22. Mai 2014 - In einer umfassenden Expertenanhörung haben zahlreiche Sachverständige
zum Thema Ärztemangel in ländlichen NRW-Regionen Stellungnahmen und Einschätzungen
abgegeben. Unter anderem ging es dabei um die Fragen, wie man die hausärztliche Versorgung
in ländlichen Regionen sicherstellen und den Beruf attraktiver machen könne. Der Anhörung
zugrunde lagen ein Antrag der CDU-Fraktion sowie ein Entschließungsantrag von SPD und
GRÜNEN.
Bezüglich einer allgemeinen Einschätzung
waren sich die Sachverständigen nicht ganz
einig. "Der Mangel ist da", sagte etwa Ansgar
von der Osten von der Kassenärztlichen Vereinigung
Westfalen-Lippe. Dirk Ruiss vom
Verband der Ersatzkassen dagegen sah keinen
direkten Ärztemangel und warnte davor, in
Hysterie zu verfallen. Differenzierter sahen es
die meisten Sachverständigen: Mit Blick auf
den demografischen Wandel werde sich das
Problem verschärfen. Es betreffe aber weniger
Fachärztinnen und -ärzte und weniger das
ärztliche Krankenhauspersonal als vielmehr
den Hausarzt, und diesen vor allem in ländlichen
Regionen. Weil man aber nicht mehr
auf einen "Speckgürtel an Krankenhäusern"
(von der Osten) zurückgreifen könne, es also
auch dort nicht mehr übermäßig viele fachärztliche
Kräfte gebe, fehlten perspektivisch
auch Fachärzte, die eine Grundversorgung
mitübernehmen könnten. Und für kleine Orte
gelte: Wo der Hausarzt fehle, fehle der Facharzt
erst recht, gab Dr. Theodor Windhorst von der
Ärztekammer Westfalen-Lippe zu bedenken.
"Wir haben keinen Arzt-Kopf-Mangel,
sondern einen Arzt-Zeit-Mangel", konkretisierte
Bernd Zimmer von der Ärztekammer
Nordrhein. 50 bis 60 Wochenstunden und bei
Bedarf noch drei Bereitschaftsdienste - dazu sei
der medizinische Nachwuchs nicht mehr bereit.
Wie auch immer: Demografiebedingt sei mehr
Hausarzt-Zeit nicht mittelfristig notwendig,
sondern übermorgen, betonte Wolfgang Meunier
vom Deutschen Hausärzteverband.
Insgesamt bewertete Windhorst die landespolitischen
Bemühungen als ausgesprochen
positiv. Ruiss unterstrich: In keinem
anderen Bundesland gebe es vergleichbare
Initiativen wie das Aktionsprogramm "Hausärztliche
Versorgung" - allerdings gebe es auch
nirgendwo ein Patentrezept.
1. Stellschraube: Ausbildung
Um mehr junge Menschen für den Beruf der
Hausärztin oder des Hausarztes zu begeistern,
müsse man an den Hochschulen ansetzen,
meinten einige Sachverständige. Viele forderten,
die Zahl der entsprechenden Studienplätze
zu erhöhen. Meunier ergänzte, wacklige
Stiftungslehrstühle nutzten dabei überhaupt
nichts; notwendig seien genügend Lehrstühle
im ganzen Land. Gerade das Fach Allgemeinmedizin
dürfe nicht nur singulär, sondern
müsse an allen medizinischen Fakultäten angeboten
werden, forderte Thomas May vom
Wissenschaftsrat. Da im Raum Ostwestfalen-
Lippe (OWL) der drohende Ärztemangel besonders
hoch sei, hielt Dr. Thomas Krössin
vom Zentrum für Innovation in der Gesundheitswirtschaft
OWL es für besonders wichtig,
vor Ort auszubilden. Er lobte eine entsprechende
Kooperation mit der Universität
Bochum, denn dezentrale Strukturen hätten
einen Klebeeffekt: Bei sechs Jahren Studium
plus ggf. Promotion plus fachärztlicher Ausbildung
komme man leicht auf 15 Jahre - eine
Zeit, in der Menschen Wurzeln schlügen und
dann auch eher bereit seien, in der Region zu
bleiben.
2. Stellschraube: Unterstützung
Die Situation sei in Krankenhäusern deshalb
weniger dramatisch als bei niedergelassenen
Ärzten, weil sich Kliniken ganz gezielt ärztliches
Personal aus dem Ausland zur Unterstützung
holten, erklärte Windhorst. Jedoch
wandte Meunier ein, dass diese Ärztinnen und
Ärzte in ihrer Heimat ebenso gebraucht würden.
