Heinrich Lübke (1894-1972)

Heinrich Lübke ist der Öffentlichkeit vor allem als Bundespräsident mit Hang zu peinlichen Auftritten in Erinnerung geblieben. Die Reduzierung auf seine Fehltritte wird ihm allerdings nicht gerecht. Nur wenig bekannt ist, dass er während des „Dritten Reichs“ beinahe zwei Jahre im Gefängnis verbrachte. Problematisch war dann seine Arbeit während des Zweiten Weltkriegs.

Karl Heinrich Lübke wurde am 14. Oktober 1894 in Enkhausen (heute Sundern-Enkhausen) im Sauerland geboren. Er wuchs als zweitjüngstes Kind mit sieben weiteren Geschwistern in einer katholischen Familie auf. Sein Vater war Schuhmachermeister, starb jedoch bereits 1902. Das Geschäft übernahm daraufhin Heinrichs ältester Bruder. Die Familie war im Nebenerwerb in der Landwirtschaft tätig und die Kinder mussten schon früh bei der Arbeit mithelfen. Heinrich besuchte die Volksschule in Enkhausen und im Anschluss das Progymnasium in Werl sowie das Gymnasium in Brilon, wo er 1913 das Abitur ablegte. Nach einem einjährigen Praktikum beim Stadtvermessungsamt in Menden begann er ein Studium der Geodäsie, Landwirtschaft und Kulturbautechnik in Bonn. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldete sich Lübke freiwillig zum Kriegsdienst. Er wurde als Artillerist an der Ost- und Westfront eingesetzt und mit dem Eisernen Kreuz I. und II. Klasse ausgezeichnet. Zuletzt stand er im Rang eines Leutnants der Reserve.1

Nach Ende des Kriegs nahm Lübke sein Studium wieder auf. 1921 legte er in Berlin sein Examen zum Vermessungs- und Kulturingenieur ab. Ein in Münster begonnenes Zweitstudium der Volkswirtschaft brach er dagegen ab. Stattdessen wurde er Geschäftsführer des „Westfälischen Pächter- und Siedlerbunds“ in Münster und war ab 1923 im kleinbäuerlichen Organisations- und Siedlungswesen in Berlin aktiv. Zudem war er 1926 an der Gründung des „Reichsverbands landwirtschaftlicher Klein- und Mittelbetriebe e.V.“ maßgeblich beteiligt. Dort übernahm Lübke das Amt des Geschäftsführers. Bereits ein Jahr später schloss sich der Verband mit anderen Regionalverbänden zur „Deutschen Bauernschaft e.V.“ zusammen, wo Lübke einer von zwei Geschäftsführern wurde. Im selben Jahr wurde er darüber hinaus Gründungs- und Vorstandsmitglied sowie Leiter der gemeinnützigen „Siedlungsgesellschaft Bauernland AG“. 1929 wurde dann die „Wirtschafts- und Treuhandstelle der Deutschen Bauernschaft“ („Witreu“) gegründet. Auch dort engagierte sich Lübke bereits bei der Realisierung und später als Geschäftsführer. Die Witreu förderte u.a. das landwirtschaftlichen Genossenschaftswesens sowie die Schaffung von Siedlerstellen durch die Vermittlung und Verwaltung staatlicher Kredite. Ferner saß Lübke in weiteren Vorständen und Aufsichtsräten landwirtschaftlicher Organisationen und Kreditinstitute. In seinen vielfältigen Verbandstätigkeiten setzte er sich immer wieder für die Interessen der kleinen und mittleren bäuerlichen Betriebe ein, weshalb er von rechten Gruppierungen als „roter Lübke“ beschimpft wurde.2

1929 heiratete Heinrich Lübke die Studienrätin Wilhelmine Keuthen. Wilhelmine war eine selbstbewusste und talentierte Frau, die ihren Mann über die vielen Ehejahre stets zu unterstützen vermochte. Die Ehe blieb kinderlos. 1930 trat Heinrich Lübke der Deutschen Zentrumspartei bei und kandidierte erfolglos für den Deutschen Reichstag. Dafür wurde er 1932 in den preußischen Landtag gewählt.3

