Lampen, Leuchten, Schrauben, Federn, Stanzteile, Fassungen von Leuchtstoffröhren und Glühbirnen werden hergestellt und gehen oft in den Export - die "Global Player" sitzen im Sauerland oder in Siegen-Wittgenstein und besetzen von hier aus die Nischenmärkte.
    Sportböden aus dem Wittgensteiner Land sind bekannt. In Iserlohn ist Europas größtes Kettenwerk beheimatet. Hochwertige Bauteile aus der Region wandern in die Fahrwerke von Düsenjets. Ausrüstungen für den Bergbau und Spezialmaschinen für jeden nur denkbaren Werkstoff finden in Europa und Übersee ihre Abnehmer. Neben der Metallbearbeitung ist die Kunststoffverarbeitung ein wichtiges Standbein. Die Automobilindustrie steht mit Elektroniksystemen auf der Kundenliste. Sie bestückt unter anderem damit ABS-Bremsanlagen.
    Lüdenscheid wirbt für sich als Stadt des Lichts - mit gutem Grund: Beleuchtungssysteme der Firma Erco weisen im Pariser Louvre ebenso gut den Weg wie in dem Wolkenkratzer der Hongkong-Shanghai-Bank. Ein paar Kilometer weiter nordöstlich von Lüdenscheid macht Neheim- Hüsten mit dem Etikett "Leuchtenstadt" und dem agilen mittelständischen Hersteller Honsel auf sich aufmerksam.
    Nach den Turbulenzen der Vergangenheit hat sich der Dehler-Yachtbau in Meschede wieder gefangen und hofft endlich auf eine Zukunft, die dem hervorragenden Ruf der Segelschiffe aus Freienohl entspricht.
    Wer arbeitet, darf auch essen und trinken (und feiern). Davon verstehen die Menschen in Südwestfalen einiges. "Bestes aus Fleisch" - mit diesem Slogan preist der traditionsreiche Fleischwarenhersteller Metten aus Finnentrop sein Sortiment von über 80 Produkten an. Längst nicht nur Pils, sondern auch die angesagten Bier-Mixgetränke fließen in die Flaschen der Abfüllanlagen der bekannten Brauereien in Grevenstein, Krombach und Warstein und finden ihren Weg in alle Welt. In Soest wird ein Pumpernickel gebacken, der Freunde und Abnehmer sogar in den USA hat.
    Jedes Jahr fiebern die rund 150.000 im Sauerländischen Schützenbund zusammengeschlossenen Menschen dem Höhepunkt der Saison entgegen, dem alljährlichen Schützenfest. Der Sauerländische Gebirgsverein bringt "nur" 50.000 Wanderer auf die Beine. Im südlichen Teil der Region sind es vor allem die zahlreichen Heimatvereine, die mit ihrem regen Leben die Menschen an sich binden.
    Wer den südlichen Landesteil in der Nachbarschaft zu Hessen und Rheinland-Pfalz als "kulturelle Wüste" abtut, hat keine Ahnung. Die Region unterhält in Hilchenbach ein eigenes professionelles Orchester, das sich seit 1992 Philharmonie Südwestfalen/Landesorchester NRW nennt. Die Karl-May-Festspiele in Elspe sind auch nach Pierre Brice als Winnetou ein Publikumsmagnet geblieben.
    Das Sauerland hat einen Bundespräsidenten gestellt, Heinrich Lübke stammte aus Enkhausen in der Nähe des Sorpesees. Der Fabrikant Wilhelm Münker und der Volksschullehrer Richard Schirrmann gründeten 1912 die erste Jugendherberge auf der Burg Altena. Religionsunruhen verschlugen den Antwerpener Rechtsanwalt Jan Rubens und seine Frau Maria nach Siegen; 1577 wurde dort ihr Sohn Peter Paul, der größte flämische Barockmaler, geboren. Das "Jägerken von Soest", 1976 als Repräsentationsfigur geschaffen, erinnert an den Roman "Simplicius Simplicissimus" des Hans Jacob Christoph von Grimmelshausen. Bei der "Criminale" vor knapp einem Jahr machten hochrangige Krimi-Autoren aus dem deutschsprachigen Raum den gastgebenden Hochsauerlandkreis unsicher.
    Auch in der bildenden Kunst des Mittelalters hat sich das Sauerland verewigt. Als "westfälisches Abendmahl" wird ein buntes Glasfenster in der Nordwand der Wiesenkirche in Soest tituliert. Jesus sitzt mit seinen Jüngern beim letzten Abendmahl: Bier, ein Schinken und Pumpernickel sind aufgetischt. Denn das wusste und danach richtete man sich in Südwestfalen schon immer: "Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen".
    JK

    Bildunterschrift:
    Flintenläufe, Messer, Sensen und Federn waren die Produkte der Wendener Hütte zwischen Olpe und Siegen. Als eine der ältesten Holzkohlehochofenlage wurde sie in der Zeit der Frühindustrialisierung im Jahr 1728 gegründet und 1860 stillgelegt.

    ID: LIN01562

  • Brunert-Jetter, Monika (CDU); Dr. Rudolph, Karsten (SPD); Remmel, Johannes (Grüne); Freimuth, Angela (FDP)
    Industrieregion im Grünen.
    Interviews mit Landtagsabgeordneten aus Südwestfalen.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 12-13 in Ausgabe 4 - 15.03.2006

    Bis heute gehören Sauerland und Siegerland mit zu den weniger bekannten und daher oftmals unterschätzten Regionen in NRW. Lediglich das volkstümliche Klischee vom "sturen" Westfalen (im Gegensatz zum "oberflächlichen" Rheinländer) scheint in den Köpfen der Menschen fest verwurzelt zu sein. Was jedoch viele nicht wissen: Die fünf südwestfälischen Kreise Soest, Olpe, Siegen-Wittgenstein sowie der Märkische Kreis und der Hochsauerlandkreis gelten als innovative und dynamische Wirtschaftsstandorte und als "Wiege des Mittelstands". Landtag intern sprach darüber mit Abgeordneten aus der Region: Monika Brunert-Jetter (CDU), Dr. Karsten Rudolph (SPD), Johannes Remmel (GRÜNE) und Angela Freimuth (FDP).

    Südwestfalen - die unbekannte, unterschätzte Region? Wo liegen die wirtschaftlichen Stärken von Sauerland und Siegerland und wo die Probleme?

    Brunert-Jetter: Unsere Stärke ist einerseits die wunderschöne Landschaft. Gerade der Kreis Siegen-Wittgenstein ist der waldreichste Kreis in ganz Deutschland. Andererseits haben wir aber auch eine starke industrielle Basis und leistungsfähige mittelständische Unternehmen mit Weltstandard. Südwestfalen ist eine Industrieregion im Grünen. Wir haben qualifizierte und motivierte Menschen, die ihre Heimat lieben und dort auch leben und arbeiten wollen. Tatsächlich ist es aber so, dass Sauer- und Siegerland bis heute oft unterschätzt werden, da mit unserer Region andere Schwerpunkte Indusassoziiert werden als eine Wirtschaftsregion. In NRW haben wir das Rheinland als ständig prosperierende Region, wir haben das Ruhrgebiet mit einem großen Hunger nach Subventionen und wir haben Westfalen als die größte Selbsthilfegruppe der Welt. Natürlich gibt es aber auch in Südwestfalen noch Defizite. Dazu gehört die Verkehrsinfrastruktur, die in einigen Bereichen dringend ausgebaut werden muss. Ich denke da beispielsweise an die mangelhafte, überregionale Verkehrsanbindung für das Wittgensteiner Land, den Hochsauerlandkreis oder Teile des Märkischen Kreises.
    Dr. Rudolph: Die Stärken der Region liegen darin, dass wir eine hoch spezialisierte klein- und mittelständische Industrie- landschaft mit einer überaus motivierten und vergleichsweise gut qualifizierten Arbeitnehmerschaft vorweisen können, die darüber hinaus erstaunlich erfolgreich im Export ist und vielfach mit ihren Nischenprodukten zu den Weltmarktführern zählt. Was die Region insgesamt von anderen Regionen abhebt ist die Tatsache, dass hier sehr viel gearbeitet wird. Verglichen mit dem Ruhrgebiet haben wir beispielsweise im Sauer- und Siegerland einen viel höheren Anteil an Industriearbeiterschaft. Das fällt oftmals aber nicht direkt ins Auge, da die Landschaft sehr grün oder - wie derzeit - sehr weiß ist, und daher eher für eine reine Urlaubsregion gehalten wird. Defizite gibt es hingegen noch beim Aufbau von unternehmensorientierten Dienstleistungen sowie in punkto Urbanität. In diesen Bereichen sind Rheinland und Ruhrgebiet besser aufgestellt. Hier muss die Region aufholen.
    Remmel: Sauerland und Siegerland zeichnen insgesamt eine mittelständisch geprägte Wirtschaftsstruktur aus. Mit Blick auf die in anderen Teilen Nordrhein-Westfalens mitunter missliche Lage des Mittelstands, geht die Region hier mit gutem Beispiel voran. Zu ihren wirtschaftlichen Stärken gehören zweifellos der Maschinenbau-Zweig sowie der Bereich der Automobilzuliefer-Industrie. Ich denke beispielsweise an Firmen wie HJS in Menden als Hersteller von Partikelfiltern für Dieselfahrzeuge. Ansonsten ist das Siegerland auch historisch durch die Stahlindustrie und von Gießereien geprägt - vor dem Hintergrund der weltweit wachsenden Stahlnachfrage ein zukunftsträchtiger Industriezweig. Probleme gibt es hingegen im Bereich von Innovation und Wissenstransfer. Konkret geht es um die Frage, wie sich das, was an Innovationen vorhanden ist, auch in den heimischen Mittelstand implementieren lässt. Dabei helfen keine Leuchtturmprojekte, sondern hier ist eine stärkere Vernetzungsarbeit gefragt, wie sie beispielsweise die Effizienzagentur des Landes leistet.
    Freimuth: Südwestfalen ist mein Zuhause. Unsere Stärken sind Hartnäckigkeit, Kreativität und der Wille, aus den Gegebenheiten das Beste zu machen. Wir sind eine vielfältige Wirtschaftsregion, in der Innovation Tradition ist. Südwestfälische Handwerker und Unternehmer haben immer schon geforscht, neue Technologien und neue Produkte entwickelt. In einer stark mittelständischen Unternehmenslandschaft besteht deshalb auch eine enge Kooperation mit unseren Hochschulen und Schulen. Südwestfälische Unternehmer und ihre Mitarbeiter engagieren sich in vielen sozialen und kulturellen Bereichen. Südwestfälische Unternehmen sind Weltmarktführer, zum Beispiel in der Leuchtenindustrie. Eine Herausforderung ist in weiten Teilen aber noch die Verkehrsinfrastruktur. Gerade Unternehmen im Wittgensteiner Raum, in östlichen Teilen des Kreises Olpe und des Märkischen Kreises sowie in Teilen des Hochsauerlandkreises wünschen sich eine bessere Anbindung an das Autobahnnetz. Defizite in diesen Bereichen erschweren leider viele Standort- und Investitionsentscheidungen zugunsten Südwestfalens.

    Die Ansprüche im Tourismus wandeln sich. Ist die Urlaubsregion Sauer- und Siegerland konkurrenzfähig und zeitgemäß aufgestellt?