Ein rumänischer Arzt, der daheim pro
Patient einen Euro verdiene und einmal nach
Deutschland gekommen sei, gehe allerdings verständlicherweise nur ungern zurück. Auch
wegen Sprachbarrieren sah er in einer Kompensation
der Ärztelücke durch ausländische
Kräfte keine Lösung.
3. Stellschraube: Attraktivität
Was kann Jungmedizinerinnen und -mediziner
überzeugen, sich mit einer Hausarztpraxis
niederzulassen? Um diese zentrale Frage
drehte sich die Diskussion immer wieder. "Das
Honorar ist okay", meinte der Kölner Hausarzt
Dr. Axel Kottmann ebenso wie Ruiss. Vielfach
wurde auch das Aktionsprogramm "Hausärztliche
Versorgung" der Landesregierung gelobt.
Dieses stellt denen, die sich als Hausärzte im
ländlichen Raum niederlassen, 50.000 Euro
Förderung in Aussicht und fördert daneben
auch Weiterbildungen. Aber: "Wenn Sie jemanden
wie mir, um die 50, mit Frau und
Kindern, 50.000 Euro in die Hand drücken,
werden Sie ihn niemals zum Wohnortwechsel
bewegen", stellte Kottmann klar. Auch Zimmer
meinte, die Niederlassung an einem Ort sei
eine lebenslange Entscheidung, sie trage doppelt
so lange wie eine durchschnittliche Ehe.
Man entscheide sich mit einer Praxisniederlassung
zugleich, dort alt zu werden.
Eine andere finanzielle Frage sei aber
schon relevant, gab Kottmann zu bedenken:
Für junge Ärzte sei die Selbstständigkeit absolut
unattraktiv. "Ich nehme nicht 100.000 Euro
in die Hand und gucke dann, was passiert."
Rolle der Kommunen
Einige Sachverständige sahen Chancen, dass
die Kommunen daran mitwirken könnten,
Hausärztinnen und -ärzte zu überzeugen, sich
bei ihnen vor Ort niederzulassen. Von der Osten
etwa sprach davon, dass die Kassenärztliche
Vereinigung entsprechende Medizinerinnen
und Mediziner in puncto Niederlassung intensiv
berieten, aber erst in einem Gesamtpaket
gemeinsam mit der Kommune die besten
Erfolge erziele. Stellschrauben der Kommunen
sah er in Angeboten für Kinderbetreuung oder
der Frage, ob Praxisräume zur Verfügung gestellt
werden könnten. Windhorst sprach von
einer gezielten Willkommenskultur, die seitens
der Kommune gegenüber dem ärztlichen
Nachwuchs notwendig sei. Ebenso wichtig sei
es bei solchen Lebensentscheidungen, dass
zum Beispiel für die Kinder alle weiterführenden
Schulen zur Verfügung stünden, ergänzte
Meunier. Allein diese Faktoren, meinte Dr.
Anne Bunte vom Gesundheitsamt Köln, könnten
es aber auch nicht richten: Köln gelte als
attraktiv für junge Familien, habe alle relevanten
Standortfaktoren - und trotzdem gebe es
in manchen Stadtteilen Nachbesetzungsprobleme.
Kommunen müssten maßgeschneiderte Profile für den Einzelfall anbieten, forderte
Zimmer. Auch die Lebenspartnerin oder der
Lebenspartner müsse mitbedacht werden und
in der Kommune eine Zukunft haben: "Es
kann nicht sein, dass einer in Münster und einer
in Düsseldorf arbeiten muss."
Die Gewährleistungsverantwortung für
eine ausreichende ärztliche Versorgung liege
bei der Kassenärztlichen Vereinigung und solle
auch da bleiben, betonte Dr. Kai Zentara, der
für die Kommunalen Spitzenverbände sprach.
Wo immer möglich, würden Kommunen gern
ergänzend tätig, aber das habe Grenzen: Eine
Gewährung von geldwerten Vorteilen sah er
kritisch. Denn ein solcher Wettbewerb unter
den Kommunen bringe alle in Zugzwang und
treibe die Preise für die - selbst klammen -
Kommunen hoch.
