Paul Kircheis (1896-1982)

Paul Kircheis hatte im Nationalsozialismus eine über einjährige Gefängnishaft zu erdulden. Doch nicht nur für ihn, sondern auch für seine Familie war seine Gefangenschaft eine immense Belastung: „Die Ehefrau Paul Kircheis leidet an offener Lungen- und Kehlkopftuberkulose […] Sie macht einen sehr elenden Eindruck und kann nur noch im Flüsterton sprechen. […] Der Arzt vermutet, dass seelische Leiden – bedingt durch die Abwesenheit des Mannes – den Heilungsprozess behindern.“1

Friedrich August Paul Kircheis wurde am 24. Juli 1896 in Elberfeld (heute Wuppertal-Elberfeld) geboren. Von 1902 bis 1910 besuchte er die Volksschule in Elberfeld. Kircheis erlernte das Buchdruckerhandwerk und ging von 1912 bis 1913 auf die Kunstgewerbeschule in Barmen. 1914 trat er der SPD bei. Vorher war er bereits in der Sozialistischen Arbeiter-Jugend (SAJ) aktiv. Während des Ersten Weltkriegs wurde er als Soldat eingezogen und später von einem Artilleriegeschoss am Kopf und Oberarm getroffen. Er wurde dann zum Gefreiten befördert und mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse ausgezeichnet. Aufgrund seiner Erlebnisse trat der evangelisch-lutherisch getaufte Kircheis nach dem Ende des Krieges aus der Kirche aus. 1921 zog er nach Solingen und übernahm dort eine Stelle als Redakteur bei der lokalen sozialdemokratischen Zeitung „Volksblatt“. Schon vorher hatte er Artikel für die Elberfelder „Freie Presse“ verfasst. Zudem war Kircheis SPD-Vorsitzender des Ortsvereins und des Unterbezirks Solingen sowie sozialdemokratischer Stadtverordneter in Solingen. 1924 heiratete er und bald darauf bekam das Paar eine Tochter. Seine Frau starb allerdings früh, weshalb Kircheis sich ein zweites Mal vermählte.2

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde das Solinger Volksblatt verboten und Paul Kircheis vom 11. Juli bis 1. August 1933 in „Schutzhaft“ genommen. Nach einer Phase der Arbeitslosigkeit fand er eine Stelle als Handlungsreisender bei einer Seifenfirma. Im Sommer 1934 besuchte ihn der im sozialdemokratischen Widerstand aktive Ernst Gnoss und übergab ihm eine Ausgabe der illegalen Schrift „Sozialistische Aktion“. Bis Ende des Jahres erhielt Kircheis von anderen Genossen noch weitere Ausgaben, die er mit je 20 Pfennig bezahlte. Als das sozialdemokratische Widerstandsnetzwerk 1935 von der Gestapo enttarnt wurde, wurde auch Kircheis am 9. Oktober festgenommen.3 Er gestand, die „Sozialistische Aktion“ erhalten zu haben. Gleichzeitig betonte er aber, den „Sauherdenton“4 kritisiert und die Ausgaben nicht weiter verbreitet, sondern nach dem Lesen verbrannt zu haben. Letztendlich habe er die verbotenen Schriften nicht mehr bezogen.5 Da Kircheis „vom Inhalt der Schriften abgerückt“6 sei, wurde er am 30. April 1936 vor dem Oberlandesgericht in Hamm „lediglich“ wegen Beihilfe zum Hochverrat zu einem Jahr und drei Monaten Gefängnis verurteilt. Die Polizei- und Untersuchungshaft, die er in Wuppertal, Hamm und Dortmund verbracht hatte, wurde ihm angerechnet. Er verbüßte die Strafe im Zentralgefängnis Bochum.7