    Brunert-Jetter: Aus meiner Sicht sind wir auf dem besten Wege, unser Angebot auf die heutigen Ansprüche auszurichten. In den 70-er Jahren war es noch so, dass Familien aus den nahe gelegenen Ballungszentren gerne ihren mehrwöchigen Jahresurlaub in einer einfachen Pension im Sauer- oder Siegerland verbracht haben. Das ist jedoch längst nicht mehr gefragt und darauf hat das Hotel- und Gaststättengewerbe reagiert. Zur neuen "Urlaubskultur" gehören vor allen Dingen Kurzurlaube, Wellness-Reisen sowie an (Sport-)Events orientierte Urlaube. Ich denke beispielsweise an den ganzen Bereich des Wintersports, aber eben auch an Wandern, Klettern oder Mountainbiking. Hier hat in den vergangenen zehn Jahren ein enormer Entwicklungsschub stattgefunden. Dafür sprechen auch die steigenden Tourismuszahlen in unserer Region.
    Dr. Rudolph: Hier hat sich nach meinem Eindruck in den vergangenen Jahren sehr viel getan. Erstens, indem es die Tourismusbranche in Sauer- und Siegerland zunehmend besser schafft, gemeinsam als eine Region am Markt aufzutreten. Zweitens hat die Branche gemerkt, dass Kundenfreundlichkeit, Service sowie individuell gestaltete und verstärkt auf Kurzurlauber ausgerichtete Angebote Schlüssel zum Erfolg sind. Zum Beispiel konnte man noch vor wenigen Jahren längst nicht in jedem Hotel ein Zimmer mieten, wenn man nur für eine Nacht bleiben wollte. Das hat sich Gott sei Dank geändert. Auch das Land hat hier einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, die touristische Attraktivität der Region zu steigern, indem es verstärkt in den Auf- und Ausbau der Infrastruktur investiert hat.
    Remmel: Die Region bietet natürlich eine Reihe von Highlights wie Winterberg als Anlaufpunkt für Wintersportler, die ganze Ferienregion um den Biggesee, die sich sehr stark im Familientourismus profiliert hat, sowie der Rothaarsteig als national und mittlerweile auch international etablierter Wanderweg. Diese Gebiete verzeichnen seit Jahren stetig Zuwachsraten was Frequentierung und Übernachtungszahlen betrifft. Andere, mitunter nicht minder attraktive Teile der Region sind jedoch oftmals die Leid tragenden dieser Tourismusschwerpunkte. Mittlerweile ist es längst nicht mehr zeitgemäß und sinnvoll, nur einzelne "Kirchtürme" statt einer ganzen Region touristisch zu vermarkten. Dabei darf auch der Bereich des Low-Level-Individualtourismus‘ nicht ausgespart werden. Hier gibt es Nachholbedarf. Wir brauchen ein Umdenken: Kooperation statt Abgrenzung lautet die Devise.
    Freimuth: Das Sauer- und Siegerland bietet Urlaubs- und Erlebnisangebote für Familien mit Kindern, aber auch für Singles. Natur, Kultur oder einfach Faulenzen sind bei uns möglich. Im Sommer kann ich in den unzähligen Talsperren in wunderschöner Landschaft schwimmen, an einigen sogar surfen, segeln und Wasserski fahren. Im Winter Skifahren in Winterberg, Rodeln in Ebbe- oder Rothaargebirge. Ein gut ausgebautes Wanderwege- Netz lädt ganzjährig zum Entdecken der Natur ein. Es gibt Ferien auf dem Bauernhof ebenso wie die Wellness- and Beauty-Oasen zum Entspannen. Zahlreiche Museen, aktive Chöre, Orchester und eine Vielzahl unterschiedlichster Künstlerinnen und Künstler laden auch zum Entdecken der Kulturregion Südwestfalen ein. Auf gut deutsch: Alles da; Natur, Kultur sowie serviceorientierte Gastronomie und Hotellerie. Und natürlich wir Süd- westfalen. Besser werden können wir allerdings noch in der Vernetzung unserer regionalen Angebote und natürlich in der Bewerbung unserer Region.

    Sie kennen Land und Leute. Wie beschreiben Sie in drei Sätzen einem Fremden gegenüber die Menschen dort und ihre Mentalität?

    Brunert-Jetter: Sicherlich ist es immer schwierig, pauschal einen ganzen Menschenschlag charakterisieren zu wollen. Grundsätzlich lässt sich aber sagen, dass sich die Menschen in unserer Region durch Verlässlichkeit, Fleiß, einer hohen Motivation und Heimatverbundenheit auszeichnen. Das Klischee vom sturen Südwestfalen, der abgeschottet durch Wälder und Berge ein zurückgezogenes Leben führt, haben wir lange überwunden.
    Dr. Rudolph: Zunächst einmal gibt es sicher nicht den Prototyp eines Südwestfalen. Jeder, der sich hier auskennt und rumgekommen ist, weiß, dass sich die Menschen innerhalb der Region mitunter sehr stark unterscheiden. Trotzdem lassen sich glaube ich einige grundsätzlichen Gemeinsamkeiten benennen: Den Menschen der Region kann man nichts vormachen. Sie sind anfangs etwas zurückhaltender als in anderen Landesteilen. Aber wenn sie einen Menschen erst einmal in ihr Herz geschlossen haben, dann lassen sie ihn auch nicht mehr los.
    Remmel: Ich selbst stamme ja aus der Nähe von Siegen, bin meiner Heimat bis heute treu geblieben und fühle mich wohl dort. Als Außenstehender hat man es anfangs sicherlich schwer, Zugang zu den Südwestfalen zu finden. Hat man diese Hürde aber erst einmal überwunden, sind die zwischen---menschlichen Strukturen besonders fest und verlässlich. Und das ist es, was ich an der Region sehr schätze.
    Freimuth: Wir Südwestfalen sind fleißig, kreativ, innovativ, aufrichtig, zuverlässig und bodenständig. Wir sind sensibel, herzlich und weltoffen. Manchmal brauchen wir nur etwas länger, es die anderen erkennen zu lassen.
    Die Interviews führten Jürgen Knepper und Axel Bäumer.

    ID: LIN01564

  • Vom Ernst des Karnevals.
    Editorial / Kommentar / Blickpunkt;
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 2 in Ausgabe 3 - 15.02.2006

    Die Lage ist ernst, sie war immer ernst. Landespolitik ist eine seriöse Sache und verträgt keinen Humor. Wirklich? Vor kurzem meinte Vizepräsident Vesper im hehren Hauptausschuss zur Regierungsfraktion, "Sie hauen Hühnern die Füße platt und versuchen sie als Enten zu verkaufen". Gelächter.
    Es gibt die eine oder andere witzige kleine Anfrage, etwa wenn ein Abgeordneter wie der CDU-Abgeordnete Brinkmeier in der letzten Wahlperiode mit Datum vom 12.11. (verdächtig!) wissen will, ob das Land daran verdient, wenn man vor den Baum fährt. Oder der ostwestfälische Abgeordnete, der ein paar Jahre vorher Mitte Februar (ebenfalls verdächtig!) die Landesregierung mit der Nase auf das Thema Überdüngung der Bahndämme stieß, weil die Bahn sich nicht an die Düngeverordnung des Landes halte.

    Lächeln in der Politik

    Humor hat also Konjunktur. Der Karneval herrscht im Land. Die Jecken stürmen die Rathäuser, die Möhnen schneiden den Männern die Krawatten ab.Die Funkenmariechen fliegen durch die Luft. Im Landtag, wo sonst Reden geschwungen werden, schwingen die Närrinnen und Narren die Pritsche. Prinz Karneval, die Macht am Rhein.
    Die Machtverhältnisse kehren sich um - für drei tolle Tage. Aber dann muss es auch gut sein. Die alte Ordnung kehrt zurück. Alle wissen, "am Aschermittwoch ist alles vorbei" - nicht nur die Liebelei auf dem Tanzparkett, sondern auch die losen Reden, die den Stachel wider die Obrigkeit löcken. Und das Lustigmachen über die Rituale der Mächtigen.
    Also zurück zur Tagesordnung und Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung zurück in die Schublade, die erst in einem Jahr wieder geöffnet wird? Traurig, wenn es wirklich so wäre. Es gibt auch im Parlamentsalltag immer wieder Vorfälle, die - ob gewollt oder ungewollt - ein Lächeln in die Gesichter der Menschen zaubern. Das sind - zugegeben - seltene, aber unentbehrliche Momente.
    So wünscht man sich Politik - ernst aber nicht humorlos. Irgendwann muss es gut sein mit Niederringen des politischen Gegners und Wichtignehmen des eigenen Standpunkts. Auch andere haben ihre Überzeugungen und das Recht, sie zu vertreten. Wer heute oben ist, muss es morgen nicht mehr sein.Menschliches Maß, das will uns der Karneval lehren. Darum sehen wir ihn gern im Hohen Hause. Wenn er wieder weicht, vermissen wir ihn.
    JK

    ID: LIN01366

  • Milz, Andrea (CDU); Schulze, Svenja (SPD); Dr. Vesper, Michael (Grüne); Rasche, Christof (FDP)
    Was sich neckt, das liebt sich?
    Abgeordnete aus Rheinland und Westfalen geben sich versöhnlich.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 10-11 in Ausgabe 3 - 15.02.2006

    Der ewige Zwist zwischen Rheinländern und Westfalen - gibt es ihn wirklich? Mythos oder Alltag? Gerade ein Landesparlament müsste hier doch mit gutem Beispiel vorangehen und bemüht sein, eventuell vorhandene Gräben zuzuschütten und Missverständnisse auszuräumen. "Landtag intern" befragte zu Beginn der 5. Jahreszeit die Abgeordneten Andrea Milz (CDU), Svenja Schulze (SPD), Dr. Michael Vesper (GRÜNE) und Christof Rasche (FDP). Die Antwort auf die drängende Frage wird niemanden überraschen: ein klares "Jein!"

    Frau Milz, Rheinländerin und Rheinländer ziehen sich zu Karneval ein buntes Kostüm an, sind so richtig jeck und tanzen über Tische und Bänke. Welche Rolle spielt für Sie das "Verkleiden" in der fünften Jahreszeit?

    Milz: Verkleiden heißt verändern - ich tue das jeden Morgen und freue mich, wenn ich im Karneval nicht mehr so alleine bin und das Bild in den Straßen generell bunter wird. Ist doch klar, dass sich die Stimmung hebt, wenn Leute Federn in den Haaren haben, pinkfarbene Strümpfe tragen und mit lustigem Gesicht in der Straßenbahn sitzen. Daher mein Wunsch: Bringt Farbe, Fröhlichkeit und Lachen an 365 Tagen im Jahr in den Alltag, das fördert die positive Einstellung und hindert nicht daran, gute Arbeit zu leisten.

    Aus dem westfälischen Landesteil kommen immer wieder Klagen, man sei in vieler Hinsicht gegenüber dem Rheinland benachteiligt. benachteiligt. Sie leiten den Ausschuss für Generation, Familie und Integration. A propos Integration - brauchen wir eine Integrationsoffensive für Westfalen?

    Milz: Gute Idee! Wie wäre es, wenn jeder rheinische Kollege in den Fraktionen eine persönliche Patenschaft über einen Westfalen übernehmen würde? Zuerst käme ein theoretischer Teil, der die Lebensweisheiten des Rheinländers erklärt und vermittelt - so zum Beispiel "et kütt wie et kütt", "et is noch immer joot jejange" oder "mer kenne uns, mer helfe uns". Danach dann die praktische Einführung ins rheinische Leben: Schminkkurs mit Pappnase, Erprobung des rhythmischen Schunkelns, Singen op Kölsch und erste Versuche mit Stippeföttche. Besteht der Westfale alle diese Herausforderungen, erhält er ein "Immi-Zertifikat", was ihn jederzeit zu freiem Eintritt bei Brauchtumsfesten berechtigt.

    Frau Schulze, als engagiertes Mitglied von Slowfood und als Rheinländerin, die es zu den vermeintlich "drögen Westfalen" verschlagen hat, Frage an Sie: Darf jemand, der Blutworscht und ‘ne Halve Hahn zu seinen Lieblingsgerichten zählt, auf Menschen herabblicken, die sich für Pfefferpotthast, Münstersch Töttchen oder Möpkenbrot erwärmen?

    Schulze: Also ich lebe schon 20 Jahre sehr gerne in Westfalen. Und wer sich über die leckeren münsterschen Traditionsgerichte beschweren will, findet nur Gehör, wenn das in astreinem Münsterländer Platt geschieht. Außerdem: Wenn wir einen halben Hahn bestellen, bekommen wir was Warmes, Knuspriges auf den Teller und nichts Labberiges, Kaltes auf drögem, ollen Roggenbrot. Ansonsten rufe ich den Rheinländern zu: Lernt doch erst mal Pils brauen! Zugegeben: Die Kamelle werden bei uns am Rosenmontag zwar gezielt geworfen, dafür bekommt aber auch jeder eine ab. Und das beliebte Vorurteil, dass der Westfale "dröge" sei, stimmt einfach nicht. Als Sprecherin meiner Fraktion für Umweltpolitik kann ich da nur sagen: Die Kommunikation der Westfalenist einfach nachhaltiger. Wir wissen hier nach einem Thekengespräch auch am nächsten Tag noch, mit wem wir uns unterhalten haben.

    Sie haben im westfälischen Bochum studiert und waren AStA-Vorsitzende. Bei der Exzellenzinitiative siegte mit Aachen jüngst eine rheinische Hochschule, die in Münster, wo Sie wohnen, landet unter ferner liefen. Folge der hochschulpolitischen Benachteiligung des westfälischen Landesteils?

    Schulze: Eher eine Folge jahrhundertelanger traditionell eingeübter Überzeugungsrituale sowohl verbaler wie materieller Art. Man könnte auch profan behaupten: Die Aachener sind offensiver im Klüngeln. Aber im Ernst: Münster hat in den letzten Jahren viele exzellente Einrichtungen für seinen Hochschulstandort gewinnen können. So das Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin. Oder das Zentrum für Nanotechnologie. Oder das Netzwerk Bioanalytik-Münster. Und für die, die mit Naturwissenschaften weniger anfangen können: Münsters Universität belegt mit den Wirtschaftswissenschaften und Rechtswissenschaften bei bundesweiten Vergleichen stets die vorderen Plätze. Und unsere Fachhochschulen habe ich da noch gar nicht erwähnt.

