Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. 1980 lebten noch knapp 45 Prozent der NRW-Bevölkerung in Großstädten, heute sind es nur noch rund 41 Prozent. Besonders im Ruhrgebiet kämpfen viele Städte gegen sinkende Einwohnerzahlen bei steigender Arbeitslosigkeit. Die Folge: Ganzen Stadtteilen droht Verödung durch Leerstände. Über Ursachen und mögliche Auswege sprach Landtag intern mit Dieter Hilser (SPD), Bernd Schulte (CDU), Karl Peter Brendel (FDP) und Dr. Thomas Rommelspacher (GRÜNE).
Hohe Arbeitslosenquoten, mehr Senioren und weniger Familien: Welche Richtung schlägt die städtebauliche Entwicklung in NRW in Zukunft ein?
Hilser: Im Wesentlichen ergeben sich aus der derzeitigen Situation drei Herausforderungen. Aufgrund der Veränderung der Demographie müssen wir etwas für die Urbanität in den Innenstädten tun. Außerdem müssen wir dafür sorgen, dass sich die Wohn- und Lebenssituation in den Siedlungsbereichen verbessert. Darüber hinaus müssen wir Strategien entwickeln, wie man dem Auseinanderdriften von sozial benachteiligten und sozial besser gestellten Stadtteilen entgegenwirken kann. Ein wichtiger Ansatz ist das bundesweit erfolgreiche Programm "Soziale Stadt", bei dem unterschiedliche Politikbereiche wie Bildungs-, Arbeitsmarkt-, Städtebau- und Sozialpolitik integriert an einer Problemlösung arbeiten. Zudem muss die Zusammenarbeit mit den Partnern in den Kommunen ausgebaut werden.
Schulte: Die Probleme sind vielschichtig: Die großen Städte schrumpfen, die ländlich strukturierten Kreise wachsen. Zudem erfährt die Alterspyramide einen dramatischen Wandel. Die Zahl der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen nimmt um etwa 25 Prozent ab. In gleicher Größenordnung steigt die Zahl der 65- bis 80-Jährigen. Die Zahl der über 85-Jährigen nimmt sogar um ein Drittel zu. Viele junge Familien sehen die Stadt nicht mehr als attraktiven und zukunftsorientierten Lebensraum an. Der so genannte Suburbanisierungsprozess ist in erster Linie geprägt von jungen Familien mit Kindern. Die Ursachen hierfür sind vielfältig: die Lebensqualität in den Städten, die Verkehrsverhältnisse, insbesondere aber auch die Lage in den Schulen. Darüber hinaus ziehen viele Familien ins ländliche Gebiet, um sich den Traum vom eigenen Haus zu verwirklichen, was in den Großstädten aufgrund der hohen Grundstückspreise und der Knappheit der Grundstücke oftmals nicht möglich ist.
Brendel: Die demographische Entwicklung in NRW verläuft nicht einheitlich. Aufgrund regionaler Unterschiede kann es darauf auch keine städtebaulich einheitliche Antwort geben. Beispiel Dortmund: Durch die Ausweisung von Baugebieten und die Ausweisung von Arbeitsplätzen in Bereichen, die nachgefragt werden, hat Dortmund eine vernünftige Antwort auf die Herausforderung gegeben. Das sieht in anderen Städten anders aus. Hier ziehen die Menschen weg, weil ihre Erwartungen nicht erfüllt werden. Dazu gehören zum Beispiel Familien, die auf der Suche nach qualitativ hochwertigem Wohnraum im städtischen Bereich oft nicht fündig werden. Darüber hinaus geht die demographische Entwicklung auch am ländlichen Raum nicht spurlos vorüber. Wenn man sich große Flächengemeinden anguckt, dann finden sich immer mehr Ortsteile, in denen der Altersdurchschnitt der Bevölkerung über 60 Jahren liegt. Das wiederum wirkt sich auf die Infrastruktur aus. Wir kennen aus NRW Gemeinden, da liegen die Einschulungszahlen für Grundschulen bei vier Kindern. Hier bedarf es einer gründlichen Umplanung.
Dr. Rommelspacher: Das läuft höchst differenziert. Relativ gut laufen wird es in den nächsten 20 Jahren im Rheinischen. Schwieriger wird es im Bergischen und für das Ruhrgebiet. Hier schrumpfen die Städte mitunter massiv, während Städte wie Münster, Bielefeld und Paderborn eher wachsen. Was die Stadtzentren betrifft, schrumpfen alle Städte in NRW. Wenn Städte wachsen, dann im Umland. Dafür gibt es primär zwei Gründe: Die Suburbanisierung, angeheizt durch Kilometerpauschale, Eigenheimzulage und schlechte Wohnverhältnisse in den Städten sowie das Altern der Gesellschaft. Und beides zusammen schaukelt sich beispielsweise im Ruhrgebiet hoch.
Wie hilft das Land den Kommunen in Zeiten leerer Kassen? Welche städtebaulichen Instrumente haben sich bewährt und welche müssen gekippt werden?
Hilser: Ich glaube, dass man auf ein Instrument wie zum Beispiel den Grundstücksfonds in absehbarer Zeit nicht verzichten kann. Allerdings muss er mit Blick auf die Finanzsituation sicherlich anders ausgestaltet werden. Es wird nicht mehr gehen, dass man Grundstücke kauft, entwickelt und darauf hofft, dass man sie dann irgendwann wieder verkaufen kann. Stattdessen muss man dazu übergehen, die Entwicklung und den Verkauf von Flächen Dritten zu überlassen. Das wäre der richtige Weg, um der derzeitigen Finanzsituation Rechnung zu tragen.