Kircheis zeigte sich im Gefängnis reuig und kooperationsbereit, so dass der Bochumer Strafanstaltsdirektor, das zuständige Gericht sowie die Gestapo keine Bedenken gegen eine dreimonatige vorzeitige Haftentlassung äußerten. Sein Gnadenerweis wurde dennoch abgelehnt. Da jedoch seine Frau ernsthaft physisch wie psychisch erkrankte und im Krankenhaus behandelt werden musste, so dass die elfjährige Tochter bei einer Tante unterkommen musste, wurde er am 23. Dezember 1936 doch vor Ende der regulären Haftzeit entlassen. Die fehlenden 17 Tage Gefängnis wurden in eine dreijährige Bewährungsfrist umgewandelt. Kircheis litt infolge der Haft an chronischen Herzbeschwerden und Schlafstörungen. In den anschließenden Jahren führte er ein zurückgezogenes Leben. Er trat als einfaches Mitglied der Deutschen Arbeitsfront (DAF) sowie der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) bei. Seit 1937 war er in mehreren Firmen als Angestellter und Vertreter tätig und galt sowohl bei Kollegen wie Vorgesetzen als fleißig und beliebt. Aufgrund seines regime-konformen Verhaltens wurde ihm schließlich der nicht verbüßte Teil seiner Gefängnisstrafe erlassen. Am 14. Oktober 1942 wurde er mit 47 Jahren zur Wehrmacht eingezogen. Er wurde 1944 in Russland verwundet und geriet in russische Gefangenschaft.8

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Paul Kircheis Solinger Lokalredakteur der Düsseldorfer SPD-Lizenzzeitung „Rhein-Echo“. Zudem war er von Oktober bis Dezember 1946 Mitglied des ernannten Landtags von Nordrhein-Westfalen und dort stellvertretendes Mitglied des Kulturausschusses. Darüber hinaus war er Stadtverordneter sowie Fraktionsvorsitzender der SPD im Rat der Stadt Solingen. 1952 wurde er mit den Stimmen der SPD und KPD und gegen die Stimmen der CDU und FDP zum Beigeordneten für das Wohlfahrtsdezernat der Stadt Solingen gewählt. Zu dieser Zeit war das Wohlfahrtsdezernat u.a. für die Betreuung von 41.000 Flüchtlingen zuständig. Paul Kircheis starb am 11. November 1982 in Städtischen Krankenhaus in Solingen. Die Paul-Kircheis-Straße in Solingen trägt seinen Namen.9

