"Mehr Demokratie wagen!" - diese einst von Willy Brandt formulierte Forderung ist auch in NRW nicht ohne Folgen geblieben. Mit der Kommunalverfassungsreform im Jahre 1994 sind direkt-demokratische Beteiligungsformen wie das Bürgerbegehren und der Bürgerentscheid in die Gemeindeordnung aufgenommen worden. Heute - zehn Jahre danach - ist es Zeit, Bilanz zu ziehen. Landtag intern sprach mit den kommunalpolitischen Sprechern des Landtags: Ralf Jäger (SPD), Franz-Josef Britz (CDU), Dr. Ingo Wolf (FDP) und Ewald Groth (GRÜNE).
Direkte Demokratie in NRW wagen. Führt das zu Kompetenzverlusten des Landtags?
Jäger: Nein, natürlich nicht. Der Wunsch ist da, mehr plebiszitäre Elemente in die Entscheidungsprozesse zu integrieren. Nehmen wir das Beispiel Jugendfördergesetz: Hier ist eine breite Bewegung erkennbar gewesen, die sich auch auf den Landtag ausgewirkt hat. Die Volksinitiative zu diesem Thema hat gezeigt, dass ein Parlament auf so eine Bewegung reagiert, sich mit dem Thema erneut befasst und zum Teil - wie bei dem erwähnten Beispiel - auch zu neuen Ergebnissen kommt. So werden wir noch vor der Sommerpause einen entsprechenden Gesetzentwurf einbringen, der eine Stabilisierung der Finanzen bei der Jugendarbeit vorsieht. Der Vorteil von plebiszitären Elementen liegt auf der Hand: Die Politik erhält Anstöße von außen. Mit Kompetenzverlust hat das nichts zu tun.
Britz: Ich glaube nicht, dass damit Kompetenzverluste verbunden sind. Ich sehe dadurch eher eine Stärkung der Qualität der Entscheidungen des Landtags gegeben. Das bedeutet, dass wir Politiker in stärkerem Maße auf Themen eingehen müssen, die in der Bevölkerung aktuell diskutiert werden und beispielsweise im Rahmen einer Volksinitiative an den Landtag herangetragen werden. Dadurch steigt die Aktualität dessen, was wir tun. Es steigt aber auch die Verpflichtung, uns mit den Themen auseinanderzusetzen, die die Bürgerinnen und Bürger bewegen. Die Kompetenz bleibt aber selbstverständlich beim Landtag.
Dr. Wolf: Ich glaube, dass das nicht der Fall ist. Die repräsentative Demokratie muss natürlich der Ausgangspunkt für unsere politische Arbeit sein. Aber es ist wichtig, in den entscheidenden Punkten der politischen Auseinandersetzung und des politischen Zusammenlebens die Bürgerinnen und Bürger mitentscheiden zu lassen. Wir erleben das in der aktuellen Diskussion auf europäischer Ebene, wo wir als FDP - wie drei Viertel der Bevölkerung - sagen: Über eine Verfassung in Europa muss abgestimmt werden. Wir haben zudem die Forderung aufgestellt,dass über denBundespräsidenten das Volk direkt bestimmen sollte. Und wir sind der Auffassung, dass man auch auf Landesebene den Bürgerinnen und Bürgern in vielen Punkten mehr Mitspracherechte einräumen sollte. Insgesamt dürfen wir auf den verschiedenen Ebenen durchaus etwas mutiger sein.
Groth: Das glaube ich nicht. Der wichtigste Teil dieses Bereichs ist sowieso das Bürgerbegehren und der Bürgerentscheid auf kommunaler Ebene, wo der Landtag überhaupt nicht betroffen ist. Aber auch bei der Volksinitiative oder beim Volksbegehren habe ich nicht den Eindruck, dass wichtige Kompetenzen des Landesparlaments verletzt werden. Im Gegenteil: Ich empfinde es als eine wohltuende und wichtige Ergänzung, dass ein plebiszitäres Element eingeführt oder verstärkt wird. In dem jetzigen Verfahren geht es darum, das Zu-Stande-Kommen einer Volksinitiative deutlich zu erleichtern. Konkret bedeutet das: freie Listensammlung, runter mit den Kosten und weniger Bürokratie.