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde Heinrich Lübke am 1. April 1933 verhaftet. Am gleichen Tag wurde er durch das „Eingreifen befreundeter Stellen“4 – wie er sich später ausdrückte – wieder entlassen. Allerdings verlor er durch die Auflösung der Deutschen Bauernschaft seine Geschäftsführerstelle. Anfang 1934 wurde er dann wegen Verdachts unsachgemäßer Verwendung öffentlicher Mittel verhört. U.a. ging es um Gelder der Deutschen Bauernschaft, die laut Vorwurf der Staatsanwaltschaft zur Wiederwahl des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg 1932 verwendet wurden. Wenig später wurden sein Haus und die Witreu-Geschäftsstelle durchsucht, Akten beschlagnahmt sowie Lübkes Pass eingezogen. Am 5. Februar 1934 wurde er wegen „Verdunkelungs- und Fluchtgefahr“ auf offener Straße ein zweites Mal verhaftet.5 Im Gefängnis schrieb er seiner Frau: „In den ersten Tagen meinte ich, ich müßte verrückt werden; aber nun habe ich mir vorgenommen, alles so zu tragen wie es kommt.“6 Dabei ging er davon aus, bald wieder aus der Untersuchungshaft entlassen zu werden. Doch die Staatsanwaltschaft ermittelte in mehreren Korruptionsfällen gegen ihn, so wurde er beschuldigt, Gelder veruntreut und unterschlagen sowie Urkunden beseitigt zu haben. Die Vorwürfe lassen sich nicht mehr überprüfen. Doch gerade in der Anfangszeit des „Dritten Reichs“ wurden Repräsentanten der Weimarer Republik von den Nationalsozialisten oftmals der Korruption beschuldigt, um sie zu diskreditieren und ins Gefängnis zu bringen. Das Verfahren gegen Lübke wurde mit der Zeit immer weiter ausgeweitet. Er selbst wurde während seiner Haftzeit in den Berliner Gefängnissen Lehrter Straße, Moabit und Plötzensee beinahe 50 mal vernommen. Des Weiteren wurden insgesamt 500 Zeugen befragt, ohne dass ausreichend belastendes Material gesammelt werden konnte. Die Anklagebehörde beantragte schließlich das Verfahren gegen Lübke einzustellen. Heinrich Lübke wurde dann im Oktober 1935 nach 20 Monaten aus der Haft entlassen. Die Strafkammer 24 des Landgerichts Berlin beschloss am 19. November die Einstellung des Verfahrens aufgrund des „Gesetzes über die Gewährung von Straffreiheit vom 7. August 1934“. Da Lübke durch die Entscheidung des Gerichts nicht freigesprochen wurde, erhielt er weder Haftentschädigung noch die Möglichkeit einer Revision des Verfahrens.7

Heinrich Lübke hatte die Gefängnishaft psychisch und physisch schwer zugesetzt. Insgesamt hatte er 31kg an Gewicht verloren. Auch seine Frau hatte eine harte Zeit inklusive permanenter Bespitzlung durchlitten. Mit enormen Durchhaltewillen hatte sie Freunde, Bekannte, öffentliche Einrichtungen und staatliche Stellen um Unterstützung ersucht. Heinrich erholte sich mit Wilhelmine in dem Elternhaus in Enkhausen sowie auf dem Bauernhof seines Bruders in Schleswig-Holstein. In dieser Zeit war er erwerbslos. 1937 wurde er jedoch Geschäftsführer der „Niedersächsischen Wohnungsbau- und Siedlungsgemeinschaft“. Im gleichen Jahr wurde er Mitglied der nationalsozialistischen Freizeitorganisation „Kraft durch Freude“ (KdF). Der NSDAP oder einer weiteren NS-Organisation trat er nicht bei. Drei Jahre infolge berief man ihn aber zu mehrwöchigen Wehrübungen nach Brandenburg ein. Zum Kriegsdienst eingezogen wurde er jedoch nicht, obwohl er sogar 1942 zum Hauptmann der Reserve befördert wurde. Unmittelbar nach Kriegsbeginn war Lübke nämlich zum Architekturbüro Walter Schlempp gewechselt.8 Schlempp hatte laut eigener Aussagen Lübke eingestellt, obwohl er von dessen Verhaftung und seiner „Gegnerschaft zum Nazismus“9 wusste. Das Architektur- und Ingenieurbüro war dann als „Baugruppe Schlempp“ durch Albert Speer – Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt – für Planung und Bauleitung von kriegswichtigen Industriebauten dienstverpflichtet worden.10

Nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten äußerte sich Heinrich Lübke zu seiner Lebensphase im Zweiten Weltkrieg lediglich mit dem Satz: „Nach meiner Entlassung aus der Haft im Herbst 1935 war ich bis nach dem zweiten Weltkrieg im Bauwesen tätig.“11 So unbedeutend war seine Tätigkeit aber nicht. Die „Baugruppe Schlempp“ war nämlich für den Bau ziviler und militärischer Anlagen auf der Heeresversuchsanstalt in Peenemünde verantwortlich, in der die „V2“-Rakete entwickelt wurde. Lübke war als stellvertretender Leiter – trotz späterer anderslautender Beteuerungen – auch für den Einsatz des Personals zuständig. Aufgrund des weiter andauernden Krieges und der damit verbundenen permanenten Einberufung von Soldaten mussten Zwangsarbeiter den zunehmenden Arbeitskräftemangel auf dem Gelände kompensieren.12 So erhoffte „Herr Lübke“ im Juli 1942 „500 Holländer Anfang August zu erhalten“.13 Auch KZ-Häftlinge waren auf den Baustellen der Baugruppe tätig und mussten beispielsweise schwere Wasserrohre verlegen. Später gab Lübke an, sich für die gefangenen Arbeitskräfte eingesetzt zu haben, in dem er u.a. besseres Essen und anständige Arbeitsbedingungen gefordert habe. Diese Aussagen wurde auch von Walter Schlempp bestätigt. Erwähnen muss man allerdings ebenso, dass viele Häftlinge bei der Zwangsarbeit in Peenemünde zu Tode kamen. Später nahm Lübke im Rahmen seiner Arbeit auch an Besprechungen des „Jägerstabs“ teil. Dieses Gremium beratschlagte vor allem die Aufrechterhaltung der Produktion von Kriegsflugzeugen, durch die Verlagerung in unterirdische Fabriken. Heinrich Lübke wurde die Bauleitung an den Standorten bei Bernburg und Neu-Staßfurt übertragen. Die Errichtung der unterirdischen Produktionsstätten kostete abermals vielen KZ-Häftlingen das Leben. Der Historiker Norbert Frei urteilte – in seiner von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Auftrag gegebenen Studie – über Lübkes Verhalten im Zweiten Weltkrieg:14 „Im System der deutschen Kriegs- und Rüstungswirtschaft, das Hunderttausenden den Tod gebracht hatte und Millionen entsetzliches Leid, hatte Heinrich Lübke umstandslos funktioniert. Dies jedoch keineswegs ‚wie alle‘ Deutschen, sondern als Angehöriger jener Funktionseliten, die das ‚Dritte Reich‘ und die deutsche Kriegsführung am Laufen gehalten hatten.“15

Heinrich Lübkes Haus in Berlin wurde während des Krieges mehrmals durch Bomben getroffen und dadurch komplett zerstört. Laut eigener Angaben entging er nach dem gescheiterten Hitlerattentat vom 20. Juli 1944 nur knapp der Verhaftung. Nach der Kriegsniederlage gründete er in Höxter ein Baubüro und beteiligte sich u.a. an dem Wiederaufbau der zerstörten Weserbrücke. Bereits 1945 trat er der neugegründeten CDU bei. Im Jahr darauf wurde Lübke in den beratenden westfälischen Provinzialrat sowie dann in den ernannten Landtag Nordrhein-Westfalens berufen. Bei den ersten freien Landtagswahlen am 20. April 1947 wurde er im Wahlkreis Arnsberg direkt gewählt. Schon am 6. Januar war Lübke als Agrar- und Siedlungsexperte Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten in der nordrhein-westfälischen Landesregierung geworden. In diesem Amt hatte er mit enormen Herausforderungen zu kämpfen. Vor allem die katastrophale Lebensmittelknappheit bereitete Lübke große Sorgen.16 Im Landtag ließ er an dem Ernst der Lage keine Zweifel aufkommen: „Die Schwierigkeiten, die vorliegen, sind derartig, daß wir praktisch von Enttäuschung zu Enttäuschung und von Hungerkrise zu Hungerkrise taumeln“.17 Immer wieder ersuchte er die britische Militärregierung um höhere Nahrungsmittelzuteilungen für die westdeutsche Bevölkerung. In dieser verzweifelten Situation drohte er sogar vergeblich mit Rücktritt. Darüber hinaus warb Lübke – aufgrund seiner Erfahrungen in der Weimarer Republik – für eine umfassende Bodenreform zu Gunsten der wenig vermögenden Bevölkerung. Nach seinen Plänen sollte jedem Deutschen ein Grundrecht auf Grundbesitz zustehen und ein kleines Stück Land zur Selbstversorgung jedem die Sicherung des Überlebens ermöglichen. Um den Landbesitz innerhalb der Bevölkerung gerechter verteilen zu können, hätten Großagrarier, Kirche und Staat auf Teile ihrer Ländereien verzichten müssen. Diese Pläne waren innerhalb der CDU nicht durchsetzbar und riefen heftige Ablehnung hervor. Das im Landtag verabschiedete Gesetz beinhaltete nur noch kleine Teile seines umfangreichen Reformvorhabens. Erfolg hatte Lübke aber bei der Ansiedlung vertriebener Landwirte und anderer Flüchtlingen.18