    Herr Dr. Vesper, Sie als früherer Landeskulturminister: Welcher kulturelle Graben trennt Westfalen vom Rheinland? Rechtfertigt der in irgendeiner Weise die beklagenswerte Benachteiligung der Münsterländer, Sauerländer, Siegerländer, Ostwestfalen und Lipper?

    Dr. Vesper: Johannes Rau hat ja immer treffend von der sprichwörtlichen Zuverlässigkeit der Rheinländer, der ausgelassenen Fröhlichkeit der Westfalen und der sagenhaften Großzügigkeit der Lipper gesprochen. Das sind halt unterschiedliche Volksstämme mit ganz unterschiedlichen Vorzügen. Das Gewicht unseres Landes könnte man entscheidend vergrößern, wenn wir daraus zwei Länder machen würden: das Rheinland und Westfalen-Lippe wären dann das dritt- und viertgrößte Bundesland. Dass diese Trennung niemals ernsthaft diskutiert wurde, zeigt den Mut Nordrhein-Westfalens: Wir bleiben bei allen Unterschieden zusammen. "Es ist schwierig, aber es geht", sagt der Kölner Kabarettist Jürgen Becker, und er hat Recht. Darum sehe ich auch für eine Benachteiligung der westfälischen Landesteile überhaupt keine Rechtfertigung. Der Nachteil und zugleich Vorteil ist ja für beide, Rheinländer und Westfalen, der gleiche: mit dem jeweils anderen zusammenleben zu müssen.

    Als ein Mensch, der beide Landesteile aus eigenem Erleben kennt und zwischen Pils, Kölsch und Alt zu unterscheiden weiß - an welchem Karneval nehmen Sie, Hand aufs Herz, lieber teil, am rheinischen oder westfälischen?

    Dr. Vesper: Westfalen - und vor allem Ostwestfalen - hat viele gute Seiten. Aber der Karneval gehört nicht dazu. Man kann im Leben eben nicht alles haben.

    Herr Rasche, Sie als Banker und Politiker aus Westfalen kennen den Nachholbedarf. Wie, glauben Sie, kann Westfalen den Rückstand aufholen? Sich selbst beim eigenen Schopf aus dem Moor ziehen oder ist doch ein staatliches Entwicklungsprogramm nötig - sagen wir 11 Millionen auf 11 Jahre?

    Rasche: Überlegungen in den Neunzigern, Westfalen vom Rheinland zu trennen, ist im Zeitalter der Globalisierung obsolet. Heute "schauerte" es Westfalen beim Gedanken an diesen Rückfall in Kleinstaaterei. Nötig sind leistungsfähige Einheiten und neue Impulse, die den Nachholbedarf Westfalens ausgleichen. Dabei geht es nicht darum, sich am eigenen Schopf aus dem Moor zu ziehen; obwohl Baron Hieronymus von Münchhausen aus Bodenwerder die Methode erfand, der dem westfälischen Kulturkreis näher steht als dem rheinischen. Und obwohl die Rheinländer dem "Lügenbaron" viel abgeschaut haben: Ein "staatliches Entwicklungsprogramm" kann nur ein Witz sein. Besser wäre eine neue Hauptstadt nahe des geographischen Mittelpunkts des Landes - etwa im Bereich der Dortmunder Rieselfelder, nördlich von Waltrop, in der Nähe der Lippe, die zur Römerzeit eine ebenso bedeutsame Verkehrsader wie der Rhein war. Nur dauerte die Römerzeit hier nicht lang. Die Schlacht am Teutoburger Wald bereitete das Ende. Eine strategische Großtat, zu der der rheinische Teil des Landes nie in der Lage war. Eine neue Hauptstadt in Westfalen wäre ein Aufbruchsignal. Der Bau würde das Not leidende Baugewerbe sanieren und einen staatsbürgerlichen Gewinn bringen, da sich alle Lobbygruppen neu orientieren müssten. Der Sitz des WDR sollte auch in die neue Kapitale verlegt werden. Staatsferne ist etwas anderes als die Distanz zwischen Düsseldorf und Köln.

    Bei so viel Tristesse - gibt es nicht auch ermutigende Zeichen für Westfalen? Etwa in einem so zentralen Feld wie dem Fußball? Wäre das nicht die Chance, dem geknickten westfälischen Selbstbewusstsein wieder aufzuhelfen?

    Rasche: An Lebensqualität ist eine Region, die Pils und Steinhäger den Vorzug vor Alt und Kölsch gibt, nicht zu überbieten. Es gibt also nicht die unterstellte Tristesse im westfälischen Landesteil - im Gegenteil: Hier ist man das ganze Jahr über lustig, nicht nur im Karneval. Es bedarf daher keiner Stütze für das angeblich geknickte Selbstbewusstsein der Westfalen. Um aber eine Verknüpfung der Politik zum Fußball als einem zentralen Feld der westfälischen Kultur herzustellen, sollten die Plenarsitzungen des Landtags regelmäßig zwei Stunden vor den Heimspielen in der "Arena auf Schalke" und im "Westfalenstadion" stattfinden. Dies würde die Sitzungen verkürzen und viel Volk am politischen Geschehen teilhaben lassen.

    ID: LIN01379

  • Die verbindende Kraft des Karnevals.
    Närrinnen und Narren aus dem ganzen Land zu Gast im Landtag.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 12 in Ausgabe 3 - 15.02.2006

    Heute Abend versammeln sich Karnevalisten und Tollitäten aus ganz Nordhrein-Westfalen im Landtag. Landtagspräsidentin Regina van Dinther hat zum großen karnevalistischen Fest ins Hohe Haus geladen. Dreigestirne und Prinzenpaare aus dem Rheinland und Westfalen zelebrieren gemeinsam den tiefen Sinn der fünften Jahreszeit. So viel Eintracht herrschte nicht immer. Ein Blick zurück in die Landesgeschichte zeigt das.
    Es war vor 11 + 3 Jahren. Da brauste ein Ruf wie Donnerhall: "Freiheit für Westfalen!" Die Medien sahen die Spaltung des Landes gekommen. Was war geschehen? Ein nicht ganz unbekannter Politiker hatte sein Herz in der Zeitungsredaktion des Westfalen- Blatts ausgeschüttet. Seine sauerländischen Landsleute würden notorisch unterdrückt - von "ungerechter SPD-Politik".
    Damals war dem Olper CDU-Abgeordneten Hartmut Schauerte der Kragen geplatzt. Einmal in Schwung rechnete er vor: Im Rheinland werde für Kultur viermal so viel Geld ausgegeben wie in Westfalen. Das Pro-Kopf-Einkommen der Rheinländer liege mindestens zehn Prozent über dem der Westfalen. Am Rhein sei die Zahl der Gymnasiasten zehn bis 15 Prozent höher als an der Ruhr und ihren Nebenflüssen. Also die Devise:Weg vom Rheinland?
    Schauerte war kein politisches Leichtgewicht oder ein Nobody. Der Jurist gehörte seit 1980 als mit deutlicher Mehrheit direkt gewähltes Mitglied dem Landtag an. Er amtierte als stellvertretender Vorsitzender der CDU-Landtagsfraktion und fungierte als deren finanzpolitischer Sprecher.
    Der Zeitpunkt für seine Philippika gegen die schnöde Benachteiligung war mit Bedacht gewählt: Nicht der Karneval des Jahres 1992, sondern der Ferienmonat August, wo Journalisten und Medienleute gemeinhin an sauren Gurken nagen. Der publizistische Donnerschlag im Sommerloch hallte in den Medien nach und schrillte in den Ohren der Unionsoberen. Die waren um Schadensbegrenzung bemüht. Der Rheinländer Linssen ätzte damals: "Origineller Vorschlag" - vor allem zu einer Zeit, wo im politischen Raum "zunehmend mehr über eine Verringerung der Zahl der Bundesländer nachgedacht wird".

    "Nessie"

    So viel Zurückhaltung legten die Medien nicht an den Tag. In einem Kommentar in "Forum West" las Peter Josef Bock seinen offenen Brief an den "sehr geehrten Herrn Hartmut Schauerte" vor. In dem riet er dem "Berufs-Westfalen", sein Wissen auch für die Trennung der Franken von Bayern, der Pfälzer vom südlichen Rheinland, der Badenser von den Württembergern und der Mecklenburger von den Vorpommern zur Verfügung zu stellen oder mit einem Drachenkostüm als Nessie zum Gaudi der Touristen aus dem heimischen Biggesee aufzutauchen. Das bringe genauso schöne Schlagzeilen.
    Heute hat sich der Wind gedreht. Die CDU hat die Landtagswahl gewonnen und die SPD abgelöst. Mit der notorischen Benachteiligung nicht nur der Sauerländer könnte jetzt Schluss sein. Könnte? Es ist noch zu früh für ein endgültiges Bild, denn Schwarz-Gelb ist noch nicht lang genug am Ruder, um die landsmannschaftlichen Folgen des Umsteuerns zu erkennen.
    Aber werden die Karten nicht nur neu gemischt - im alten Spiel? Das Ruhrgebiet werde von der neuen Landesregierung benachteiligt, hieß es in einer der letzten Plenardebatten. Die neue Opposition ließ vernehmen, die Menschen dort würden dafür bestraft, dass sie immer noch so störrisch rot wählen. Früher waren es die Menschen in den ländlichen Räumen Westfalens, die sich dafür abgestraft sahen, dass sie immer so fleißig schwarz wählen.
    Höchste Zeit, dass die Prügelknabenrolle nicht neu besetzt wird. Die alles verbindende Kraft des Karnevals sollte sich entfalten: "Drink doch eine met, stell dich nit esu ahn ..." Was - ein Lied aus dem rheinischen Karneval zur Versöhnung? Wo doch der westfälische Karneval so viel ursprünglicher, volkstümlicher und echter ist? Schon donnert es drohend zum Rhein herüber: "Westfalenland, Westfalenland ist wieder außer Rand und Band." Den Zorn der Westfalen sollte man nicht schon wieder wecken ...
    JK

    ID: LIN01380

  • Wurzeln und Flügel.
    Editorial / Kommentar / Blickpunkt;
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 2 in Ausgabe 2 - 01.02.2006

    Ein kluger Mann hat gesagt: Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel. Damit sie sich in der Welt verankern, in die sie ihre Eltern gesetzt haben, und später sich zu einem Leben aufschwingen können, aus eigener Kraft und selbstbestimmt. Goethe wusste, wovon er spricht.
    Emotionale Geborgenheit und materielle Sicherheit - Kinder brauchen beides, wenn sie gedeihlich aufwachsen sollen. Die meisten haben es, manche vermissen das eine oder das andere. Einige beides. Ihre Zahl wächst,wenn man den staatlichen Berichten zur Armutsentwicklung und den Erhebungen der Wohlfahrtsverbände Glauben schenkt.
    Das muss man wohl, und das ist ein Alarmzeichen. Handeln tut not. Kinder können nichts für die Armut der Lebensverhältnisse, in die sie hineingeboren werden. Ihren Eltern kann man die Armut nicht zum Vorwurf machen, es sei denn, sie wäre in törichter Weise selbst herbeigeführt. Es ist egal, ob man die erforderliche Hilfe mit christlicher Nächstenliebe begründet oder Solidarität nennt - es muss etwas gegen Verarmung und Vernachlässigung getan werden, von Amts wegen, von den kirchlichen und freien Wohlfahrtsverbänden, von jedem Einzelnen.