Bürgerinnen und Bürger bestimmen mit. Mehr Informationen, weniger Politikverdrossenheit?
Jäger: Ich bin da immer zwiespältig. Wenn man die Wahlbeteiligung bei Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden betrachtet, dann stellt man fest, dass sich im Wesentlichen nur diejenigen daran beteiligen, die glauben, in irgendeiner Weise betroffen zu sein, während diejenigen, die das Thema nicht interessiert oder unmittelbar betrifft, sich an solchen Verfahren in der Regel auch nicht beteiligen. Das ist die Schwäche eines Bürgerbegehrens. In dem Fall ist es nicht die Artikulation eines Volkswillens, sondern von Partikularinteressen. Andererseits: Die Tatsache, dass Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit haben, die Politik dazu zu bewegen, sich mit einem bestimmten Sachverhalt erneut auseinanderzusetzen, kann der Politikverdrossenheit entgegenwirken.
Britz: Das hängt damit zusammen, wie die Sache letztendlich ausgeht. Viele Bürgerinnen und Bürger empfinden es vielleicht schon als zufrieden stellend, ihre Anliegen auf politischer Ebene einbringen zu können. Der entscheidende Punkt ist jedoch, ob und wieweit das Anliegen umgesetzt werden kann. Hier ist der Landtag gehalten, seine Entscheidungen erneut zu überdenken, den Bürgerinnen und Bürgern gegenüber Rechenschaft abzulegen und gegebenenfalls seine bisherige Haltung zu revidieren. Zudem kommt es entscheidend darauf an, dass die Verfahren einfach und unbürokratisch sind. Wir haben ja bei der jüngsten Volksinitiative zum Thema Jugendarbeit erlebt, dass diese in manchen Bereichen noch viel zu kompliziert sind. Das muss vereinfacht werden.
Dr. Wolf: Direkte Bürgerbeteiligung ist ein absolut wichtiger Punkt, um Politikverdrossenheit entgegenzutreten. Dabei ist es wichtig, dass auch klar herauskommt, worüber abgestimmt wird. Das heißt, die Thematik muss fassbar sein. Wir erleben ja nicht selten, dass die Beteiligung an Abstimmungen durchaus zu wünschen übrig lässt. Man darf daraus jedoch nicht den Schluss ziehen, dass wir künftig so etwas nicht mehr anbieten. Vielmehr geht es darum, Angebote zu verbessern, Angebote attraktiver zu machen und darum zu werben, dass sich die Bürgerinnen und Bürger tatsächlich an den Abstimmungen beteiligen. Das ist der richtige Weg.
Groth: Das ist zu hoffen. Man muss jedoch darauf achten, dass plebiszitäre Instrumente nicht wieder zu neuer Verdrossenheit führen. Ein Beispiel ist der Kostendeckungsvorschlag: Der führt vielfach dazu, dass Bürgerentscheide vom Rat gar nicht erst zugelassen werden. Das muss man abschaffen. Denn das ist eine Hürde, die Bürgerinnen und Bürger oftmals gar nicht nehmen können, weil ihnen dafür die nötigen Kenntnisse fehlen. Andere Gemeindeordnungen in der Bundesrepublik - zum Beispiel in Bayern - kennen so etwas auch nicht. Hier haben wir uns aber bislang noch nicht durchsetzen können. Rot-Grün ist jedoch im Begriff, eine neue Verordnung auf den Weg zu bringen: Da wird erstens drinstehen, dass künftig alle Bürgerinnen und Bürger schriftlich über anstehende Bürgerentscheide informiert werden. Zum zweiten wird es die Möglichkeit zur schriftlichen Abstimmung geben, so dass auch Alte, Kranke und Behinderte mitentscheiden können. Drittens wird eine Mindestzahl von Wahllokalen vorgeschrieben und viertens wird die Gemeinde verpflichtet, die Bürgerinnen und Bürger über den abzustimmenden Gegenstand inhaltlich aufzuklären. Das sind vier wichtige Punkte, die den Bürgerentscheid nochmals aufpeppen werden.
In welchen Bereichen sollen die Menschen in NRW künftig mitentscheiden und wo nicht?