1949 kandidierte Heinrich Lübke erfolgreich für den ersten Deutschen Bundestag. In seinem Wahlkreis Arnsberg-Soest erhielt er 40,7 % der Stimmen. Im Bundestag wurde er Vorsitzender des Agrarausschusses – parallel hierzu blieb er Landesminister in Nordrhein-Westfalen. 1950 gab er jedoch sein Bundestagsmandat auf und 1952 sein Ministeramt, obwohl er in der Öffentlichkeit hohes Ansehen genoss. Wohl auch aus gesundheitlichen Gründen entschied sich Lübke, dem Politikbetrieb den Rücken zu kehren und Generalanwalt des Deutschen Raiffeisenverbands in Bonn zu werden. Doch aufgrund des begrenzten Gestaltungsspielraums gab er bereits nach wenigen Monaten seine Stellung wieder auf. Stattdessen kandidierte er 1953 im Wahlkreis Rees-Dinslaken abermals für den Deutschen Bundestag. Nach dem Einzug ins Parlament wurde er von Bundeskanzler Konrad Adenauer zum Bundeslandwirtschaftsminister ernannt. Adenauer hatte sich erst nach einigem Zögern für Lübke entschieden, da ihm Lübke zu bodenreformerische und sozialkatholische Ansichten vertrat. Lübkes wichtigstes Reformprojekt war das Landwirtschaftsgesetz von 1955, wodurch die landwirtschaftliche Arbeit auf der Grundlage „Grüner Pläne“ finanziell unterstützt und modernisiert werden konnte. Gleichzeitig zerrten die permanenten Auseinandersetzungen mit den Bauernverbänden an seinen Kräften.19

1959 stellte die CDU Heinrich Lübke als Nachfolgekandidaten des Bundespräsidenten Theodor Heuss auf. Ursprünglich hatte Konrad Adenauer geplant, das Amt zu übernehmen, doch wenige Wochen vor dem Wahltermin entschied er sich dagegen. Nachdem zwei weitere potentielle Kandidaten ihre Ablehnung bekundet hatten, einigte man sich auf Heinrich Lübke, der von der Bundesversammlung am 01. Juli 1959 im zweiten Wahlgang zum Bundespräsidenten gewählt wurde. Anders als Theodor Heuss fehlte es Lübke jedoch an rhetorischer und intellektueller Brillanz. Das freie Reden fiel ihm schwer und Redemanuskripte hatte er beispielsweise in seiner Ministerzeit durch zahlreiche Daten und Statistiken ergänzt, sodass die beabsichtigte Schlussfolgerung nur noch schwer zu greifen war. Sein fehlendes Charisma versucht er wett zu machen, indem er sich als bescheidener Mann einfacher Herkunft stilisierte. Als Bundespräsident war ihm die Hilfe für Entwicklungsländer eine Herzensangelegenheit. Im Gegensatz zu Heuss unternahm er zahlreiche Reisen in afrikanische und asiatische Staaten. Auch bemühte er sich um ein gutes Verhältnis zu den in Deutschland lebenden Juden. Des Weiteren war er bestrebt mehr als sein Vorgänger in politischen Debatten Position zu beziehen. So weigerte er sich etwa ein im Bundestag beschlossenes Gesetz zu unterzeichnen und trat immer wieder für die Bildung einer „Großen Koalition“ aus CDU/CSU und SPD ein. Dies war mit ein Grund, wieso er 1964 bei seiner Wiederwiederwahl auch die Stimmen der SPD bekam.20