Endnoten
1 Brief Generalstaatsanwalt an den Reichsminister der Justiz vom 19.12.1936, in: Bundesarchiv. Akten des Oberreichsanwalts beim Volksgerichtshof (Sig.: R 3017/35985).
2 Vgl. Brief Generalstaatsanwalt an den Herrn Reichsminister der Justiz vom 09.10.1936, in: Bundesarchiv. Akten des Oberreichsanwalts beim Volksgerichtshof (Sig.: R 3017/35985); Anklageschrift des Generalstaatsanwalts vom 30.01.1936, in: Bundesarchiv. Akten des Oberreichsanwalts beim Volksgerichtshof (Sig.: R 3017/35985); Urteil Oberlandesgericht Hamm 30.04.1936, in: Bundesarchiv. Akten des Oberreichsanwalts beim Volksgerichtshof (Sig.: R 3017/35985); Auszug aus dem Strafregister von Paul Kircheis vom 15.10.1940, in: Bundesarchiv. Akten des Oberreichsanwalts beim Volksgerichtshof (Sig.: R 3017/35985); Personalbogen Paul Kircheis vom 06.02.1940, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Gestapoakten (Sig.: RW 0058-61984); Brief Geheime Staatspolizei. Außendienststelle Wuppertal an die Geheime Staatspolizei. Staatspolizeistelle Düsseldorf vom 06.02.1940, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Gestapoakten (Sig.: RW 0058-61984); Kircheis, Paul: Fragebogen der britischen Militärregierung vom 09.08.1946, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Entnazifizierungsakten (Sig.: NW 1002-G-18104); ders.: Anlage zum Fragebogen, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Entnazifizierungsakten (Sig.: NW 1002-G-18104); Heiratsurkunde ders. und Berta Karoline Laura Kottzieper vom 08.02.1950, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Entschädigungsakten (Sig.: BR 2182-12975); Sterbeurkunde Paul Kircheis vom 12.11.1982, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Entschädigungsakten (Sig.: BR 2182-12975); Kircheis, Paul: Fragebogen für Redakteure vom Parteivorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 17.11.1946, in: AdsD. Bestand Sammlung Personalia (Sig.: 6/SAMP005217); Koch, Wolfgang: Journalist, Beigeordneter, Politiker. Paul Kircheis wird morgen 85 Jahre, in: Solinger Tageblatt vom 23.7.1981 sowie o.V.: Paul Kircheis (86) ist gestorben, in: Solinger Tageblatt vom 12.11.1982.
3 Vgl. Anklageschrift des Generalstaatsanwalts vom 30.01.1936; Urteil Oberlandesgericht Hamm 30.04.1936; Personalbogen Paul Kircheis vom 06.02.1940; Teilbescheid des Regierungspräsidenten in der Entschädigungssache Paul Kircheis vom 21.03.1956, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Entschädigungsakten (Sig.: BR 2182-12975); Kircheis: Fragebogen der britischen Militärregierung vom 09.08.1946 sowie ders.: Fragebogen für Redakteure vom Parteivorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 17.11.1946.
4 Urteil Oberlandesgericht Hamm 30.04.1936.
5 Vgl. ebd. sowie Anklageschrift des Generalstaatsanwalts vom 30.01.1936.
6 Urteil Oberlandesgericht Hamm 30.04.1936.
7 Vgl. ebd.; Brief Generalstaatsanwalt an den Herrn Reichsminister der Justiz vom 09.10.1936; Brief Generalstaatsanwalt an die Geheime Staatspolizei. Staatspolizeistelle Düsseldorf vom 03.01.1940, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Gestapoakten (Sig.: RW 0058-61984); Personalbogen Paul Kircheis vom 06.02.1940; Beschluss des Kreissonderhilfsausschusses bzgl. der Anerkennung Paul Kircheis als Verfolgter des Nazi-Regimes vom 12.10.1949, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Entschädigungsakten (Sig.: BR 2182-12975); Kircheis: Fragebogen der britischen Militärregierung vom 09.08.1946 sowie ders.: Fragebogen für Redakteure vom Parteivorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 17.11.1946.
8 Vgl. Brief Generalstaatsanwalt an den Herrn Reichsminister der Justiz vom 09.10.1936; Brief Generalstaatsanwalt an den Reichsminister der Justiz vom 19.12.1936; Brief Generalstaatsanwalt an den Reichsminister der Justiz vom 24.02.1940, in: Bundesarchiv. Akten des Oberreichsanwalts beim Volksgerichtshof (Sig.: R 3017/35985); Brief Generalstaatsanwalt an die Geheime Staatspolizei. Staatspolizeistelle Düsseldorf vom 03.01.1940; Brief Geheime Staatspolizei. Außendienststelle Wuppertal an die Geheime Staatspolizei. Staatspolizeistelle Düsseldorf vom 06.02.1940; Brief Staatspolizei Düsseldorf an den Generalstaatsanwalt vom 15.02.1940, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Gestapoakten (Sig.: RW 0058-61984); Brief Generalstaatsanwalt an Paul Kircheis vom 12.03.1940, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Gestapoakten (Sig.: RW 0058-61984); Kircheis: Fragebogen der britischen Militärregierung vom 09.08.1946; ders.: Antrag auf Beschädigtenrente vom 12.01.1950, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Entschädigungsakten (Sig.: BR 2182-12975); Teilbescheid des Regierungspräsidenten in der Entschädigungssache Paul Kircheis vom 21.03.1956 sowie Koch: Journalist, Beigeordneter, Politiker.
9 Vgl. Sterbeurkunde Paul Kircheis vom 12.11.1982; Kircheis: Fragebogen der britischen Militärregierung vom 09.08.1946; ders.: Fragebogen für Redakteure vom Parteivorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 17.11.1946; Koch: Journalist, Beigeordneter, Politiker sowie o.V.: Paul Kircheis (86) ist gestorben.

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