    Spätfolgen

    Dabei geht es um Schicksal und Karrieren der betroffenen Kinder, aber nicht allein. Armut pflanzt sich leicht fort. Es ist schwer, ihr zu entkommen. Wer aus dem Kreislauf ausbrechen will, braucht viel eigene Kraft und noch mehr fremde Unterstützung. Für die Gesellschaft paart sich dabei hehre Nächstenliebe mit purem Eigennutz: Es ist allemal billiger, früh einzugreifen, als sich mit den unberechenbaren Spätfolgen auseinandersetzen zu müssen.
    Betreuung, Bildung, Erziehung, Förderung - hier kann der Staat seine Angebote machen. Das hat er getan und das tut er, in steigendem Maß,wie der Blick auf unser Land zeigt. Jugendhilfe, Jugendplan, verlässliche Grundschule, offene Ganztagsschule, Kindergarten unter drei,Werkstattjahr - hier ist jeder öffentliche Euro gut angelegt, auch und gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Ohne der völligen Ökonomisierung der menschlichen Existenz das Wort reden zu wollen: Kinder sind Investitionen in die Zukunft unserer Gesellschaft, ein Kapital, das reiche Früchte tragen kann.
    Der Streit um die Absetzbarkeit der Kosten für die Kindererziehung, eine Million hier oder eine Milliarde da - in die politische Diskussion ist bundesweit Bewegung gekommen. Die Familienpolitik ist plötzlich wieder ein Thema, an dem sich Berufene und weniger Berufene abarbeiten. Hoffen wir, das alles ist des Schweißes der Edlen wert, für unsere Familien, für unsere Kinder, für unsere Gesellschaft.
    JK

    ID: LIN01329

  • Teufelskreis Kinderarmut.
    Junge Menschen geraten verstärkt ins soziale Abseits.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 9 in Ausgabe 2 - 01.02.2006

    Kinderarmut ist in Deutschland ein oft verdrängtes Thema. Anders als in Entwicklungsländern geht es in der wohlhabenden Bundesrepublik nicht ums physische Überleben. Kinderarmut wirkt hierzulande eher subtil, aber sie wirkt nicht minder. Die Auswirkungen auf Kinder können so massiv sein, dass ihre Lebenschancen dauerhaft beeinträchtigt werden. Aus armen Kindern werden oft auch arme Erwachsene. Betroffen sind Kinder aus Zuwandererfamilien, Kinder aus kinderreichen Familien sowie Kinder Alleinerziehender. In NRW ist mittlerweile jedes elfte Kind auf Hilfe zum Lebensunterhalt angewiesen. Bei Kindern mit Migrationshintergrund ist es jedes siebte.
    Als arm gilt, wer weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Monatseinkommens zur Verfügung hat. In NRW sind das derzeit 608 Euro. Kinderarmut lässt sich aber nicht nur am Einkommen der Eltern festmachen. Kinder aus sozial schwachen Familien sind in vielerlei Hinsicht benachteiligt: Neben dem Mangel an materiellen Dingen fehlt es nicht selten auch an Zuwendung, Erziehung und Bildung. Hinzu kommen dann noch gesundheitliche Probleme, verursacht durch falsche Ernährung und Bewegungsmangel. Die betroffenen Kinder können sich im Unterricht schlechter konzentrieren und brechen häufiger die Schule ab. Bei Kindern ausländischer Eltern kommen Sprachprobleme erschwerend hinzu. Mangelhafte Bildung wiederum führt zu schlechten Berufschancen. Damit schließt sich der Teufelskreis Kinderarmut.
    Ende 2004 lebten laut Statistischem Landesamt NRW (LDS) knapp 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren in NRW. 251.213 der unter 15-Jährigen (neun Prozent) erhielten staatliche Hilfe zum Lebensunterhalt. Im Jahre 1995 waren es 209.033 (7,2 Prozent). Nach einer Studie des Paritätischen Wohlfahrtverbandes hat diese Zahl in Folge der Hartz-IVReform drastisch zugenommen: Der Verband bezifferte die Zahl der nordrhein-westfälischen Sozialgeldempfänger unter 15 Jahren im Juli 2005 auf 405.194 (14,5 Prozent).
    Ungeachtet der Streitigkeiten über richtige oder falsche Zahlen: Fakt ist, dass die Armut bei Kindern in NRW trotz zahlreicher Bemühungen in den letzten Jahren zugenommen hat. Das haben nicht zuletzt der jüngste Armuts- und Reichtumsbericht sowie der 8. Kinder- und Jugendbericht der Landesregierung verdeutlicht. Für Kinder sozial schwacher Eltern ist vieles tabu, was für andere selbstverständlich ist: Nachhilfeunterricht, Sportverein, Musikschule, Taschengeld, Urlaubsreisen. In einigen betroffenen Familien steht nicht einmal jeden Tag ein warmes Essen auf dem Tisch. Karitative Einrichtungen wie die Tafeln, die bedürftige Menschen mit Lebensmitteln versorgen, berichten von einem verstärkten Zulauf von jungen Familien mit Kindern. Beispiel Duisburg: Hier hat ein gemeinnütziger Verein aufgrund der großen Nachfrage jetzt einen Mittagstisch nur für Kinder eingerichtet.

    Vernachlässigung

    Mit steigender Kinderarmut wächst auch die Zahl der vernachlässigten Kinder. Die Gründe sind vielfältig: Einige, insbesondere junge Eltern, sind mit der Erziehung ihrer Sprösslinge schlichtweg überfordert. Andere sind beruflich so eingebunden, dass ihnen die Zeit fehlt, sich um ihre Kinder zu kümmern. Fälle von verwahrlosten Kindern gehören bei vielen Kinder- und Jugendämtern schon zum "Alltagsgeschäft". Im Jahre 2004 haben die Jugendämter in NRW 7.627 Kinder und Jugendliche in Notsituationen vorläufig unter ihren Schutz gestellt. Laut Schätzung des Kinderhilfswerks UNICEF werden in Deutschland rund 200.000 Kinder vernachlässigt oder misshandelt. Das Bundeskriminalamt bestätigt, dass die Zahl der bundesweit gemeldeten Fälle von Kindesmisshandlungen im Zeitraum 1996 bis 2004 von 1.971 auf 2.916 Fälle gestiegen ist.
    Aus diesem Grund denkt das NRW-Generationenministerium darüber nach, von Geburt an regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen zur Pflicht zu machen. Auf diesem Wege, so hofft man, könnten neben Entwicklungsverzögerungen auch Vernachlässigung oder Gewalt gegen Kinder frühzeitig festgestellt werden.
    Fest steht: Kinder brauchen eine stärkere Lobby. Bleibt zu hoffen, dass diesem Motto Taten folgen - im Interesse der Kinder.
    ax

    ID: LIN01341

  • Rückblick.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 9 in Ausgabe 2 - 01.02.2006

    Das Problem Kinderarmut war im Landtag Gegenstand von Beratungen. Erst im November 2005 hat der Landtag auf Betreiben der SPDFraktion die Einrichtung einer Enquetekommission "Chancen für Kinder" beschlossen. Bereits im Jahre 2002 hatte ein CDU-Antrag (Drs. 13/2959) intensive Beratungen nach sich gezogen, die sich bis ins Jahr 2004 erstreckten. Es folgen Ausschnitte aus der Plenardebatte vom Oktober 2002.
    Regina van Dinther (CDU): "Auch vor dem Hintergrund der Finanzknappheit muss klar sein, wo gespart werden muss und wo nicht gespart werden darf. Das Humankapital unserer Kinder zu beachten und zu fördern muss der wichtigste Leuchtturm nordrhein-westfälischer Politik sein."
    Annegret Krauskopf (SPD): "Wir haben deutlich gemacht, dass Chancengleichheit in Bildung und Beruf für uns das wirkungsvollste Instrument bleibt, um die Armut von Kindern und Jugendlichen zu bekämpfen. Ein solch klares Konzept bleibt die CDU schuldig."
    Christian Lindner (FDP): "In Familien mit allein erziehenden Müttern leben mehr als die Hälfte aller sozialhilfeabhängigen Kinder. Geschuldet ist dies dem Umstand, dass wir in NRW immer noch ein zu geringes Angebot an öffentlicher Kinderbetreuung haben. Das gilt es anzufassen."
    Ute Koczy (GRÜNE): "Wenn wir wissen, dass sich Sozialsysteme nur über einen langen Zeitraum verändern lassen, dann dürfte klar sein, dass es eine verfehlte Familienpolitik der letzten Jahrzehnte sein muss, deren Folgen wir jetzt zu spüren bekommen."

    ID: LIN01342

  • Kastner, Marie-Theres (CDU); Altenkamp, Britta (SPD); Asch, Andrea (Grüne); Lindner, Christian (FDP)
    Priorität für mehr Betreuung.
    Interviews mit den jugendpolitischen Sprecherinnen und Sprechern.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 10-11 in Ausgabe 2 - 01.02.2006

    Familienpolitik erfährt momentan einen wahren "Boom". Dabei sind die Probleme, die ins Zentrum der politischen Debatte gerückt sind, nicht neu. Die nordrhein-westfälische Gesellschaft ist eine alternde Gesellschaft. Die Geburtenrate sinkt kontinuierlich. Gleichzeitig steigt die Zahl junger Familien und Kinder, die auf staatliche Hilfe zum Lebensunterhalt angewiesen sind. So kann und darf es nicht weitergehen, darüber herrscht Einigkeit. An Lösungsansätzen mangelt es nicht. Doch in Zeiten knapper Kassen stoßen solche Überlegungen schnell an die Grenzen des Finanzierbaren. "Landtag intern" sprach darüber mit Marie-Theres Kastner (CDU), Britta Altenkamp (SPD), Andrea Asch (GRÜNE) und Christian Lindner (FDP).

    Der Ministerpräsident hat 2006 zum Jahr des Kindes erklärt. Gleichzeitig beklagen die Wohlfahrtsverbände die wachsende Zahl von Kindern, die mit ihren Eltern in Armut leben. Wie passt das in einem wohlhabenden Land wie NRW zusammen?

    Kastner: Wenn man Jahre mit einem Thema versieht, dann möchte man damit in besonderer Weise auf die Lebenssituation derjenigen aufmerksam machen, die man in den Mittelpunkt stellen möchte. Das sind für das Jahr 2006 die Kinder und die Familien. In der Regel verzichten junge Erwachsene nicht etwa deshalb auf Nachwuchs, weil sie keine Kinder mögen. Viele junge Leute sind sich sehr wohl der Verantwortung bewusst, die Kinder mit sich bringen. Kinder brauchen Liebe und Zeit, aber auch Geld für Nahrung, Kleidung und vor allem Ausbildung. Wenn die Arbeitsplätze unsicher sind, wenn passgenaue Betreuungsmöglichkeiten fehlen, und wenn gerade deshalb die Partnerschaften an mancher Stelle gefährdet sind, dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn weniger Kinder zur Welt kommen. Kinder zu haben, bedeutet ein finanzielles Risiko, und das ist umso größer, je niedriger das Einkommen der Eltern ist. Deshalb kann es auch in einem wohlhabenden Land wie NRW Armut geben. Das wollen und müssen wir hinterfragen und vor allem ändern. Wenn dazu das Jahr des Kindes beiträgt, kann man das nur begrüßen.
    Altenkamp: Das "Jahr der Kinder" ist in meinen Augen reine Marketingstrategie. Die Haushaltseckdaten hinterlegen diese großspurige Ankündigung nicht mit Inhalt. Richtig ist: Die Situation der in Armut lebenden Kinder hat sich durch die geänderte Sozialgesetzgebung weiter verschärft. Besonders betroffen sind Kinder von Alleinerziehenden sowie Kinder, die in Familien mit Migrationshintergrund aufwachsen. Politik muss hier gegensteuern. Zielrichtung der SPD ist es, nicht nur die Familien in den Blick zu nehmen, die bereits in Armut leben. Stattdessen müssen wir uns auch auf die Familien konzentrieren, die an der Schwelle zum sozialen Abseits leben und dafür sorgen, dass sie nicht abrutschen. Insbesondere die Ausweitung des Angebots von Kinderbetreuung und die Erleichterung des Zugangs zu diesen Angeboten sind im Rahmen des Umstellungsprozesses auf Hartz IV zu kurz gekommen. Das werden wir in diesem Jahr nachholen.
    Asch: Es freut mich natürlich, dass Familienpolitik auch auf Landesebene in die Mitte der politischen Diskussion gerückt ist. Ich habe allerdings Probleme damit, dass der Ministerpräsident einerseits 2006 zum Jahr der Kinder erklärt und zum anderen gerade in diesem Bereich massive Kürzungen vornimmt. Das ist ein eklatanter Widerspruch. Davon betroffen sind unter anderem die Betriebskostenzuschüsse für Kindertageseinrichtungen, die Erziehungsberatungsstellen, die Familienbildung sowie die Familienhilfe insgesamt. Das Gegenteil ist gefragt. Denn gerade arme und bildungsferne Familien brauchen ein gutes und verlässliches Betreuungssystem, um Förderdefizite ausgleichen zu können. Als "Trostpflästerchen" für die Kürzungen fordert die Landesregierung jetzt die Schaffung von Familienzentren. Die Idee hierzu ist keinesfalls neu und im Grundsatz auch nicht verkehrt. Aus Sicht der Grünen ist es jedoch unumgänglich, hierfür qualitative Mindeststandards verbindlich festzulegen. Stattdessen plant Minister Laschet ein ergebnisoffenes Verfahren. Das wird dem Ziel, die Angebote für Familien qualitativ weiterzuentwickeln, aus unserer Sicht nicht gerecht.
    Lindner: Der Ministerpräsident hat das Jahr 2006 zum Jahr der Kinder erklärt, um deutlich zu machen, dass in diesem Bereich noch Anstrengungen unternommen werden müssen. Das bedeutet einerseits, dass wir verstärkt Eltern in die Erwerbstätigkeit bringen und damit zu Wohlstand verhelfen müssen. Wir haben hierzulande viel zu viele Familien, die von Sozialhilfe abhängig sind. Anderseits müssen wir die Betreuungs- und Fördermöglichkeiten für Kinder verbessern und ausbauen. Das fängt bei den Kindertageseinrichtungen an, geht über den außerschulischen Bereich wie Kinder- und Jugendzentren bis hin zu den Grund- und weiterführenden Schulen.Und genau das wird im Jahre 2006 mit der Verabschiedung des Schulgesetzes, mit der Einführung der Familienzentren sowie mit der Neuorientierung des Landesjugendplans umgesetzt werden.