Heinrich Lübkes zweite Amtszeit verlief wenig erfolgreich und sein öffentliches Ansehens sank während dieser Zeit beträchtlich. Denn zum einen führte eine bei ihm erst spät diagnostizierte Zerebralsklerose zu Gedächtnisverlust und Sprechstörungen, die, wenn sie in der Öffentlichkeit auftraten, als peinliche Fehltritte kritisiert wurden – wobei erwähnt werden muss, dass ihm auch Ausprüche angedichtet wurden. Zum anderen wurde er mit seiner Tätigkeit bei der „Baugruppe Schlempp“ konfrontiert. Ab 1965 begann die DDR Lübkes Vergangenheit im „Dritten Reich“ publik zu machen, um daraus propagandistisches Kapital zu schlagen. So diffamierte sie Lübke als „KZ-Baumeister“. Innerhalb der Bundesrepublik reagierte man überfordert auf die Kampagne der DDR. Ein Gutachten des Bundeskriminalamts kam zu dem Schluss, dass die vorgelegten Dokumente gefälscht worden seien. Obwohl 1968 ein unabhängiges Gutachten zu einem gegenteiligen Ergebnis kam, hielten große Teile der Wissenschaft und Öffentlichkeit bis Anfang der 2000er Jahre hartnäckig an der Erzählung der gefälschten DDR-Dokumente fest. Mittlerweile ist jedoch gesichert, dass die DDR lediglich die präsentierten Aktendeckel nachträglich manipuliert hatte. Auch Heinrich Lübke verhielt sich während des über Jahre hinweg andauernden Skandals äußerst ungeschickt.21 In einer Erklärung äußerte er u.a. folgendes: „Nun wird die Behauptung verbreitet, ich hätte Pläne für Häftlingsbaracken unterschrieben. Selbstverständlich kann ich mich nach Ablauf von fast einem Vierteljahrhundert nicht mehr an jedes Schriftstück erinnern, das ich unterschrieben habe. Es gehörte nicht zu meinen Aufgaben, Zeichnungen für Baracken zu unterschreiben. Ich erinnere mich auch nicht, je solche Unterschriften geleistet zu haben.“22

Der Skandal belastete Lübke schwer. Er sah jedoch davon ab, von seinem Amt zurückzutreten. Unterstützt wurde er vor allem von Seiten der SPD, während Teile der CDU auf Distanz zu ihm gingen. Lediglich zweieinhalb Monate vor Ablauf seiner Amtszeit trat er als Bundespräsident am 30. Juni 1969 zurück. Die offizielle Begründung war, dass die Bundespräsidentenwahl und die im September anberaumte Bundestagswahl zeitlich weiter voneinander entfernt liegen sollten. Lübke wirkte bei seinem Abschied – gerade im Hinblick auf die Studentenprostete im Mai 1968 und der sich nun anbahnenden sozialliberalen Koalition – wie ein rückständiger und altmodischer Mann. Sein Engagement galt dennoch vielen Bereichen, die auch heute noch von großer Relevanz sind, etwa der Entwicklungshilfe oder dem Natur- und Umweltschutz. Heinrich Lübke wurden zahlreichen Ehrungen zuteil, u.a. erhielt er das Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland sowie die Ehrendoktorwürden der Landwirtschaftlichen Fakultät der Universität Bonn und der Tierärztlichen Fakultät der Universität München. Des Weiteren wurde er Ehrenbürger mehrere Städte wie Berlin und Bonn. Heinrich Lübke starb an Magenkrebs am 6. April 1972 in Bonn. Beigesetzt wurde er in Enkhausen. Dort befindet sich mittlerweile auch die Gedenkstätte „Heinrich-Lübke-Haus“. Eine Bildungsstätte mit gleichen Namen wurde ebenfalls in der Region gegründet.23

Endnoten
1 Vgl. Zeugnis-Heft Heinrich Lübke, in: Bundesarchiv. Nachlass Heinrich Lübke (Sig.: N 1216/208); Lübke, Heinrich: Fragebogen der britischen Militärregierung vom 17.04.1946, in: Landtagsarchiv NRW. Bestand Biografische Kompendien (Sig.: LT NRW 118 / A0208/0472); Morsey, Rudolf: Heinrich Lübke, CDU (1959-1969), in: Ooyen, Robert Chr. van / Möllers, Martin H. W. (Hrsg.): Der Bundespräsident im politischen System, Wiesbaden 2012, S. 183-194, hier S. 184; Morsey, Heinrich Lübke (1894-1972), in: Aretz, Jürgen / Morsey, Rudolf / Rauscher, Anton (Hrsg.): Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem deutschen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 6, Münster 1984, S. 153-170, hier S. 154; Morsey, Rudolf: Heinrich Lübke (1894-1972), in: Geschichte im Westen, 9 (1994), S. 224-243, hier S. 226; Haunfelder, Bernd: Nordrhein-Westfalen. Land und Leute 1946-2006. Ein biographisches Handbuch, Münster 2006, S. 294-296; Häger, Joachim: Heinrich Lübke scheidet aus dem Amt, in: Interpress. Internationaler biographischer Pressedienst vom 26.06.1969 sowie o.V.: Lübke, Heinrich, in: Interpress. Internationaler biographischer Pressedienst vom 26.06.1969.