Schulte: Es gibt mit Sicherheit kein kurzfristiges Patentrezept, dafür sind die Verhältnisse der demographischen, sozialen und ethnischen Entmischungsprozesse in einigen Städten beziehungsweise Stadtteilen schon zu weit fortgeschritten. Trotzdem gibt es natürlich Maßnahmen, die zu einer allmählichen Entspannung der Situation beitragen könnten. Ich denke da beispielsweise an die Abschaffung von längst überholten Gesetzesregelungen wie das Zweckentfremdungsverbot oder das Fehlbelegungsrecht. Darüber hinaus gleicht die Hilfe für die Kommunen aufgrund der zur Verfügung stehenden Finanzmasse oftmals nur einem Tropfen auf den heißen Stein.
Brendel: Antworten auf die Probleme in Städten und Gemeinden lassen sich in vielen Fällen in Zusammenarbeit mit der Wohnungswirtschaft durch eine veränderte Planung herbeiführen. Dafür brauche ich zunächst einmal nicht zwingend Geld in die Hand zu nehmen. Das Land gibt immer noch Geld für Projekte aus, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt sind. Im Bereich des Programms "Soziale Stadt" investiert das Land teilweise große Summen in Wohnquartiere, die einfach nicht mehr zu retten sind. Hier ließen sich Mittel einsparen, ohne dass sich im Ergebnis etwas verändern würde. Und die frei gesetzten Mittel könnten dann wiederum sinnvoll an anderer Stelle eingesetzt werden.
Dr. Rommelspacher: Es wurde ja gerade auf Bundesebene eine Städtebaureform "im Kleinen" vollzogen. Dadurch gibt es so genannte Stadtumbaugebiete, eine milde Form der Stadtsanierung. Gewisse Instrumente wurden geschaffen, was fehlt, ist Geld. Die zirka 30 Millionen Euro, die wir in NRW jährlich für den Stadtumbau West zur Verfügung haben, sind viel zu wenig. Von daher brauchen wir dringend eine Gemeindefinanzreform. Aus meiner Sicht ist es ein bitterer Rückschlag, dass es dem Bund nicht gelungen ist, diese Reform auf den Weg zu bringen. Das Land NRW ist nicht in der Lage, gegen die Missstände alleine anzufinanzieren.
Vielen Städten in NRW droht die große Leere. Mangelt es ihnen an Attraktivität? Wie lässt sich die Abwanderung ins ländliche Umland stoppen?
Hilser: Die uferlose Ausweisung von dauernd neuem Bauland wird diese Entwicklung nicht stoppen. Einerseits schafft man dadurch zwar neue Wohnmöglichkeiten, andererseits wird jedoch die Wohnqualität verschlechtert, da immer mehr Grünflächen verbaut werden. Das Land zielt stattdessen verstärkt darauf ab, innenstadtnahe Brachflächen zu entwickeln, um die Infrastruktur in den Innenstädten zu erhalten und qualitativ zu sichern. Gerade für junge Familien ist nicht nur die Frage wichtig, wo lebe ich, sondern was für infrastrukturelle Angebote habe ich wie Kindertagesstätten, Schulen und Sportvereine. Mittlerweile beobachten wir aber auch eine Entwicklung, die künftig sicherlich noch an Bedeutung zunehmen wird: Ältere Menschen ziehen vermehrt in die Städte zurück. Grund hierfür sind die oftmals unzureichenden Infrastrukturangebote im ländlichen Raum, wo es mitunter ganze Landstriche ohne Arzt und Apotheker gibt.
Schulte: Wenn man die Städte als Lebensraum interessant halten will, muss man ermöglichen, dass junge Familien dort wieder verstärkt ihre Zukunft sehen. Das bedeutet zum Beispiel, dass in den Städten Bauland zu erschwinglichen Preisen ausgewiesen werden muss, damit junge Familien die Möglichkeit haben, ein Reihenhaus, ein Doppelhaus oder auch Eigentum in einem Geschossgebäude zu erwerben. Wir werden in absehbarer Zeit zwischen den Kommunen einen ähnlichen Wettbewerb um junge Familien erleben, wie es jetzt schon einen Wettbewerb um Arbeitsplätze gibt.
Brendel: Die Attraktivität einer Stadt entwickelt sich aus der Stadt heraus. Und das ist etwas, was die Kommunalpolitik vor Ort leisten muss. Attraktivitätssteigerung setzt voraus, dass die Stadt erkennt, was ihre Stärken sind und womit sie die Menschen an sich binden kann. Das sind natürlich Arbeitsplätze, das sind aber auch Fragen des Wohnumfeldes. Wenn das alles nicht stimmt, kann ich die Menschen auch durch Imagekampagnen nicht davon abbringen, wegzuziehen.
Dr. Rommelspacher: Das Altern wie auch die Suburbanisierung gibt es in allen entwickelten Industriegesellschaften. Wir, die Gesellschaft, können aber diese Prozesse gestalten. So belegen zum Beispiel Studien, dass rund ein Viertel der Menschen, die aus den Städten wegziehen, zurückgehalten werden könnte. Sie verlassen die Städte nicht, weil es sie ins Grüne zieht, sondern weil sie nicht die passende Wohnung finden, oder das Umfeld nicht stimmt. Abfangen kann man diesen Prozess durch den Abbau so genannter Pull-Faktoren, sprich Eigenheimzulage und Kilometerpauschale, sowie Push-Faktoren. Das sind zum Beispiel das hohe Verkehrsaufkommen, hohe Mieten und schlechte Infrastrukturen. Wichtig ist jedoch, dass die Probleme vor Ort in den Stadtteilen maßgeschneidert angegangen werden. Und zwar in Kooperation von Gemeinde, Wohnungsunternehmen und Bürgern. Mit pauschalen Lösungen kommen wir nicht weiter.
Die Interviews führten Stephanie Hajdamowicz und Axel Bäumer.
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