Jäger: Grenzen muss es da geben, wo Partikularinteressen artikuliert werden, aber das Gemeinwohl tangiert ist. Erstes Beispiel: Wenn es um die Finanzierbarkeit von Vorhaben geht. Bürgerbegehren müssen da Grenzen finden, wo in das Haushaltsrechts des Parlaments beziehungsweise des Rats eingegriffen wird und wo diejenigen, die ein bestimmtes Anliegen verfolgen, nicht artikulieren können, wie es zu finanzieren ist. Das Zweite ist der Bereich Planungsverfahren: Über einen Autobahnbau, der beispielsweise die Stadt Duisburg tangiert, kann nicht nur in Duisburg in Form eines Bürgerbegehrens abgestimmt werden. Hierbei geht es gleichzeitig um Gemeinwohlinteressen wie Mobilität, Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes oder Erschließung von Randgebieten zur Großstadt hin. Auch bei solch übergeordneten Interessen muss ein Bürgerbegehren wiederum seine Grenzen finden.
Britz: Bisher haben wir über Möglichkeiten gesprochen, Themen zu benennen und zur Diskussion anzuregen. Der andere Strang der Mitentscheidung existiert ja mit dem Volksbegehren und dem Volksentscheid ohnehin, auch wenn in NRW selten bzw. gar nicht davon Gebrauch gemacht worden ist. Diese Instrumente sollte man auch nicht inflationär anwenden. Bei vielen Themen reicht es schon aus, dass der Landtag sich nochmals damit befasst. Dann gibt es Themen, wo es sich anbietet, die Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung bis zur letzten Stufe - dem Volksentscheid - zu nutzen. Allein die Androhung von Volksentscheiden hat ja oftmals schon zu Veränderungen der Politik geführt. Gleiches gilt für Bürgerbegehren auf kommunaler Ebene, die häufig gar nicht erst den Weg zum Bürgerentscheid finden, weil die Politik auf die Forderungen bereits eingegangen ist. Das Bürgerbegehren hat also eine Präventivwirkung. Insgesamt halte ich viel von Anregungen und offener Diskussion. Aber es gibt Themen wie zum Beispiel aus dem Bereich Haushalt und Finanzen, wo direkte Bürgerbeteiligung ihre Grenzen finden sollte.
Dr. Wolf: Vor allem auf kommunaler Ebene muss es mehr Bürgerbeteiligung geben. Deshalb streben wir Liberale insbesondere beim Bürgerbegehren eine thematische Erweiterung an. Das war auch Teil unseres Gesetzentwurfes zur Änderung der Gemeindeordnung, der leider abgelehnt worden ist. Demnach sollte unter anderem über Bebauungspläne mitbestimmt werden können. Das ist ja etwas, was die Bürgerinnen und Bürger ganz hautnah berührt, wenn in ihrer Kommune festgelegt wird, in welcher Art und Weise die Bebauung ihres Umfelds erfolgen soll. Auch über mögliche Gebietsänderungen, wie etwa Zusammenschlüsse zwischen Kommunen und Kreisen, sollten die Bürgerinnen und Bürger mitentscheiden. So etwas muss von der Bevölkerung letztendlich mitgetragen werden. Andererseits ist völlig klar, dass es immer Bereiche wie die Finanzhoheit der Parlamente geben wird, die auch weiterhin nicht zur Diskussion stehen. Das ist selbstverständlich und unstreitig repräsentative Demokratie pur.
Groth: Sicherlich werden sie nicht bei der endgültigen Haushaltsaufstellung in der Kommune mitentscheiden. Das muss weiterhin den Repräsentanten vorbehalten bleiben. Wobei wir in NRW auch in dem Bereich bereits Schritte hin zu mehr Bürgerbeteiligung gemacht haben - nicht bei der Beschlussfassung, sondern beim Aufstellungsverfahren. Es gibt ein Modellprojekt, wo es um den so genannten "Bürgerhaushalt" geht. Aber auch in anderen Bereichen, wie bei der Bauleitplanung, halte ich eine direkte Bürgerbeteiligung für wünschenswert.
Die Gespräche führten Stephanie Hajdamowicz und Axel Bäumer
Systematik: 1070 Politische Kräfte; 1080 Wahlen; 1230 Kommunale Angelegenheiten
ID: LIN00517