2 Vgl. Lübke: Fragebogen der britischen Militärregierung vom 17.04.1946; Hindenburg, Barbara von: Biographisches Handbuch der Abgeordneten des Preußischen Landtags. Verfassungsgebende Preußische Landesversammlung und Preußischer Landtag 1919-1933, 4 Teile, Teil 2, Frankfurt am Main u.a. 2017, S. 1483-1487; Schmaler, Dirk: Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit – zwischen Aufklärung und Verdrängung, Frankfurt am Main u.a. 2013, S. 46; Morsey: Heinrich Lübke (1894-1972), in: Geschichte im Westen, S. 226-228; ders., Lübke, Heinrich, in: Neue Deutsche Biographie 15 (1987), S. 442-444 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118575015.html#ndbcontent (abgerufen am 02.02.2024) sowie o.V.: Lübke, Heinrich, in: Munzinger Online/Personen - Internationales Biographisches Archiv, URL: http://www.munzinger.de/document/00000002572 (abgerufen von am 02.02.2024).
3 Vgl. Lübke: Fragebogen der britischen Militärregierung vom 17.04.1946; Düding, Dieter: Parlamentarismus in Nordrhein-Westfalen 1946-1980. Vom Fünfparteien- zum Zweiparteienlandtag, Berlin 2008, S. 76; Hindenburg: Biographisches Handbuch der Abgeordneten des Preußischen Landtags, Teil 2, S. 1483-1487 sowie Morsey: Heinrich Lübke (1894-1972), in: Geschichte im Westen, S. 228.
4 Zitiert nach Morsey, Rudolf: Heinrich Lübke. Eine politische Biographie, Paderborn u.a. 1996, S. 91.
5 Vgl. ebd., S. 91-96; Lübke, Heinrich: Erklärung des Bundespräsidenten zur Klarstellung der gegen ihn erhobenen Anschuldigungen vom 01.03.1968, in: Bundearchiv. Nachlass Heinrich Lübke (Sig.: N 1216/149); Protokoll der 80. Sitzung des 3. Deutschen Bundestages vom 15.09.1959, S. 4377, URL: https://dserver.bundestag.de/btp/03/03080.pdf (abgerufen am 06.05.2024); Pieper, Werner: Die 13 Leben des Heinrich Lübke. Verblüffende biografische Fundstücke aus dem Leben eines deutschen Biedermanns, Löhrbach im Odenwald 2004, S. 23 sowie Morsey: Heinrich Lübke (1894-1972), in: Geschichte im Westen, S. 228.
6 Brief Heinrich Lübke an Wilhelmine Lübke vom 09.02.1934, in: Bundesarchiv. Nachlass Heinrich Lübke (Sig.: N 1216/49a).
7 Vgl. ebd.; Brief Heinrich Lübke an Wilhelmine Lübke vom 02.03.1934, in: Bundesarchiv. Nachlass Heinrich Lübke (Sig.: N 1216/49a); Brief Wilhelmine Lübke an den Preußische Justizminister vom 29.06.1934, in: Bundearchiv. Nachlass Heinrich Lübke (Sig.: N 1216/153); Brief Bischöfliches Ordinariat an den Preußischen Justizminister vom 07.07.1934, in: Bundearchiv. Nachlass Heinrich Lübke (Sig.: N 1216/153); Beschluss des Landgerichts, Strafkammer 24 vom 19.11.1935, in: Bundearchiv. Nachlass Heinrich Lübke (Sig.: N 1216/153); Lübke: Fragebogen der britischen Militärregierung vom 17.04.1946; ders.: Erklärung des Bundespräsidenten zur Klarstellung der gegen ihn erhobenen Anschuldigungen vom 01.03.1968; Freundeskreis des deutschen Widerstandes: Der Fall Dr. Heinrich Lübke, 2. Aufl., Karlsruhe 1966, S. 4; Morsey: Heinrich Lübke, S. 98-116; ders.: Heinrich Lübke (1894-1972), in: Geschichte im Westen, S. 228-229; Schmaler: Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit, S. 46; Pieper: Die 13 Leben des Heinrich Lübke, S. 23-29; o.V.: Lübke, Heinrich, in: Schumacher, Martin (Hrsg.): M.d.L. Das Ende des Parlamentarismus 1933 und die Abgeordneten der Landtage und Bürgerschaften der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus, Düsseldorf 1995, S. 99-100 sowie Hammer, Walter: Hohes Haus in Henkers Hand, Frankfurt am Main 1956, S. 65.