Entlastung
Ein weiterer Ansatzpunkt, um hausärztliches
Personal zu finden und den Beruf attraktiver
zu machen, bezog sich auf Entlastungsmöglichkeiten
im Arztberuf. Immer wieder sprachen
Sachverständige die Möglichkeit an, bestimmte
Handlungen an anderes qualifiziertes
medizinisches Personal zu delegieren. Allerdings
problematisierte beispielsweise Dr. Peter
Potthoff von der Kassenärztlichen Vereinigung
Nordrhein, dass man zwar viele Versorgungsassistenten
ausgebildet habe, sie aber nur in
unterversorgten Gebieten einsetzen dürfe. Da
die Definition von "unterversorgt" einen erheblichen
Aufwand bedeute, forderte er, diese
Beschränkung aufzuheben. Ruiss plädierte für
eine Landesförderung bezüglich arztentlastender
Tätigkeiten. Generell kranke es nicht
an Ideen auf diesem Gebiet, sondern an einer
zögerlichen bis ausbleibenden Umsetzung,
meinte Meunier.
Arbeitszeit
Zu den Dienstzeiten erklärte der
Ärztevertreter: Vor allem die häufigen
Bereitschaftsdienste seien
es, die junge Menschen vom
Hausarztberuf abschreckten.
Windhorst hingegen hielt
die Zeiten dank der Notfalldienstregelungen
für relativ
geregelt. Auch Kottmann
bestätigte, die Honorarverordnung
lasse es zu, Dienstzeiten
zu verkürzen und -
Beispiel Gemeinschaftspraxis
- trotzdem annähernd gleichviel
zu verdienen. Den Arbeitszeitmangel
bekämen dann allerdings
die Patientinnen und Patienten zu spüren,
verwies er auf lange Wartezeiten.
Vor dem Hintergrund, dass die Zukunft des
ärztlichen Personals aus seiner Sicht weiblich
sei, sei über Arbeitszeiten ohnehin noch einmal
ganz neu nachzudenken, verwies Zimmer auf
einen etwaigen Zwei-Drittel-Anteil von Frauen
an der Medizin-Studentenschaft.
In einer Gesellschaft, die auch
noch andere Prioritäten
als Arbeit habe, sei eine
Wochenarbeitszeit von 37
Stunden für Frauen im Zusammenhang
mit Kindererziehungszeiten
nicht zumutbar.
Da müsse man eher über
27 Stunden pro Woche reden.
Teams bilden
Eine große Chance sahen einige
Expertinnen und Experten
aus unterschiedlichen Gründen
in der Bildung von Teams.
Vorschläge reichten von der bereits
genannten Gemeinschaftspraxis
über Versorgungszentren
bis hin zu regionalen multiprofessionellen
Teams, die
sowohl ärztliche als auch pflegerische
Versorgung gemeinsam
bewältigen könnten. Von
der Osten regte beispielsweise
an, Versorgungszentren nicht an
fachärztliche Aspekte zu knüpfen sondern auch rein hausärztliche Zentren
zu schaffen. Gemeinsam könne eine Dienstzeit
von 7 bis 21 Uhr ermöglicht werden, ohne einzelne
Kolleginnen oder Kollegen zu überlasten,
erläuterte Meunier. Aus Schleswig-Holstein
berichtete Dr. Wolfgang Wodarg, dass es
dort bereits heute erfolgreiche Projekte
zur kostenträgerübergreifenden
Integration der für die Versorgung
notwendigen Angebote in ländlichen
Regionen gebe. Solche regionalen
Vereinbarungen könnten
eine hausärztlich-pflegerische
Grundversorgung abdecken. Eine
Arbeit in diesen Modellen fördere
auch einen frühen Austausch
der unterschiedlichen Professionen
untereinander. Auch Weiterbildung
lasse sich an solchen
Zentren ansiedeln.
Für eine generelle Umsteuerung
hin zu einer multiprofessionellen
Versorgung sprach
sich Prof. Dr. Doris Schaeffer
aus. Die Bielefelder Gesundheitswissenschaftlerin
betonte,
dass die Notwendigkeit
einer solchen Entwicklung
längst bekannt sei, nur nicht
vollzogen werde. Und in der
Pflege sei der Fachkräftemangel
noch massiver als
in der Medizin.
sow
Zusatzinformation:
PTA-Ausbildung
In der Anhörung ging es außerdem um die Zukunft der Ausbildung pharmazeutisch-technischer Assistentinnen und Assistenten
(PTA). Gemeinnützige Vereine müssten das Schulgeld so erhöhen, dass Bewerberzahlen zurückgingen und
Schulen schließen müssten, obwohl es einen erhöhten Bedarf gebe. Vor diesem Hintergrund sollten Land oder Bund
die Ausbildungsfinanzierung übernehmen oder zumindest unterstützen, forderten Branchenverband und Praktikerinnen.
Systematik: 5230 Medizinische Berufe; 5200 Gesundheit
ID: LI140611