    Älter werdende Gesellschaft, sinkende Geburtenrate - früher sollte die Zuwanderung diese Lücke schließen. Ist das immer noch das Patentrezept?

    Kastner: Zuwanderung war und ist nicht das Patentrezept, um unsere demographischen Probleme zu lösen. Das ist schon deshalb nicht die Lösung, weil wir uns nicht aussuchen können, wer zu uns kommt. Wir sehen, dass in den letzten Jahren Menschen zu uns kommen, die wir mehr oder weniger unterstützen müssen, wenn sie sich hier heimisch fühlen sollen. Integration ist ein gesellschaftlicher Weg und auch ein finanzieller Aufwand. Wir erleben es Tag für Tag, welche praktischen Probleme wir bei der Integration lösen müssen. Ohne Sprache beispielsweise kann Integration kaum gelingen. Die Kinder haben weniger Chancen. Daher haben wir die Mittel für die Sprachförderung auf 15,6 Millionen Euro verdoppelt. Eine Lösung des demographischen Problems kann nur in Migration und in einer attraktiveren Politik für Familien bestehen. Wir können den Menschen das "Kinderkriegen" nicht vorschreiben. Wir als Politik können aber sehr wohl die Grundvoraussetzungen für positive Entscheidungen schaffen.
    Altenkamp: Wir müssen konstatieren: Nicht alle Hoffnungen von damals haben sich erfüllt. Heute wissen wir: Zuwanderung ohne eine gute Integrationspolitik multipliziert die gesellschaftlichen Probleme. Integrationspolitik muss daher den Fokus insbesondere auf die zweite und dritte Migrantengeneration richten und die Sozialpolitik sowie die Sozialsysteme besser auf deren Bedürfnisse ausrichten. Diese Gruppe ist noch nicht in unserer Gesellschaft angekommen. Vor fünfzehn Jahren hat man geglaubt, das würde automatisch passieren. Tatsächlich ist es so, dass Kinder dieser Generation im Hinblick auf Sprachkenntnisse und Sozialverhalten größere Schwierigkeiten aufweisen als die erste Generation. Hier müssen wir über besser greifende Konzepte nachdenken. Es gibt jedoch kein Patentrezept.
    Asch: Patentrezepte gibt es hierbei nicht. Wir müssen versuchen, jungen Paaren die Entscheidung für Kinder zu erleichtern. Das können wir erreichen, indem wir ein Netz von besseren Betreuungsangeboten schaffen und den Eltern von Geburt an Hilfen zur Verfügung stellen, damit sie auch bei Berufstätigkeit ihre Kinder versorgt wissen. Dabei dürfen wir nicht die Belange von zugewanderten Familien außer Acht lassen. In vielen NRW-Ballungszentren liegt der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund bei cirka 30 Prozent. Prognosen gehen davon aus, dass in zehn Jahren jedes zweite Kind in NRW einen Migrationshintergrund hat. Dieser Herausforderung müssen wir uns familien- und integrationspolitisch stellen.
    Lindner: Ich warne davor, dass wir uns nur auf eine Lösung versteifen. Die Frage darf nicht lauten: Entweder Zuwanderung oder Erhöhung der Geburtenrate? Selbstverständlich brauchen wir beides. Zum einen müssen wir Menschen mit Zuwanderungsgeschichte unter dem Gesichtspunkt der Teilhabegerechtigkeit so unterstützen, dass sie sowohl am Arbeitsmarkt als auch am gesellschaftlichen Leben partizipieren können. Zum anderen müssen wir Anreize dafür schaffen, dass sich junge Menschen wieder dazu entschließen, Kinder zu bekommen. Laut Statistik bleiben mittlerweile rund 40 Prozent der Akademikerinnen kinderlos. Dem können wir insbesondere durch ein verbessertes Angebot im Bereich der Klein- und Kleinstkinderbetreuung begegnen, damit sich junge Eltern nicht mehr vor die fatale Entscheidung Kind oder Beruf gestellt sehen.

    Wann kommt in NRW der beitragsfreie Kindergarten für alle?

    Kastner: Der beitragsfreie Kindergarten ist zwar wünschenswert, aber jetzt und in absehbarer Zeit nicht finanzierbar. Ich glaube auch, dass wir vorher die Betreuungsangebote noch vermehren und passgenauer gestalten sollten, bevor wir zur Beitragsfreiheit kommen. Die Frage nach der Beitragsfreiheit hat viele Diskussionen ausgelöst. Das tut der Familienpolitik gut und zeigt auf, dass wir in der ganzen Republik noch eine ganze Menge tun müssen, um wirklich Kinder und ihre Familien optimal zu unterstützen.
    Altenkamp: Ich hoffe, dass wir eines Tages in NRW den beitragsfreien Kindergarten haben werden. Für sinnvoll halte ich die Pläne der rheinland-pfälzischen Landesregierung, zunächst nur das dritte Kindergartenjahr beitragsfrei zu stellen. Daran sollte sich NRW ein Beispiel nehmen. Zweifellos würde dies eine deutliche Verschiebung von Schwerpunkten in den künftigen Haushaltsberatungen voraussetzen. Immerhin reden wir über eine finanzielle Mehrbelastung von ungefähr 100 bis 120 Millionen Euro. Trotzdem bin ich zuversichtlich, dass sich dieses ehrgeizige Ziel noch in dieser Legislaturperiode realisieren ließe. Ich finde es daher schade, dass die Landesregierung das gleich negiert und sagt, bis 2010 brauchen wir diese Diskussion gar nicht zu führen.
    Asch: So sehr ich mir das wünschen würde, halte ich das in Anbetracht der begrenzten Ressourcen derzeit für unrealistisch. Da bin ich mit dem Familienminister einer Meinung.Was wir brauchen, ist ein flächendeckendes Netz von Betreuungsplätzen für Kinder, gerade für die unter Dreijährigen. Das muss oberste Priorität haben. Wenn wir dieses Ziel in der jetzigen Legislaturperiode erreichen sollten, kann man anschließend über beitragsfreie Kindertageseinrichtungen diskutieren.
    Lindner: Voraussetzung dafür wäre eine finanzielle Verständigung zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Auf unserer Prioritätenliste im Land steht allerdings die Konsolidierung des Landeshaushalts an erster Stelle. Zweitens müssen wir die Betreuungsinfrastruktur qualitativ und quantitativ verbessern. Wünschenswert wäre drittens, Familien auch finanziell beim Elternbeitrag zu entlasten. Dabei halte ich es angesichts der früher möglichen Einschulung für geboten, zunächst nur das letzte Kindergartenjahr beitragsfrei zu stellen, damit der Entwicklungsstand des Kindes und nicht der Geldbeutel über den Einschulungszeitpunkt entscheidet.

    Die Interviews führten Jürgen Knepper und Axel Bäumer

    ID: LIN01343

  • Grünes Licht für erste Familienzentren.
    Landesregierung gibt 2,5 Millionen für 178 Piloteinrichtungen.
    Titelthema / Schwerpunkt;
    Ausschussbericht
    S. 12 in Ausgabe 2 - 01.02.2006

    "NRW soll das kinder- und familienfreundlichste Land Deutschlands werden", so das erklärte Ziel der Landesregierung. Ein zentrales Element auf dem Weg dorthin soll die Umwandlung der Kindertageseinrichtungen zu Familienzentren sein. Die Idee: Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern wird mit Angeboten der Beratung und Lebenshilfe für Eltern unter einem Dach zusammengefasst. "Bereits ab Mitte Mai dieses Jahres soll in jedem der 178 Jugendamtsbezirke in NRW mindestens eine Piloteinrichtung die Arbeit aufnehmen", verkündete Familienminister Armin Laschet (CDU) jetzt im Generationenausschuss (Vorsitz Andrea Milz, CDU). Nach Meinung von SPD und Grünen handelt es sich hierbei um eine "Mogelpackung", mit der Kürzungen im Sozialbereich kaschiert werden sollen.
    Drei "B" sollen Grundlage der vorschulischen Erziehung in den Familienzentren sein: Betreuung, Bildung und Beratung. Aus Kindergärten sollen Dienstleistungszentren für Kinder und Eltern werden. "Hilfe aus einer Hand", lautet das Motto. Damit reagiere die Landesregierung auf den wachsenden Bedarf der Eltern an Beratung und Unterstützung bei der Wahrnehmung ihrer Bildungs- und Erziehungsaufgaben. "Politik darf Eltern dabei nicht allein lassen, sondern muss Lösungs- und Unterstützungsmöglichkeiten anbieten. Wir setzen auf Kompetenzen vor Ort. Eltern vertrauen den Einrichtungen, in denen ihre Kinder betreut werden. Deshalb ist das der beste Ort für Beratung", so der Minister.
    Zum Angebot der Familienzentren sollen unter anderem Sprachförderung, Weiterbildungsmaßnahmen, Erziehungstipps sowie die Vermittlung von Tagesmüttern zählen. Auf diesem Wege wolle man insbesondere auch Migrantenfamilien ansprechen, die oft Hemmungen hätten, auf Ämtern Rat zu suchen oder in eine Weiterbildungseinrichtung zu gehen.
    Noch bis Ende März dieses Jahres sind alle Jugendämter, Kirchen und sonstige Träger im Land aufgerufen, dem Ministerium geeignete Piloteinrichtungen zu benennen. Die Auswahl soll im Mai getroffen werden. Grundlage für die Auswahl sei, dass die Einrichtung neben ihrem Auftrag zur Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern eine Vernetzung der Angebote vor allem mit den örtlichen Familienberatungsstellen, den Familienbildungsstätten sowie den Familienverbänden vornehme.
    Mitte Mai beginnt dann eine einjährige Pilotphase. Dabei sichert das Land den Einrichtungen Unterstützung in Form von Coaching bei der Konzeptentwicklung und deren Umsetzung sowie durch Fortbildung für die Leiterinnen und Leiter der Tageseinrichtungen zu. "Alle erfolgreichen Einrichtungen erhalten am Ende ein Gütesiegel", erklärte Laschet. "Zudem werden die 25 besten Einrichtungen prämiert und mit einem Geldpreis ausgezeichnet."
    Der Minister betonte, dass es keinen einheitlichen Typ von Familienzentrum geben soll: "Der Prozess ist ausdrücklich ergebnisoffen und dialogisch angelegt." Denkbar seien drei Grundmodelle: Beim Modell "Unter einem Dach" soll das komplette Betreuungs- und Beratungsangebot in den Räumlichkeiten der Kindertageseinrichtung untergebracht werden. Da, wo die räumlichen Gegebenheiten dies nicht zuließen, könnte die Tagesstätte als "Lotse" fungieren, der Familien mit ihren Anliegen gezielt an die zuständigen Stellen weiterleite. Das Modell "Galerie" gleicht dem ersten Modell, mit dem Unterschied, dass sich die Breite des Angebots nach den jeweiligen örtlichen Erfordernissen richten soll. Für die Einführung der Zentren stellt das Land zunächst 2,5 Millionen Euro (bis 2007) zur Verfügung. "Die Pilotphase wird der Auftakt für die flächendeckende Einführung von Familienzentren in NRW", sagte Laschet. Langfristig soll ein Drittel der rund 9.700 Kindertageseinrichtungen zu Familienzentren ausgebaut werden.
    Kritik hagelte es von Seiten der Opposition: Britta Altenkamp (SPD), nannte die Ankündigung der Landesregierung "eine Luftbuchung". Das eingeplante Geld reiche bei weitem nicht aus für eine bessere Betreuung und Beratung von Familien. Dem pflichtete die jugendpolitische Sprecherin der Grünen, Andrea Asch, bei: "Die Einrichtungen erhalten neue Aufgaben, müssen aber zugleich massive Kürzungen hinnehmen. Die Familienbildung 16 Prozent, die Erziehungsberatung ebenfalls 16 Prozent und die Kindergärten 100 Millionen Euro."
    Christian Lindner (FDP) hingegen lobte das vorgelegte Konzept als "Neustart in der Kindergartenpolitik des Landes". Lob gab es auch von der Sprecherin der CDU, Marie- Theres Kastner: NRW setze mit der Entwicklung von Familienzentren ein wichtiges und zukunftsweisendes Zeichen im Bereich der Betreuung und Beratung von Kindern und Familien.
    ax

    Bildunterschrift:
    Minister Laschet stellt im Generationenausschuss sein Konzept vor. Rechts von ihm Ausschussvorsitzende Milz.