8 Vgl. Brief Heinrich Lübke an Wilhelmine Lübke vom 23.02.1934, in: Bundesarchiv. Nachlass Heinrich Lübke (Sig.: N 1216/49a); Brief Heinrich Lübke an Wilhelmine Lübke vom 22.04.1934, in: Bundesarchiv. Nachlass Heinrich Lübke (Sig.: N 1216/49a); Notariell beglaubigte Generalvollmacht von Heinrich Lübke für Wilhelmine Lübke vom 26.02.1934, in: Bundesarchiv. Nachlass Wilhelmine Lübke (Sig.: N 1386/143); Lübke, Wilhelmine: Manuskript über Heinrich Lübke im Nationalsozialismus o.D., in: Bundesarchiv. Nachlass Wilhelmine Lübke (Sig.: N 1386/143); Frei, Norbert: Im Namen der Deutschen. Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit 1949–1994, München 2023, S. 121-158; Morsey: Heinrich Lübke (1894-1972), in: Geschichte im Westen, S. 230; Pieper: Die 13 Leben des Heinrich Lübke, S. 28; Hindenburg: Biographisches Handbuch der Abgeordneten des Preußischen Landtags, Teil 2, S. 1483-1487 sowie o.V.: Lübke, Heinrich, S. 99-100.
9 Stellungnahme Walter Schlempp vom 19.01.1966, in: Bundearchiv. Nachlass Heinrich Lübke (Sig.: N 1216/145).
10 Vgl. Lübke: Fragebogen der britischen Militärregierung vom 17.04.1946; Frei: Im Namen der Deutschen, S. 157; Morsey: Heinrich Lübke (1894-1972), in: Geschichte im Westen, S. 230 sowie Wagner, Jens-Christian: Der Fall Lübke. War der zweite Präsident der Bundesrepublik Deutschland tatsächlich nur das unschuldige Opfer einer perfiden DDR-Kampagne?, in: Die Zeit vom 19.07.2007.
11 Protokoll der 80. Sitzung des 3. Deutschen Bundestages vom 15.09.1959, S. 4377.
12 Vgl. Lübke: Erklärung des Bundespräsidenten; ders.: Fragebogen der britischen Militärregierung vom 17.04.1946; o.V.: Zeitplan o.D., in: Bundesarchiv. Bestand Akten des Bundesinnenministeriums (Sig.: B 106-124234); Frei: Im Namen der Deutschen, S. 158-159; Wagner: Der Fall Lübke; Morsey: Heinrich Lübke (1894-1972), in: Geschichte im Westen, S. 230 sowie ders.: Lübke, Heinrich.
13 Bauchronik Peenemünder Raketen-Montagewerk vom 20.07.1942, in: Bundesarchiv. Akten des OKH, Heereswaffenamt mit nachgeordneten Dienststellen) (Sig.: RH 8/1209).
14 Vgl. Brief Kapo der „Baugruppe Schlempp“ an Arnold Strippel vom 22.09.1943, in: Arolsen Archives. Digital Archive (1.1.5.0/82079313/ITS); Stellungnahme Walter Schlempp vom 19.01.1966; Frei: Im Namen der Deutschen, S. 137-169, 321; Wagner: Der Fall Lübke; Pieper: Die 13 Leben des Heinrich Lübke, S. 31-44; Morsey, Heinrich Lübke (1894-1972), S. 158 sowie ders.: Heinrich Lübke, S. 127-130.
15 Frei: Im Namen der Deutschen, S. 169.
16 Vgl. Morsey, Rudolf: Heinrich Lübke, S. 131-136; ders.: Heinrich Lübke (1894-1972), in: Geschichte im Westen, S. 230-232 sowie o.V.: Lübke, Heinrich, S. 99-100.
17 Stenographischer Bericht über die 5. Sitzung des Landtags Nordrhein-Westfalen vom 04.-06.03.1947, URL: https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMPEP5.pdf (abgerufen am 06.05.2024).