    ID: LIN01344

  • Jubiläum in Stolz und Dankbarkeit.
    Editorial / Kommentar / Blickpunkt;
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 2 in Ausgabe 1 - 18.01.2006

    Ein Land kommt in die Jahre. Dagegen lässt sich nichts einwenden und noch weniger machen. Aber man kann innehalten und zurückschauen, was sich in den zurückliegenden 60 Jahren getan hat. Es ist eine ganze Menge.
    Das was später zu Nordrhein-Westfalen zusammenwuchs, lag damals in Trümmern: moralisch, wirtschaftlich, politisch, sozial. Die Menschen waren auf dem Tiefpunkt angelangt, es musste und es konnte nur aufwärts gehen. Der Hunger war zu stillen, die Wohnungsnot anzupacken, die Flüchtlinge aufzunehmen und die Fabriken und Betriebe wieder aufzubauen - und der demokratische Neubeginn zu wagen.
    Mitten in diesen elenden Umständen des Neuanfangs gedieh das Pflänzchen Demokratie, sorgsam gehütet und bewacht von der britischen Besatzungsmacht. Die Frauen und Männer des politischen Wiederaufbaus im ernannten und später gewählten Landtag teilten mit den Menschen die Lebensumstände. Sie hatten keine eigene Bleibe über dem Kopf. Der Küchenmeister der Abgeordneten hieß - wie bei allen anderen ebenfalls - Schmalhans:Morgens zum Frühstück drei Scheiben Brot, mittags Graupensuppe.

    Erfolge und Krisen

    Erst 1949 geboten die Abgeordneten wieder über ein eigenes Haus. 1988 dann zog der Landtag in das neue Gebäude am Rheinufer. Ein symbolisches Geschehen mit Verzögerung: Die Nachkriegszeit war endgültig zu Ende gegangen, NRW hatte sich in ein starkes und relativ reiches Land verwandelt:Weltmeister im Export, Energiezentrum der Bundesrepublik, Nettozahler in den Länderfinanzausgleich, von einer dichten Kultur- und Bildungslandschaft überzogen.
    60 Jahre sind eine lange Spanne. Da kann es nicht immer nur aufwärts gehen. In diese Zeit fällt auch die Montankrise an der Ruhr, das Wegbrechen der Textilherstellung im Münsterland und am Niederrhein. Der internationale Wettbewerb kostete Tausende von Arbeitsplätzen. Neue Typen von Kernkraftwerken in Kalkar und Hamm wurden gebaut, aber nicht in Betrieb genommen. Die Wirtschaft musste sich in einer gewaltigen Anstrengung von der Produktion auf Dienstleistung umstellen. Die Gewerkschaften begleiteten den Wandel und sicherten den sozialen Frieden.
    Und mittendrin der Landtag. Was hat er nicht alles diskutiert, untersucht, moderiert, angestoßen und in Gesetze gegossen. Vieles ist gelungen, nicht alles hat überdauert. Der Landtag hat Politik für das Land und seine Menschen gemacht, nach bestem Wissen und Gewissen. Auch das ist im Rückblick auf 60 Jahre ein Grund, stolz und ein wenig dankbar zu sein.
    JK

    ID: LIN01291

  • Wie alles anfing.
    Die Entstehung von Land und Landtag Nordrhein-Westfalen.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 9 in Ausgabe 1 - 18.01.2006

    Januar 1946: Viele Städte des heutigen Landes Nordrhein-Westfalen lagen in Schutt und Asche. Lebensmittel und Wohnraum waren knapp. Erste Unruhen brachen in der Bevölkerung aus. Ziel der Besatzungsmacht Großbritannien war es, möglichst schnell eine befriedigende Versorgung und eine funktionierende Verwaltung aufzubauen. Das Ergebnis war eine "britische Erfindung": Nordrhein- Westfalen. Über die Zeit zwischen Kriegsende und der Landesgründung sprach "Landtag intern" mit dem Historiker Dr. Wolfgang Gärtner. Er ist Leiter des Referates "Informationsdienste" der Landtagsverwaltung und Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Neueste Geschichte und Landesgeschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

    "Land aus der Retorte", "Bindestrich- Land": das sind zwei gängige Etikettierungen des nach dem 2. Weltkrieg neu entstandenen Landes Nordrhein- Westfalen. Wie ist es zu dieser Neugründung gekommen?

    Dr. Gärtner: Nach der Kapitulation des Deutschen Reiches hatten die Siegermächte Deutschland in vier Besatzungszonen eingeteilt. Die Territorien, die später das Land NRW bilden sollten, das nördliche Rheinland, Westfalen und Lippe, gehörten zusammen mit den späteren Ländern Niedersachsen und Schleswig-Holstein und der Hansestadt Hamburg zur Britischen Zone. Im Sommer 1946 wollten die Briten ihre Zone neu ordnen.Mit der Verordnung 46 vom 23. August 1946 schufen sie die Grundlage für die Auflösung Preußens und die Bildung neuer Länder.

    Und eines davon war Nordrhein-Westfalen?

    Dr. Gärtner: Ausgangspunkt der Überlegungen war zunächst das Schicksal des Ruhrgebietes, das in vielfacher Hinsicht eine besondere Rolle spielte. Es war der industrielle Kern im Westen, geprägt von Kohle und Stahl, und insofern für die gesamte wirtschaftliche Erholung der Zone von zentraler Bedeutung. Es galt zudem auch als die Rüstungsschmiede des Reiches, die auf Dauer unschädlich gemacht werden musste. Genau deshalb hatten auch andere Siegermächte ein großes Interesse an einem Zugriff auf das Ruhrgebiet, namentlich Frankreich und die Sowjetunion. Dies aber war nicht im Interesse der Briten, und sie konnten hier auf US-amerikanische Unterstützung zählen. Sie lösten das Problem, indem sie das Ruhrgebiet, das ja sowohl im Rheinland als auch in Westfalen liegt, mit einem landwirtschaftlichen Gürtel verklammerten. So kam dann die Gründung von NRW zustande. 1947 trat auf eigenen Wunsch noch das Land Lippe hinzu.

    Haben die Deutschen die Landesgründung von Anfang an begrüßt?

    Dr. Gärtner: Das kann man so nicht sagen. Zunächst einmal hatten die Menschen an Rhein und Ruhr im Jahr 1946 ganz andere Sorgen. Es ging ihnen vordringlich ums Überleben, um Wohnraum im ausgebombten Land, um das tägliche Brot, um Brennstoff. Mit Politik oder gar Ländergründungen befassten sich nur wenige, und bei denen war das neue Land durchaus umstritten. Nachdem die Entscheidung in London gefallen war, wurden die Führer der beiden großen Parteien zum Oberbefehlshaber nach Berlin einbestellt: Kurt Schumacher für die SPD und Konrad Adenauer für die CDU. Schumacher war vehement gegen ein Land Nordrhein-Westfalen. Die SPD befürwortete damals einen starken deutschen Zentralstaat. Ein so bevölkerungsstarkes Land mit großer wirtschaftlicher Potenz aber würde einem starken Zentralstaat entgegenstehen. Adenauer hingegen, der ja immer stark föderalistisch ausgerichtet war, sah in der Neugründung eine Chance.

    Und wie ging es dann weiter mit dem neuen Land?

    Dr. Gärtner: Als nächstes ernannten die Briten einen Ministerpräsidenten: die Wahl fiel auf den parteilosen Oberpräsidenten von Westfalen, Dr. Rudolf Amelunxen. Er wurde mit der Bildung eines Allparteienkabinetts beauftragt. Das gelang ihm aber nicht, weil die CDU eine stärkere Beteiligung forderte, als Amelunxen ihr zugestehen konnte. Die CDU machte daher zunächst nicht mit. Der nächste Schritt war die Ernennung eines Landtags. Die Briten berücksichtigten nur fünf Parteien: SPD, CDU, KPD, Zentrum und FDP. Die Stärkeverhältnisse wurden anhand von Wahlergebnissen von Anfang der 30er Jahre geschätzt. So kam es, dass die CDU im ersten Ernannten Landtag sehr zum Unwillen Adenauers klar hinter der SPD rangierte. Die Kommunalwahlen im Herbst zeigten dann, dass die CDU stärker war als die SPD, so dass die Briten noch Ende 1946 die Zusammensetzung des Landtags korrigierten. Nun machte auch die CDU im Kabinett mit. Der Ernannte Landtag trat am 2. Oktober 1946 im Düsseldorfer Opernhaus zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen.

    Bildunterschrift:
    Protest gegen Not und katastrophale Lebensverhältnisse: Hungerdemonstration Ende März 1947 im Düsseldorfer Hofgarten kurz vor der Landtagswahl. Es kam dabei zu Ausschreitungen. Britisches Militär griff ein.

    ID: LIN01301

  • Nordrhein-Westfalen: Ein junges Land wird 60 Jahre.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 10-11 in Ausgabe 1 - 18.01.2006

    DAMALS (1946/1950): Bevölkerung insgesamt 11.705.289, männlich 5.295.085, weiblich 6.410.204, Ausländer 111.085, Erwerbstätige 4.275.000, Schüler 1.844.711, Studierende 16.455, Anzahl der Hochschulen 6, Wohnungen 2.803.204, Wohnräume 10.277.810, Stundenlohn in der Industrie (Durchschnitt, umgerechnet in EUR) 0,49 EUR (männlich) 0,29 EUR (weiblich), Zahl der Kfz 184.659, davon Pkw 41. 164

    HEUTE (2004/2005): Bevölkerung insgesamt 18.075.352, männlich 8.803.255, weiblich 9.272.097, Ausländer 1.944.556, Erwerbstätige 7.401.000, Schüler 2.333.641, Studierende 458.339, Anzahl der Hochschulen 58, Wohnungen 8. 371.394, Wohnräume 36.155.735, Stundenlohn in der Industrie (Durchschnitt) 16,04 EUR (männlich) 12,23 EUR (weiblich), Zahl der Kfz 11.426.553, davon Pkw 9.733.822.

    ID: LIN01303

  • Am Rand und doch in der Mitte.
    Regionen stellen sich im Landtag vor: Ostwestfalen-Lippe macht den Anfang.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 12 in Ausgabe 1 - 18.01.2006

    Das Land Nordrhein-Westfalen besteht nicht nur aus Rheinländern und Westfalen. Da gibt es noch die Lipper. Sie wohnen in der Region, für die sich der Name Ostwestfalen-Lippe (OWL) eingebürgert hat; am äußersten nordöstlichen Rand in der Nachbarschaft zu Niedersachsen. Diesem Landesteil ist der erste parlamentarische Abend im neuen Jahr gewidmet. Damit beginnt der Landtag im Jubiläumsjahr 2006 die Veranstaltungsreihe "Begegnungen im Landtag", in der sich zehn Regionen des Landes vorstellen und ins öffentliche Bewusstsein (zurück-)rufen.
    Zwischen Gütersloh und Höxter, zwischen Warburg und Espelkamp leben gut zwei Millionen Menschen. Deckungsleich mit dem Regierungsbezirk Detmold umfasst OWL eine Fläche von 6.500 Quadratkilometern und damit ein Fünftel von NRW.
    Ernsthaft, aber mit hintergründigem Humor versehen, realistisch und nötigenfalls listig, strebsam und das Erworbene zusammenhaltend, der eigenen Geschichte bewusst und dem Neuen aufgeschlossen - das passt nicht nur für die Menschen in OWL, aber für sie besonders. Sie kümmern sich weniger um solche Klischees, sondern packen ihr Tagewerk an. Das ist und war nicht immer leicht. So findet sich in den "Lippischen Punktationen" von 1947, jenen Richtlinien für die Aufnahme des Landes Lippe in das Gebiet des Landes Nordrhein-Westfalen, der Passus: "Nordrhein-Westfalen erkennt in den Resten der lippischen Wanderarbeiter eine unsoziale Erscheinung. Es wird dazu beitragen, dass die Wanderarbeiter sesshaft werden."

    Gesundheit

    Armut, soziale Not, Arbeitsplatzmangel und wirtschaftliche Randständigkeit - mit diesen ungünstigen Bedingungen haben die Menschen in diesem Teil des Landes immer zu kämpfen gehabt. Diesen Kampf haben sie nie aufgegeben und letztendlich auch nicht verloren - kein Klischee, sondern ein Wesenszug, der OWL eint. Er hilft sicher auch den Bielefelder Arminen, in der ersten Fußball-Bundesliga zu bleiben.
    Überhaupt Sport und Freizeit: In OWL wird nicht nur gearbeitet, sondern auch entspannt. Bekannte Handballmannschaften mischen in der ersten Liga mit. In Halle findet sich die Tenniswelt zu international besetzten Turnieren zusammen. In Oerlinghausen liegt Nordrhein-Westfalens einzige und Europas größte Segelflugschule. Jeder zehnte Einwohner ist Mitglied eines Sportvereins.
    Besucher aus nah und fern haben die Qual der Wahl zwischen 170 Museen und Sammlungen. Sechs Millionen Übernachtungen zählten die Statistiker im Jahr 2004. Die Gäste blieben im Durchschnitt vier Tage. Wenig für eine Region, die das MARTa in Herford aufweist, wo in Bielefeld die Kunsthalle lockt, das Preußen- Museum in Minden an die Vergangenheit erinnert (nicht Lippes, denn Lippe war als Fürstentum und späterer Freistaat nie preußisch) und wo in Paderborn im kommenden Juli die Ausstellung "Canossa - Erschütterung der Welt" als Nachfolgerin der großen Karolingerausstellung des Jahres 1999 ihre Pforten öffnet.
    Landschaftlich und kulturell hat man eine Menge zu bieten. Wiehen- und Eggegebirge, der Teutoburger Wald mit Herrmann, dem Cherusker, die Externsteine, die Weser mit ihren Schlössern,Museen und Gärten, die Kurorte und Heil- und Staatsbäder, die Nordwestdeutsche Philharmonie, Lippische Landesbibliothek und Landestheater Detmold, um nur einige zu nennen. Gesundheitsregion (Herzzentrum Bad Oeynhausen), Modellregion für den Bürokratieabbau, Bildungsregion - all das ist OWL. Jüngst schaffte es die als Reformhochschule (Oberstufenkolleg, Laborschule) gegründete Universität Bielefeld, beim Ranking eines Nachrichtenmagazins mit Platz sechs unter die Top-Ten der 86 deutschen Universitäten aufzurücken.
    Die Namen bedeutender ostwestfälischer Firmen lesen sich wie das "Who is who" der großen Marken: Bertelsmann, inzwischen weit mehr als ein Buchclub, der Landmaschinenhersteller Claas, Dr. Oetker,Miele,Melitta, die Maschinenbauer Benteler und Gildemeister, die Modemarke Gerry Weber und dass Hightech- Unternehmen Wincor Nixdorf.
    Feine Hemden und Blusen tragen immer noch ein Bielefelder Etikett. Die Möbelindustrie in diesem Raum hat einen guten Namen und internationalen Ruf.Vorbei aber die Zeiten, dass in Bünde die meisten Zigarren Deutschlands gedreht und Kameras gebaut wurden. Jetzt werden dort mit Erfolg Gehäuse für Handys montiert. Die traditionelle Fahrrad- und Nähmaschinenindustrie ist weitgehend Geschichte. Die Brennöfen der Ziegelei in Lage sind längst abgestellt und Teil des Westfälischen Industriemuseums.
    Vom Wandel ist OWL nicht verschont geblieben, weder wirtschaftlich noch politisch. In der Mitte Europas gelegen, war das Gebiet, politisch und wirtschaftlich schwach, Zankapfel der Mächtigen. Napoleon wollte das Fürstentum zerschlagen. Aber die geschickte Politik der Fürstin Pauline ersparte Lippe dieses Schicksal.
    Später in der Weimarer Zeit wurde dann dennoch "wegen der außerordentlichen finanziellen Schwäche des lippischen Raumes" die Angliederung an Preußen erwogen. Doch die Preußen wollten den selbstbewussten Lippern keine Zusagen machen; dazu kam es dann erst 1947, ein Vierteljahrhundert später. Beide Male am Verhandlungstisch: Landespräsident Heinrich Drake. Erst sprach er mit den Preußen, dann redete er mit den Besatzern und den nordrhein- westfälischen Nachkriegspolitikern. Er holte für Lippe heraus, was herauszuholen war. Mit Geduld und Zähigkeit. Ein typischer Lipper eben.
    JK

    ID: LIN01304

  • Kompetenzerwerb mit vielen Seiten.
    Editorial / Kommentar / Blickpunkt;
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 2 in Ausgabe 14 - 21.12.2005

    Lesen macht schlau, Lesen entspannt, Lesen hält jung - das Loblied auf diese Kulturtechnik ließe sich weiter fortsetzen. Und wer nicht liest? Die Folgen kann man, wissenschaftlich erhärtet, an Untersuchungen wie Pisa und IGLU ablesen.
    Fragt man einen jungen Menschen, heißt es oft: Ein Buch - igittigitt! Es gibt doch andere, bequemere Formen der Unterhaltung, Entspannung und des Lernens. Wirklich? Mehr als 40 Prozent der bei Pisa repräsentativ befragten 15-Jährigen gaben an, niemals freiwillig zu lesen. Weder ein Buch, noch eine Zeitung oder eine Illustrierte. Dazu passt die aktuelle Notiz aus dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung: Deutschland liegt bei der Innovationsfähigkeit im Vergleich mit 13 Industrienationen nur auf dem sechsten Platz.
    An den Haaren herbeigezogen? Christoph Schäfer von der Stiftung Lesen preist Lesen als die "billigste und wirkungsvollste Bildungsinvestition".
    Pu - der Bär
    Niemand behauptet ernsthaft, gegen Leseunlust würde nichts getan. Eher eine Kleinigkeit, aber nicht zu unterschätzen: Prominente lesen Kindern aus ihrem Lieblingsbuch vor, wie jüngst Wirtschaftsministerin Christa Thoben an einem Düsseldorfer Gymnasium aus "Pu - der Bär". Die Bildungs- und Schulminister haben längst den Wert der Leseförderung erkannt und sie im Unterricht verankert.
    Die enge Zusammenarbeit zwischen Bibliothek und Schule ist ein Rezept, um die Leselust zu wecken oder zu fördern. Schon die Jüngsten lernen dort fast spielerisch den Umgang mit dem Buch - eine bleibende Erfahrung, wie sich gezeigt hat.
    Und die öffentlichen Bibliotheken? Sie sind Sache der Kommunen und damit auch deren Sparzwängen ausgeliefert. Das Land seinerseits fördert die Bibliothekenlandschaft, gründet Modellprojekte und unterstützt Initiativen.
    Aber Fortschritte sind nicht nur eine Frage des Geldes. Weniger Geld, aber mehr Besucher - das meldete vor einiger Zeit der Verband Deutscher Bibliotheken im Land. Steigerungen der Benutzer gibt es vor allem da, wo die Ausstattung mit Büchern und Medien auf dem neuesten Stand und wo die örtliche Bücherei besonders gut in ihrem Umfeld verankert ist.
    Die Aufholjagd hat begonnen. Bei der übernächsten Pisa-Untersuchung 2009 will NRW den Durchbruch schaffen. Ehrgeizig, aber realistisch.
    JK

    ID: LIN01255

  • Leseratten werden (meist) nicht geboren.
    Schule und Stadtbücherei wollen noch enger zusammenarbeiten.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 11 in Ausgabe 14 - 21.12.2005

    Lesen ist die wichtigste Schlüsselqualifikation in der Wissensvermittlung. Die Pisa-Studie des Jahres 2003 hat bewiesen, dass nordrhein-westfälische Schüler im Alter von 15 Jahren Nachholbedarf im Lesen haben. Innerhalb von drei Jahren konnten sich die Schüler aus NRW zwar verbessern, jedoch liegt das immer noch weit unter dem OECD-Durchschnitt. Auch die Studie zur Internationalen Grundschul- und Leseuntersuchung, kurz IGLU genannt, bescheinigt keine guten Ergebnisse. Hier liegt Nordrhein-Westfalen unter dem deutschen Mittelwert im Bereich Lesen - wenn auch noch über dem internationalen Durchschnitt.
    Kinder müssen so früh wie möglich durch Vorlesen und Erzählen gefördert werden. Nach Angaben des statistischen Bundesamtes ist die Zahl der Eltern, die ihren Kindern vorlesen, drastisch zurückgegangen: Etwa ein Drittel der Eltern mit Kindern im Vorund Grundschulalter lesen ihren Kindern regelmäßig vor. Die anderen zwei Drittel fördern ihre Kinder nicht durch regelmäßiges Vorlesen.
    Öffentliche Bibliotheken und Schulbüchereien können entscheidend dazu beitragen, dass Eltern und Kinder Freude am Vorlesen und Lesen bekommen. Im Rahmen der landesweiten Leseförderung hat das Land von 2002 bis 2004 gemeinsam mit der Bertelsmann Stiftung das Projekt "Medienpartner Bibliothek und Schule" verwirklicht: In 38 Kommunen haben die Bibliotheken und jeweils mindestens vier Schulen neue Formen der Zusammenarbeit erprobt. Alles in allem waren 213 Schulen beteiligt.
    Mit dem Projekt sollte die Kooperation von Bibliothek und Schule systematisch und langfristig verankert werden.Wegen des Erfolgs hat die Landesregierung zusammen mit dem Städtetag und dem Städte- und Gemeindebund des Landes im April dieses Jahres den Grundstein zur Landesinitiative "Bildungspartner NRW - Bibliothek und Schule" gelegt. Sie ist auf fünf Jahre angelegt. Die Initiative soll öffentliche Bibliotheken dabei unterstützen, sich den Schulen ihres Einzugsbereichs als Bildungspartner zu öffnen. Die Schulen sind aufgefordert, den "Medienpartner" Bibliothek in den Unterricht einzubeziehen.
    Neben anderen Projekten fördert das Land gezielt Bibliotheken, die Angebote zur vorschulischen Lese- und Sprachförderung machen.
    Rund 100 Bibliotheken wurden in den vergangenen zwei Jahren finanziell unterstützt. Die groß angelegte Aktion der öffentlichen Bibliotheken im vergangenen Jahr stieß auf große Resonanz: Ob unter der Überschrift "Li-La-leseleicht" oder mit der Frage "Bist du auch lesekalisch?" gelang es, mehr als 25.000 Vorschulkinder mit ihren Eltern sowie Erzieherinnen anzusprechen. Rund 440.000 Euro wurden für die vielfältigen Projekte ausgegeben. Das Land trug circa 240.000, für den Rest kamen die Kommunen auf.
    Unter den beteiligten Büchereien war unter anderem auch die Stadtbücherei Bochum. Waltraud Richartz-Malmede, die Verantwortliche der Stadtbücherei Bochum für das Projekt "Bis du auch lesekalisch", ist vom Sinn der Leseförderung überzeugt: "Das gemeinsame Betrachten von Bildern, die Weiterverarbeitung des Gehörten durch Erzählen, Malen und Spielen unterstützen die Entwicklung von Fantasie und Kreativität, fördern die Sprachfähigkeit, schulen Geduld, Ausdauer und Konzentrationsfähigkeit und motivieren zum Selberlesen." Gerade auch durch die persönliche Zuwendung beim Vorlesen würden Kindern positive Erlebnisse im Zusammenhang mit Büchern vermittelt.
    Die Bibliothekarin freut sich über die große Resonanz bei den Vorlesestunden. Für das neue Projekt "Bochum liest vor! - Vorlesenetzwerk für Bochum" engagieren sich über 90 Bochumer Bürgerinnen und Bürger als Vorlesepaten. Damit nicht genug: Durch zweisprachige Vorlesenachmittage will die Stadtbücherei gezielt Kinder aus Zuwandererfamilien fördern. Dennoch können Büchereien die familiäre Förderung nicht ersetzen, höchstens ergänzen, so Waltraud Richartz-Malmede.
    Allerdings machen die unvermeidlichen Sparmaßnahmen auch vor den Bibliotheken nicht halt. Im Jahr 2004 wurden siebzehn Standorte der kommunalen Bibliotheken geschlossen. Bei vier dieser Schließungen handelt es sich um Bücherbusse, das heißt also um mobile Bibliotheken. Also: Der Weg zur nächsten Bücherei wird länger.Auch an der Gebührenschraube wird da und dort gedreht.