18 Vgl. Deitermann, Regine: Heinrich Lübke. Der verkannte Präsident, in: Der Präsident des Landtags Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Vier Bundespräsidenten aus Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2004, S. 69-101, hier S. 77-88; Morsey, Rudolf: Heinrich Lübke (1894-1972), S. 160-161; ders.: Heinrich Lübke (1894-1972), in: Geschichte im Westen, S. 231-232; ders.: Lübke, Heinrich sowie Haunfelder: Nordrhein-Westfalen, S. 294-296.
19 Vgl. Protokoll der 80. Sitzung des 3. Deutschen Bundestages vom 15.09.1959, S. 4377; Deitermann: Heinrich Lübke, S. 88-92; Morsey: Heinrich Lübke (1894-1972), in: Geschichte im Westen, S. 232-235; ders.: Lübke, Heinrich; Schmaler: Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit, S. 46 sowie Haunfelder: Nordrhein-Westfalen, S. 294-296.
20 Vgl. Brief Konrad Adenauer an Heinrich Krone und Hermann Höcherl vom 04.06.1959, in: Bundearchiv. Nachlass Heinrich Lübke (Sig.: N 1216/45); Erklärung Heinrich Lübke vom 30.06.1964, in: Bundearchiv. Nachlass Heinrich Lübke (Sig.: N 1216/45); Brief Konrad Adenauer an den Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier vom 30.06.1964, in: Bundearchiv. Nachlass Heinrich Lübke (Sig.: N 1216/45); Frei: Im Namen der Deutschen, S. 122-132; Deitermann: Heinrich Lübke, S. 92-123; Morsey: Heinrich Lübke, CDU (1959-1969), S. 183; ders.: Heinrich Lübke (1894-1972), in: Geschichte im Westen, S. 235-239; ders.: Lübke, Heinrich sowie Häger: Heinrich Lübke scheidet aus dem Amt.
21 Vgl. Gutachten des Bundeskriminalamtes über die als „Beweismaterial“ versandten Fotokopien – Unterschriften gefälscht, in: Bundesarchiv. Bestand Akten des Bundesinnenministeriums (Sig.: B 106-124235); o.V.: Zeitplan o.D.; Strafanzeige der Antifaschistischen Arbeitsgemeinschaft an den Generalstaatsanwalt gegen Heinrich Lübke vom 08.06.1968, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Gerichtsakten (Sig.: Gerichte Rep. 0195 Nr. 1420); Schreiben Antifaschistische Arbeitsgemeinschaft an den Generalstaatsanwalt vom 22.10.1968, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Gerichtsakten (Sig.: Gerichte Rep. 0195 Nr. 1420); Freundeskreis des deutschen Widerstandes: Der Fall Dr. Heinrich Lübke, 2. Aufl., Karlsruhe 1966, S. 3-4; Nationalrat der Nationalen Front des demokratischen Deutschland: Aufstieg und Fall des Heinrich Lübke. Die Geschichte einer Karriere, Berlin 1969, S. 72, 124; Frei: Im Namen der Deutschen, S. 160-173; Deitermann: Heinrich Lübke, S. 93-100; Morsey: Heinrich Lübke, CDU (1959-1969), S. 183; ders.: Heinrich Lübke (1894-1972), in: Geschichte im Westen, S. 225-240; Massengrab an der Raketenrampe. Historiker Jens-Christian Wagner über Heinrich Lübkes Rolle beim Einsatz von KZ-Häftlingen in Peenemünde, in: Der Spiegel vom 27.05.2001; Pieper: Die 13 Leben des Heinrich Lübke, S. 31, 44; Schmaler: Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit, S. 46 sowie Haunfelder: Nordrhein-Westfalen, S. 294-296.
22 Lübke: Erklärung des Bundespräsidenten zur Klarstellung der gegen ihn erhobenen Anschuldigungen vom 01.03.1968.
23 Liste der Orden des Herr Bundespräsidenten, die in die Gedenkstätte nach Enkhausen gekommen sind o.D., in: Bundearchiv. Nachlass Heinrich Lübke (Sig.: N 1216/157); o.V.: Lübke, Heinrich; Frei: Im Namen der Deutschen, S. 170-175; Deitermann: Heinrich Lübke, S. 98-100; Morsey: Heinrich Lübke (1894-1972), in: Geschichte im Westen, S. 242-243 sowie o.V.: Lübke, Heinrich, in: Munzinger Online/Personen.

Die Fraktionen im Landtag NRW