    Zusatzinformation:
    Zahlen und Summen
    Auf das Land Nordrhein-Westfalen kommen etwa 580 kommunale Bibliotheken; 230 sind hauptamtlich besetzt und werden von ausgebildeten Bibliothekarinnen und Bibliothekaren geleitet. Außerdem gibt es an die 1.300 kirchliche Bibliotheken, wovon die meisten in katholischer Trägerschaft sind. Stadtbüchereien sind eine kommunale Aufgabe. Seit 1999 werden Landesmittel projektbezogen bereitgestellt.
    Kommunale Bibliotheken
    Jahre * Finanzielle Aufwendungen gesamt * davon Landesmittel
    2000 * 169.370.453 € * 2.590.232€
    2001 * 160.923.262€ * 2.641.559€
    2002 * 165.248.992 € * 2.112. 752€
    2003 * 180.971.940 € * 1.531. 240€
    2004 * 181 .900.537 € * 794.605


    ID: LIN01267

  • Kaiser, Klaus (CDU); Schäfer, Ute (SPD); Beer, Sigrid (Grüne); Pieper-von Heiden, Ingrid (FDP)
    Vorlesen als tägliches Ritual.
    Interviews mit den schulpolitischen Sprecherinnen und Sprechern.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 12-13 in Ausgabe 14 - 21.12.2005

    Lesen gehört zweifellos zu den Grundvoraussetzungen für Bildungserfolg. Wem als Kind oder Jugendlichen der Zugang zum geschriebenen Wort verwehrt bleibt, kann dieses Versäumnis oftmals ein Leben lang nicht aufholen. Die Pisa- und IGLU-Ergebnisse haben es gezeigt: Rund ein Viertel der Kinder und Jugendlichen in NRW haben erhebliche Mängel bei der Lesekompetenz.Wie Eltern, Schule und Politik dieser besorgniserregenden Entwicklung entgegenwirken können, darüber sprach "Landtag intern" mit Klaus Kaiser (CDU), Ute Schäfer (SPD), Sigrid Beer (GRÜNE) und Ingrid Pieper-von Heiden (FDP).
    Hat angesichts der Masse an elektronischen Medien das "gute Buch" als Weihnachtsgeschenk ausgedient?
    Kaiser:Wenn ich mich in meinem Bekanntenkreis umsehe, habe ich den Eindruck, das Buch ist aktueller denn je. Das Buch liegt wieder im Trend. Das gilt erfreulicherweise auch für meine Kinder, die Bücher gerne als Geschenk annehmen. Gerade im Hinblick auf die Pisa- und IGLU-Ergebnisse erscheint es mir wichtig, einen stärkeren Akzent auf die Leseförderung bei Kindern und Jugendlichen zu legen. Das beginnt bereits bei kleinen Kindern damit, dass ihnen von den Eltern vorgelesen wird. Gemeinsames Vorlesen schafft eine positive Grundstimmung und sorgt dafür, das Lesen von Anfang an als etwas Schönes wahrgenommen wird.
    Schäfer: Ich hoffe nicht. Es gibt ein wunderbares arabisches Sprichwort: "Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt." Ich kann Eltern, Jugendliche und Kinder nur dazu ermuntern, sich gegenseitig Bücher zu schenken. Ich glaube, dass das Buch niemals ausdienen wird. Ein Buch ist etwas, das ich in die Hand nehmen kann, das ich an einen Ort mitnehmen kann, an dem ich mich wohl fühle und mit dem ich mich lesend auf Phantasiereisen in andere Welten begeben kann. Beim Lesen entstehen eigene Bilder in meinem Kopf. Andere Medien, wie das Fernsehen zum Beispiel, geben diese Bilder schon vor.
    Beer: Nach meinen Erfahrungen ist das nicht so. Ich beteilige mich regelmäßig an Vorleseaktionen in Kinderbüchereien und Bibliotheken. Der Wert und die Bedeutsamkeit des Lesens ist gerade durch die aktuelle Diskussion um die Bildungspolitik wieder deutlich mehr in den Fokus der Menschen und insbesondere der Eltern gelangt. Ich habe den Eindruck, dass das Buch trotz der neuen Medien eine Renaissance erlebt. Gerade die Begeisterung der Kinder und Jugendlichen für Bücher wächst. Unser Ziel muss es sein, auch die Kinder an Bücher heranzuführen, die bisher über die Familie nicht oder nur wenig damit in Berührung gekommen sind. Hier nehmen Kindergarten und Schule eine ganz wichtige Rolle ein.
    Pieper-von Heiden: Das glaube ich nicht und ich erlebe es auch anders in meinem Umfeld. Allerdings ist es nicht bei allen Kindern gleichermaßen leicht, das Interesse für Bücher zu wecken. Eltern sollten die Tradition des regelmäßigen Vorlesens wieder aufgreifen - eine alte Tugend, die leider bei vielen Familien eingeschlafen ist. Dabei dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass Kinder mit Migrationshintergrund hier oftmals benachteiligt sind. Ihre Eltern sind vielfach nicht in der Lage, den Kindern in deutscher Sprache vorzulesen. Hier muss man andere Möglichkeiten finden, um die Lesefreude auch bei diesen Kindern zu wecken. Dazu gehören so begrüßenswerte Ansätze wie Lesepaten-Projekte, bei denen sich zum Beispiel Prominente bereit erklären, Kindern im Rahmen von öffentlichen Veranstaltungen vorzulesen.
    Wird in Nordrhein-Westfalen genug für die Leseförderung bei Kindern und Jugendlichen getan?
    Kaiser: Es gibt sicherlich eine Menge Möglichkeiten und bereits eine Vielzahl von Initiativen. Viele Einrichtungen haben die Förderung der Sprach- und Lesekompetenz als wichtiges und notwendiges Thema erkannt und in ihre Arbeit integriert. Das gilt sowohl für den vorschulischen und schulischen Bereich wie auch für außerschulische Angebote. Konkret bedeutet das: Leseförderung beginnt schon in den Kindergärten, indem den Kindern "Appetit" auf Bücher gemacht wird.Weiter geht es in den Grundschulen und Schulen, die neben der Leseförderung im Unterricht auch die Möglichkeit haben, den Schülerinnen und Schülern über eigene Schulbüchereien Bücher kostenlos zugänglich zu machen. Aber auch die öffentlichen Bibliotheken und Büchereien sind wichtige Kooperationspartner, wenn es darum geht, das Lesen bei Kindern und Jugendlichen durch zielgruppengerechte Projekte und Angebote zu fördern.
    Schäfer: Wir haben in den vergangenen Jahren in NRW viel angestoßen, insbesondere in den Kindertageseinrichtungen. Hier lernen die Kinder das Medium Buch bereits über Bilderbücher kennen. Zudem haben wir an den Grundschulen viele Lese- und Erzählwettbewerbe veranstaltet. Eine ganz besondere Aktion war "Bücherwurm NRW", bei der wir mit Kinderbuchautoren zusammengearbeitet haben. Die Resonanz an den Schulen war außerordentlich positiv. Unsere Kinder und Jugendlichen lesen und schreiben gern. Eins ist jedoch eine unabdingbare Voraussetzung für Lesebeigeisterung: Sie muss früh geweckt werden. Eltern müssen ihren Kindern vorlesen. Das Vorlesen ist der erste Zugang, den Kinder zu Büchern haben. Ich appelliere also nochmals an die Eltern, das Vorlesen zu einem täglichen Ritual zu machen, solange die Kinder noch nicht selbst lesen können.
    Beer: Bei der Leseförderung sind hierzulande bereits sehr starke Bemühungen spürbar. Trotzdem lässt sich die Förderung sicherlich noch weiter vorantreiben. Einige Schulen haben zum Beispiel Lesemütter und Lesegroßeltern in das Schulangebot integriert, die Vorlesestunden anbieten. Es geht darum - auch über die Grundschule hinaus -, Kinder an Bücher heranzuführen, sie für Bücher zu begeistern und vor allen Dingen auch deutlich zu machen, dass die eigene Fantasiewelt viel spannender sein kann als die, die ich auf der Mattscheibe erlebe. Was den Zugang zum Lesen betrifft, können wir uns an Finnland ein Beispiel nehmen. Wir sollten davon abweichen, die Kinder- und Jugendliteratur allzu voreilig in gute und schlechte Bücher einteilen zu wollen. Ich sehe beispielsweise kein Problem darin, wenn Kinder über Comics oder Sachbücher zum Lesen kommen. Auch das begeistert für das Lesen.
    Pieper-von Heiden: In diesem Bereich kann das Land noch mehr tun. Insbesondere die Grundschulen müssen wieder verstärkt den Schwerpunkt auf die Leseförderung setzen. In den Klassenzimmern muss einfach wieder mehr laut und in der Gruppe gelesen werden. Zudem müssen mehr Lesehausaufgaben gestellt werden. Nur so kann das Leseverständnis nachhaltig gefördert werden. Lesen ist die Grundlage für jedes schulische Handeln -, aber auch für den Erfolg im späteren Leben. Es gibt ganz viele Kinder, die beispielsweise naturwissenschaftlich besonders begabt sind, aber Defizite in der Sprach- und Lesekompetenz haben. Trotz ihres guten Fachwissens werden diese Kinder immer Probleme haben, sich gegenüber Mitschülerinnen und Mitschüler mit guter Sprachund Lesekompetenz aber vielleicht viel weniger Fachwissen behaupten zu können. Wenn Schule hier nicht korrigierend eingreift, bleiben diese Probleme mitunter bis ins Erwachsenenalter erhalten.
    Die Landesregierung will den Kulturetat in den nächsten fünf Jahren verdoppeln. Wie sollen die Stadtbüchereien und Bibliotheken davon profitieren?
    Kaiser: Wir müssen daran denken, dass Bibliotheken mit zur notwendigen Infrastruktur gehören. Das gilt insbesondere auch für den ländlichen Raum. Die Unterhaltung der Bibliotheken fällt zwar in den Aufgabenbereich der Kommunen, aber das Land kann sich aus der Förderung der Bibliotheken nicht vollkommen zurückziehen. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass künftig nicht nur Stadtbibliotheken sondern auch Büchereien, die sich in freier Trägerschaft wie zum Beispiel der Kirchen befinden, von einer Landesförderung profitieren. Zudem muss Förderung nicht zwangsläufig mit Geldausgeben verbunden sein, sondern kann auch im Rahmen von bürgerschaftlichem Engagement erfolgen. Beispielsweise könnten Schülerinnen und Schüler die Bücher, die sie ausgelesen haben und nicht mehr lesen wollen, der Bücherei ihrer Schule und damit nachfolgenden Schülergenerationen zur Verfügung stellen.
    Schäfer: Inwiefern die angekündigte Etatverdoppelung tatsächlich umgesetzt wird und wer davon profitiert, kann ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht beurteilen. Was aber die Bibliotheken angeht, möchte ich darauf hinweisen, dass die frühere Landesregierung gerade mit den Ganztagsgrundschulen viele Kooperationen angeregt hat. Diese Kooperationsmöglichkeiten zwischen Stadtbibliotheken und Schulen können sicher noch intensiviert werden. Leider ist in der Vergangenheit zu beobachten gewesen, dass viele Schulen ihre Schülerbüchereien vernachlässigt haben. In Ganztagsschulen müssen wir den Bereich der Ruheräume, der Leseecken und Schülerbibliotheken verstärkt fördern.
    Beer: Ich hoffe, dass es durch enge Kooperationen zwischen den bereits vorhandenen Stadtbibliotheken und den Schulen zu einem Ausbau der Schulbibliotheken kommt. Bibliotheken sollten zu Anlaufpunkten werden, wo die Kinder gerne hingehen, wo sie sich auskennen und wo sie mit speziell auf ihre Bedürfnisse und Interessen abgestimmten Angeboten angesprochen werden. Einige Bibliotheken machen das mit Aktionen wie Gespenstergeschichten- Lesenächten mit Übernachtung und anschließendem Frühstück bereits vor. So wird das Lesen zu einem ganzheitlichen Erlebnis. Eine Stärkung der Bibliotheken schafft die notwendige Infrastruktur für die Leseförderung. Damit würde auch Kindern und Jugendlichen aus sozial schwachen Familien der Zugang zum Medium Buch ermöglicht.
    Pieper-von Heiden: Ich hoffe natürlich, dass die Bibliotheken erheblich davon profitieren werden. Aus meiner eigenen Heimatkommune weiß ich, dass viele Bibliotheken große Überlebensschwierigkeiten haben. Es wäre daher wünschenswert, dass Mittel aus einem erhöhten Kulturetat in eine bessere personelle sowie materielle Ausstattung der Büchereien und Bibliotheken fließen. Das würde eine enorme Attraktivitätssteigerung für die Bibliotheken bedeuten. Wie in so vielen Bereichen werden wir aber auch hier künftig nicht auf ehrenamtliche Helferinnen und Helfer verzichten können - ganz im Gegenteil.

    Die Interviews führten Jürgen Knepper und Axel Bäumer.

    ID: LIN01268

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